Dichter und Denker — Ezé Wendtoin

Musiker Ezékiel Wendtoin ist allen als Ezé bekannt. Heimat denkt er im Plural – und besingt sie mehrsprachig. Nach Deutschland kam er, weil er sich in die Sprache verliebte. Jetzt nutzt er sie, um zu rebellieren.
27. November 2023
8 Minuten Lesezeit
Text: Charlotte Herrmann — Foto: Max Gödecke

Was bedeutet Heimat für dich? Während die Gretchen-Frage noch im Raum steht, zeigt sich die helle Mittagssonne im Wintergarten auf der Antonstraße 1 in Dresden. Es ist eigentlich viel zu warm für September. „Für mich heißt Heimat auch, den Schmerz wahrzunehmen und ihm etwas entgegenzuhalten. Sieben Jahre Deutschland machen was mit dir.“

Entspannt sitzt Ezékiel Wendtoin alias Ezé im Erich-Kästner-Haus für Literatur in Dresden, vor ihm ein Kaffee, schwarz, daneben eine Kanne Hafermilch. Die ehemalige Villa von Kästners Onkel, in der Erich als Kind ein und aus ging, ist heute ein Museum und widmet sich Leben und Werk des Dresdner Schriftstellers. Heute, fast ein Jahrhundert später, gehört das Erich-Kästner-Museum zu Wendtoins Lieblingsorten in Sachsens Hauptstadt.

Wendtoin erzählt von seiner Leidenschaft für Musik und davon, wie er nach Deutschland gekommen ist. „Zuerst war da die Begegnung mit der deutschen Sprache. Es hat einfach gefunkt. Danach wollte ich unbedingt Deutsch lernen.“ 1991 wird Wendtoin als Sohn einer Schmiedefamilie in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso in Westafrika, geboren. Er wächst unter musikalischem Einfluss auf, sein Vater ist Pastor in einer evangelischen Gemeinde. Bei Feierlichkeiten in der Kirche wird gemeinsam musiziert.

„Musik ist immer Teil von meinem Leben gewesen. Schon als Kind war ich eine ‚Rampensau‘ in meinem Viertel und habe für jeden Musik gespielt. Das hat mich unglaublich geprägt. So passt mein Background als Trommler, Schmied, Musiker gut ins Klischee der Wahrnehmung ‚des Afrikaners‘ in Deutschland, ich möchte allerdings betonen, dass ich nur für mich selbst und nicht für alle Menschen aus Afrika spreche“, macht der 32-Jährige klar. 

Ezé Wendtoins musikalische Karriere startet früh. Während der Schulzeit spielt er im Schulorchester, glänzt bei nationalen Wettbewerben. In der 11. Klasse lernt er Deutsch als Fremdsprache, Begeisterung und Neugierde sind von Anfang an da. „Für mich ist Sprache eine Tür in eine neue Welt“, sagt Wendtoin. Der passende Schlüssel: Musik. Wendtoin lernt mit Peter Maffay und den Prinzen; Wendungen wie „Du hast mich im Stich gelassen“ bringt ihm Bushido bei. Neben Französisch und seiner Muttersprache Mòoré schreibt er fortan seine Texte auch auf Deutsch. Akribisch seziert er die Sprache und setzt sie neu zusammen, sodass sich ganz neue Bedeutungsebenen erschließen. Was seine Songs ausmacht: eine Perspektive, wie sie nur Nicht-Muttersprachler ermöglichen können. „Durch die Liebe zur Sprache entstehen manchmal Texte, die ich mir im Nachhinein gar nicht erklären kann.“

Faible für deutsche Sprache

Eigene Konzerte in Deutschland sind damals allerdings noch ein weit entfernter Traum. Wendtoin studiert stattdessen Germanistik in Ouagadougou, wird Teil der Theatergruppe, begleitet andere Musizierende am Schlagzeug – „da kann ich am meisten Gefühle wie Wut, Freude oder Frustration rauslassen“ – und geht das erste Mal mit auf Tour. Dann verstirbt sein Vater. „Das hat mich krass geprägt, weil ich auf einmal Verantwortung in der Familie übernehmen musste“, erzählt der Musiker. 2016, kurz bevor er nach Dresden kommt, bringt er seine erste Platte raus. Nicht offiziell, self-made, ein erster Versuch. 

Jahre später wird Ezé Wendtoin in einer deutschen Zeitung als „Goethe von Ouagadougou“ bezeichnet. Eine Zuschreibung, mit der er etwas fremdelt und deshalb parodiert. „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!“, klagt Goethes Faust. Und Wendtoin erwidert ironisch: „Da stehe ich nun, ich armer Schwarzer und bin dunkler als je zuvor. Da stehe ich nun, ich reicher Schwarzer und bin bunter als je zuvor.“ Und obwohl der Vergleich hinkt, weil Ezé Ezé ist und nicht die verwandelte Version eines Anderen, so ist es doch die Leidenschaft für die deutsche Sprache, die die beiden verbindet. „Diese Sprache habe ich mir ausgesucht. Ich finde sie einfach toll“, erklärt Ezé, „aber ich kann auch nachvollziehen, wenn andere Menschen meinen Bezug zu diesem Land nicht verstehen. Einem Land, in dem Schwarze Menschen der Polizei nicht vertrauen können.“ 

Kurz nach Abschluss seines Studiums setzt Ezé Wendtoin das erste Mal seinen Fuß in eine deutsche Stadt. Im Rahmen einer europäisch-afrikanischen Zusammenarbeit spielt er ein Konzert in Dresden. „Und für mich war klar: Ich komme hierher.“ Nach etlichen Besuchen, bürokratischen Hürden und Bewerbungsprozessen wird er für einen Master in Germanistik an der Technischen Universität angenommen. 2016 zieht er in Sachsens Hauptstadt.

Zu diesem Zeitpunkt feiert die rechtsextreme Bewegung Pegida bereits ihr zweijähriges Bestehen. 2015 versammeln sich etwa 25 000 Menschen zum abendlichen „Spaziergang“ in Dresdens Altstadt. „Ich hatte von all dem vorher nichts gewusst. Im Ausland ist das Bild von Deutschland eher geprägt von guter Technik, Oktoberfest und Kartoffelsalat. Mir war schnell klar: durchhalten, sich nicht runterziehen lassen.“ 

Im „Land der Dichter und Denker“ findet Ezé Wendtoin sein zweites Zuhause. Hier, zwischen Bertolt Brecht und NSU, spürt er nach, was Deutsch-Sein bedeuten kann. In seinem Song „Grammatische Deutschheit“ fühlt er sprachlichen und kulturellen Normen auf den Zahn. Mit Zeilen wie „Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sei“ und „Bin ich der Einzigste hier, wo kein Deutsch kann?“ gelingt ihm ein humorvoller Zugang zu dem, was als „typisch deutsch“ verstanden werden kann. 

Heimatliebe und Rassismus

Währenddessen erklingen vor Dresdens Semperoper die Parolen der völkisch-nationalen Demonstrationen. „Sachsen bleibt deutsch“, heißt es da. Initiator und „Gesicht“ von Pegida, Lutz Bachmann, wird wegen Volksverhetzung und Hitler-Pose mehrfach verurteilt. Walter Lübke wird von einem Neonazi erschossen, ein rechtsextremer Anschlag auf eine Synagoge in Halle (Saale) scheitert, zwei Menschen sterben. Im ganzen Land mehren sich Attacken auf Unterkünfte von Geflüchteten. Deutschland, ein Albtraum. 

„Vor sechs Jahren war ich noch naiv, hätte mich bestimmt entschuldigt, wenn mir jemand auf den Fuß getreten wäre. Ich habe geglaubt, ich kann mit unerschütterlicher Freundlichkeit etwas verändern. Von wegen ‚Wir sind ja alle nur Menschen‘“, erklärt Wendtoin. „Ich denke aber, dass gewisse Dinge konsequent angegangen werden müssen. Es ist immer wieder anstrengend, Rassismus zu erleben, egal ob subtil oder offen, aggressiv ausgesprochen. Nach solchen Erfahrungen wirst du klarer in deiner Position.“ Für Ezé Wendtoin wird Musik zum Mittel der Verarbeitung. Immer wieder singt er gegen den „braunen Scheiß“ an.

Er macht sich aber auch nichts vor: „Klar kann ich mit Musik andere sensibilisieren. Ich will auch nicht übertreiben und sagen, dass Musik die größten Wunder vollbringen kann. Aber es lässt sich viel erreichen.“ Das Lied „Dresden Daheeme“ ist eine Liebeserklärung an die Stadt, an die neue alte Heimat, allem zum Trotz: „Mein Zuhause ist dort, wo mein Herz ist“, singt Wendtoin. „Zwar gibt es hier auch viele Anfeindungen, aber ich fürchte mich nicht.“

Seine Rassismuserfahrungen im Alltag, in der Tram, bei der Wohnungssuche oder auf der Straße, fließen in seine Texte ein. „Auf meinem Pass ist zwar kein goldener Adler. Das heißt aber nicht, ich bin hier nur ein Dealer.“ Und: „Auf böse Blicke können wir uns verlassen.“ Was es bedeutet, als Schwarzer Mensch in Deutschland zu leben und dabei stolzer Teil der postmigrantischen Gesellschaft zu sein, bringt Wendtoin in seinen Songs auf den Punkt. 

Wenn sich Pegida und AfD herausnehmen, darüber zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht, hält Ezé Wendtoin dagegen: „Ich schäme mich nicht dafür, woher ich komme. Ich bin hier, weil ich hier sein darf. Es ist Platz für mich und ich bin Teil dieser Gesellschaft.“ Dem Musiker ist es wichtig, sich nicht von außen definieren zu lassen: „Meine Migration ist keine Straftat. Horst Seehofer hat gesagt: ‚Die Migration ist die Mutter aller Probleme.‘ Nein, das ist sie nicht. Sie wird zum Sündenbock gemacht – dort, wo die Politik scheitert. Wer kehrt, pflegt, singt, lehrt, wenn migrantische Menschen mit ihrer Arbeit hierzulande pausieren? Die Migration ist eine Stärke für Deutschland. Ich verstecke nicht, wie ich bin, und spreche eher von Migrationsvordergrund statt von einem Hintergrund.“ 

Beats und tiefsinniger Inhalt

Den Begriff „Migrationsvordergrund“ zu verwenden, den die Afrikawissenschaftlerin und Sängerin Melane Nkounkolo geprägt hat, bedeutet für Wendtoin, sich die Deutungshoheit über sich selbst als Schwarzen Menschen in Deutschland zurückzuholen. Dass es in einer Zeit, in der Rassismus wieder salonfähig und die AfD bei einer Landtagswahl zweitstärkste Kraft wird, aktiven Widerstand braucht, macht er in seinen Songs deutlich.

So lieferte er mit seiner Neuinterpretation des Liedes „Sage Nein“ von Konstantin Wecker eine klare Botschaft gegen jegliche Art der Diskriminierung. Ihm begegnete allerdings nicht nur Zuspruch, gerade online waren die negativen Reaktionen teils heftig. „Es ist feige, sich hinter seinem Bildschirm zu verstecken und Hass zu verbreiten. Aber das wird uns nicht abhalten, weiterzumachen. Wir werden uns weiter wehren, dagegen positionieren. Solange ich Musik mache, werde ich darüber singen.“

In einer Mischung aus dynamischen Beats, inspiriert von den vielfältigen Musikrichtungen des afrikanischen Kontinents, wie Trap-Musik oder Coupé Décalé, und tiefsinnigen Texten entsteht mit seinem neuen Album ein ganz eigenes Genre. Germ-Afro-Trap, so nennt es Ezé Wendtoin selbst. „Meine Musik ist ein Wanderung. Ich setze mir keine Grenzen. Wenn ich merke, dass ich in Schubladen gesteckt werde, rebelliere ich.“ 

Wenn der Alltag in Deutschland Ezé Wendtoin zu Kopf steigt, bleibt ihm immer noch Burkina Faso als Rückzugsort. Durchschnittlich zweimal im Jahr fliegt er in seine „andere Heimat“, die knapp 4 500 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. „Es ist mir unglaublich wichtig, weiterhin eine Brücke nach Burkina Faso schlagen zu können. Ich tanke so neue Kräfte, mache Musik mit Leuten von früher und erweitere auch mein Zuhause. Für mich ist es ein großes Glück, noch dorthin zu dürfen, solange es die politische Lage zulässt.“ 

Die Verbundenheit zu beiden Ländern spiegelt sich zudem in seinem Engagement. 2014 gründet Ezé Wendtoin den Verein APECA in Burkina Faso, fünf Jahre startet er mit „TAM“ in Dresden. Das Ziel: eine innovative Schule mit künstlerischem Schwerpunkt in Burkina Faso. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit einem Team aus Gleichgesinnten entsteht so schließlich ein Kunst-, Umwelt- und Bildungszentrum in Nahartenga, einem Dorf, das gut 30 Kilometer von Ouagadougou entfernt liegt. 24 Jugendliche gehen im „Centre Warc-en-Ciel“ zur Schule. Auf dem Stundenplan stehen neben Allgemeinbildung auch Musik, Informatik und Deutsch. In Workshops und bei der Pflege des schuleigenen Biogartens setzen sie sich mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander. Und ihnen wird eine Näh-Ausbildung finanziert.

Fortwährendes Reflektieren

Ezé Wendtoin will Kinder und Jugendliche vor allem durch Bildung, Kunst und ökologische Projekte empowern, fasst er zusammen. „Dort, wo Kunst einen Raum bekommt, entsteht ein gesellschaftlicher Mehrwert. Und das trägt am Ende ganz konkret zur Selbstentfaltung bei Kindern, Jugendlichen und Frauen bei.“ Neben dem Schulprojekt wurde auf seine Initiative in der Hauptstadt Ouagadougou ein neues kulturelles Zentrum eröffnet, in dem regelmäßig Konzerte und Kulturveranstaltungen stattfinden. 

Besonders an Ezé Wendtoins Projekten ist vor allem ihr machtkritischer Zugang. Was eine von Deutschland aus betriebene Entwicklungshilfe bedeutet, welche verbliebenen kolonialen Strukturen damit weitergetragen und übernommen werden, stellen die Vereine, an denen er selbst beteiligt ist, in Frage und unterziehen sich damit einer kritischen Selbstreflexion. Das Resultat: Klassische Muster einer Entwicklungsarbeit im Sinne von White Saviorism können nicht der Ansatz einer gemeinschaftlichen Zusammenarbeit sein. Stattdessen versucht das Team, einen sensiblen Austausch auf Augenhöhe zu praktizieren. Konkrete Vorgaben und Ideen sollen vor Ort in Burkina Faso entwickelt und umgesetzt werden. Lediglich finanzielle und organisatorische Hilfe kommt aus Dresden.

Dass eine kritische Selbstreflexion aber nie ganz abgeschlossen ist, weiß Ezé Wendtoin: „Wir machen bestimmt nicht alles richtig. Aber zumindest ist der Wille da, sich weiter zu verbessern, sensibler zu werden, Machtstrukturen und Machtmechanismen wahrzunehmen und den kolonialen Blick zu schärfen. Das ist nötig, damit das alles nicht nach alten Mustern abläuft und ein undifferenziertes Bild Afrikas weitergegeben wird.“ Ebenso wenig wie sich Wendtoin in seiner Musik Grenzen setzt, ist auch sein Engagement grenzenlos. Nicht den Mut zu verlieren in einer Zeit, in der Unruhen, Krisen und Kriege den Zeitgeist bestimmen, ist wohl eine seiner Stärken. Was ihm Hoffnung gibt? „Dass viele Minoritäten das Wort ergreifen und nicht darauf warten, dass ihnen das Wort gegeben wird.“ 

Für den 32-Jährigen muss es weitergehen – und Ezé Wendtoin fordert Antworten: „Vieles geht zu langsam. Rechtsextreme Strukturen in Deutschland werden nicht schnell genug aufgearbeitet, Racial Profiling ist immer noch Teil des Alltags und in Schulbüchern werden immer noch Unwahrheiten vermittelt. Braune Gesinnung erhält immer mehr Raum. Das ist eine Schande.“ Um es mit Erich Kästner auszudrücken: „Resignation ist kein Gesichtspunkt.“

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