Text: Tom Waurig — Fotos: Benjamin Jenak
Schon am Tag danach fand die Bundesregierung eine äußerst präzise Formulierung für das, was in Halle im Herbst 2019 geschehen war. Die Tat sei ein „rechtsextremistischer Terroranschlag“ eines Einzeltäters, erklärte Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) im Beisein von Generalbundesanwalt Peter Frank.
Der Schütze habe aus antisemitischen und rechtsextremistischen Gründen gehandelt, fuhr Lambrecht fort. Stephan B. sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Dem 27-Jährigen wird zweifacher Mord und versuchter Mord in neun Fällen vorgeworfen. Der Attentäter hatte vor einer Synagoge in Halle eine Frau und wenig später in einem nahe gelegenen Imbiss einen Mann erschossen. Zuvor hatte er vergeblich versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. Mehr als 50 Menschen hatten sich zu dem Zeitpunkt dort aufgehalten und feierten das wichtigste jüdische Fest Jom Kippur.
Die Gläubigen verschanzten sich im Innern der Synagoge. Und das, was derweil draußen vor den dicken Backsteinmauern geschah, sahen einige auf dem Monitor der Überwachungskamera mit an. Solange der Attentäter nicht gefasst war, mussten sie in der Synagoge bleiben. Sie beteten –und waren dankbar, am Leben geblieben zu sein.
Seine Tat hatte Stephan B. am Tag nach seiner Festnahme gestanden und auch ein rechtsextremistisches, antisemitisches Motiv eingeräumt. Nach Erkenntnissen des BKA soll er die verwendeten Schusswaffen und Sprengsätze eigenhändig in der Gartenlaube seines Vaters angefertigt haben, teilweise unter Nutzung eines 3D-Druckers. Die meisten Bauteile soll B. über Onlineshops erworben haben. Im Auto des Attentäters fand die Polizei außerdem vier Kilogramm Sprengstoff. Seine Taten hatte der Attentäter zudem live ins Netz übertragen.
Regierung mit deutlicher Sprache
In der Politik ist die Betroffenheit groß – und auch einen Monat später blieb der Duktus derselbe. Nie wieder sollen jüdische Menschen in Deutschland Angst haben müssen, meinte Innenminister Horst Seehofer (CSU), „das ist unsere historische Verantwortung und unsere gemeinsame Pflicht“. Seehofer wolle sich mit seinen Amtskollegen in den Ländern dafür einsetzen, dass in Zukunft jüdische Einrichtungen durch mehr Polizei bewacht werden. Zudem sollen bauliche Maßnahmen weiteren Schutz bieten.
Nach dem Anschlag in Halle einigten sich die Innenminister auf ein Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Zu den Überlegungen gehört auch die Verschärfung des Waffenrechts. Die Zivilgesellschaft reagierte teils skeptisch. Es solle nicht nur in mehr Sicherheit investiert werden, sondern genauso in die Prävention.
Darauf setzt auch sie: Marina Chernivsky. Die Politik habe es über viele Jahre versäumt, effektiv gegen Antisemitismus vorzugehen und sich auch für einen anderen Umgang einzusetzen. Der gegenwärtige Antisemitismus sei immer nur sporadisch behandelt und lange dethematisiert worden. Deshalb gebe es Leerstellen in der Forschung und Bildungsarbeit und wenig Widerspruch. Den Terroranschlag von Halle beschreibt sie deshalb auch als „Symptom eines tiefsitzenden gesellschaftlichen Problems“, als etwas, „das nicht sein darf, aber immer wieder vorkommt“.
Rückblickend seien Anschläge auf jüdische Einrichtungen kein Novum: „Sie fanden und finden statt – nun auch in Deutschland.“ Für jüdische Menschen sei diese „Kontinuität der Bedrohung“, wie Marina Chernivsky es nennt, mehr als bekannt. Und auch für sie selbst stellt der Antisemitismus eine historische Erfahrung dar.
Warum Aufmerksamkeit zunimmt
Chernivsky ist in Lemberg – dem heutigen Lwiw – geboren und in Israel aufgewachsen. Nach dem Militärdienst und einem Studium in Verhaltenswissenschaften kam sie nach Berlin, um Psychologie zu studieren. „Ich lebe gern in und zwischen den Welten, habe eine starke Bindung zu Osteuropa und Israel, bin aber gleichzeitig in Berlin zuhause.“
Auch ihre Arbeit zu Antisemitismus hat mittlerweile schon eine lange Geschichte. Denn schon 2002 begann sie für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, kurz: ZWST, zu arbeiten. Neben Diakonie oder Caritas ist die ZWST eine von insgesamt sechs Wohlfahrtsverbänden – zuständig für die Belange der Religionsgemeinschaft im Land. So entwickelte Chernivsky in den letzten zwei Jahrzehnten neuartige Initiativen und entwarf ungewöhnliche Bildungsprojekte. Und sie tut es bis heute.
Reflexion besonders dort zu schaffen, wo Abwehr überwiegt, das treibe ihre Arbeit an. „Es ist nahezu unmöglich, solch ein geschichtsträchtiges und emotional aufgeladenes Thema wie Antisemitismus ohne den nötigen Tiefgang zu verstehen. Daher braucht es dringend Ansätze, die Räume schaffen für die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, Privilegien oder Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen.“ Diesen Fragen habe sie sich damals schon immer wieder in Fortbildungen gestellt.
Antisemitismusprävention sei ohnehin ein sehr junges Feld, das erst seit 20 Jahren existiere. Chernivsky geht es aber auch darum, dass jüdische Perspektiven in Debatten sichtbarer werden. „Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungenbefinden wir uns im stetigen Wandel. Die Aufmerksamkeit steigt, auch die Bereitschaft mehr zu tun.“
Antisemitismus weiterhin präsent
2015 gründete sie mit einem damals noch recht kleinen Team und in Trägerschaft der ZWST das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment und baute später eine neue Beratungsstelle namens OFEK auf, hebräisch für „Horizont“. Die Mitarbeitenden sind auf die psychosoziale Betreuung nach antisemitischen Vorfällen spezialisiert – und hatten daher nach dem Terroranschlag von Halle Betroffenen Hilfe angeboten. Doch das Ausmaß sei auch für das erfahrene Team ein neues gewesen, erklärt Chernivsky.
„Aus meiner Arbeit als Therapeutin weiß ich, wie wichtig erste Hilfe ist und was es dafür braucht.“ Die Beratungsstelle begleitete Einzelpersonen, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge aufhielten, und bot geschützte Gespräche an. Auch eine Beratungs-Hotline wurde geschaltet. „Viele Menschen in jüdischen Gemeinden deutschlandweit sind verunsichert und haben Gesprächsbedarf.“
Denn auch im Jahr 75 nach Kriegsende ist der Antisemitismus im Land längst nicht überwunden – geschweige denn verschwunden. Derzeit würden sich Einstellungen radikalisieren, so Chernivsky. Friedhofsschändungen oder Angriffe auf Synagogen seien nicht neu, würden sich aber häufen. Dies sei eine Entwicklung, verdeutlicht sie, die nicht ohne den historischen Hintergrund betrachtet werden könne.
Die Auseinandersetzung habe in den zurückliegenden Jahren aber auch eine ganz eigene Richtung eingeschlagen. „Das Thema ist unbequem und emotional aufgeladen. Bis heute wird viel ausgelassen, beschwiegen und auch umgedeutet“, schlussfolgert Chernivsky. Die Folgen der Schoah müssten demzufolge künftig mehr zum Gegenstand pädagogischer Arbeit werden, fordert sie. „Die Aufarbeitung der Vergangenheit prägt unsere Beziehung zur Gegenwart.“
Terroranschläge keine Ausnahme
Den Terroranschlag von Halle sieht sie als „Höhepunkt in einer Reihe anderer Vorfälle“ und hofft dennoch, „dass sich so etwas niemals wiederholt“. Nicht mehr nur in Europa herrscht ein Klima, wo jüdische Menschen beschimpft, attackiert oder sogar gewaltsam zu Tode kommen. Ein Klima, in dem ganze Viertel gemieden werden müssen.
Bewusst ist sich Chernivsky über den Unterschied in der Wahrnehmung: „Minderheiten haben ein höheres Bewusstsein für mögliche Diskriminierung – Menschen erleben Situationen, die anderen nicht bewusst und nicht immer sichtbar sind. Das Wissen um die potentielle Bedrohung ist bei vielen jüdischen Menschen irgendwo im Hintergrund immer vorhanden“, bemerkt sie, „und dafür müssen wir gar nicht weit in die Geschichte zurückgehen. Die letzten Vorfälle zeigen das ganz deutlich.“
Die Liste der begangenen Hassverbrechen ist inzwischen lang. Im März 2019 tötete der Neonazi Brenton Tarrant bei einem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, Neuseeland, 51 Menschen und verletzte weitere 50, einige davon schwer. Bereits ein Jahr zuvor schockierte der Mord an der 85-jährigen Jüdin und Schoah-Überlebenden Mireille Knoll in Paris Europa. Die Ermittlungen ergaben ein antisemitisches Motiv aus.
Und 2017 fuhr James Alex Fields Jr. in Charlottesville mit seinem Fahrzeug in eine Menschenmenge, die gegen den Aufmarsch von Rechtsextremen protestierte. Das FBI wertete den Fall als Inlandsterrorismus. Noch weiter zurück liegt der Anschlag von Anders Breivik auf der Insel Utøya in Norwegen 2011 – und die Massenschießerei im Sikh-Tempel in Oak Creek (USA), bei der sechs Menschen starben.
Partei verschiebt die „rote Linien“
Fernab dieser drastischen Beispiele scheint es politisch heute so zu sein, als wollten vielerorts populistische Parteien der verbalen Radikalisierung im Internet oder auf der Straße hinterhereilen. So zumindest sieht es der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der im Erstarken der AfD eine Ursache dafür sieht, dass sich der Antisemitismus in Deutschland weiter verschärfe. „Die Verantwortung für die verschobenen roten Linien gebe ich vor allem einer Partei.“
Sie breche bewusst Tabus, „indem sie die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert“. Mit derartigen Äußerungen verändere sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland. „Allerdings wäre es zu simpel, ihr an allem die Schuld zu geben“, fügte Schuster hinzu. Eine große Rolle spielten auch die sozialen Netzwerke, „in denen Verschwörungsmythen verbreitet werden“.
Marina Chernivsky teilt diese Einschätzung und nimmt gerade in den sozialen Netzwerken „aggressive antisemitische Tendenzen“ wahr. Besonders die Idee einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ begegne ihr dabei immer wieder.
Auch Halle-Attentäter Stephan B. offenbarte dem Ermittlungsrichter diese „Theorie“, die nicht mehr nur in rechtsextremen Kreisen auf Zustimmung trifft. Es sind Mythen, die schon der Nationalsozialismus propagierte – und die sich bis heute in den Köpfen halten. Marina Chernivsky beschreibt dies als „Kern antisemitischen Denkens und als verhaftete Zuschreibungen ‚jüdischer Macht‘,,Illoyalität‘ und ‚Fremdartigkeit‘“.
Gleichzeitig bemerkt sie, dass es keinen neuen Antisemitismus gibt, sondern einen alten, der stets in einen aktuellen Kontext eingebettet werde.
Sensibilisieren für Ressentiments
„Deutschland hatte immer schon ein Antisemitismusproblem“, bemerkt Chernivsky. So werde auf den Schulhöfen oder in Fußballstadien das Wort „Jude“ auch wieder häufiger als Schimpfwort benutzt. Dass Menschen auf der Straße angegriffen werden, sei jedoch ein neues Phänomen. Sich offen dazu bekennen, wolle aber niemand: „Antisemitische Einstellungen widersprechen dem Selbstbild einer demokratischen Gesellschaft und werden deshalb reflexartig abgewehrt“, so Chernivsky.
Die derzeitige politische Situation hole schwelende Ressentiments an die Oberfläche. „Die Fremdmachung von Minderheiten und ihre Etikettierung war schon immer offensichtlich, aber nicht für alle erkennbar.“ Um diese Situation zu verändern, bilden Chernivsky und ihr Team Fach- und Führungskräfte in Schule und Verwaltung oder sogar bei der Polizei aus, sensibilisieren Politik und Medien.
Außerdem arbeiten sie mit jüdischen Communities. Viele hätten nämlich ganz eigene Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung gemacht. Chernivsky wolle daher Betroffene ermutigen, selbst ihre Stimme zu erheben oder sich politisch einzubringen. „Wir können Einstellungen ja nicht verbieten, nur zur Veränderung anregen und auf dem Weg dahin begleiten.“
Es gehe ihr nicht um sporadische Angebote, sondern um systemische Anstrengungen in Schulen, Universitäten oder Jugendzentren. „Damit einzelne Lehrkräfte angemessen auf antisemitische Vorfälle reagieren können, braucht es Schulungen des Personals, ein Antidiskriminierungskonzept oder spezifische Fortbildungen“, verdeutlicht Chernivsky. „Wenn es uns nicht gelingt, den Antisemitismus in seiner aktuellen Relevanz zu durchdringen, werden wir darauf auch nicht reagieren können.“
Wie die Bundesregierung reagiert
Lange sei Antisemitismus für eine „Einstellung ohne Wirkung“ gehalten worden, sagt Marina Chernivsky, doch längst seien die Ressentiments „ins Handeln übergangen“. Diese negative Entwicklung hat inzwischen auch die Bundesregierung verstanden und entsprechend reagiert. Ein Indiz dafür ist die Einberufung des Sonderbeauftragten für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen 2018.
Mit der Ernennung des Diplomaten Felix Klein wollte das Kabinett ein deutliches Signal senden, dass die Politik diese sich verschärfende Situation durchaus wahr- und allen voran ernst nimmt. Und auch die Länder haben entsprechende Stellen geschaffen. Es dürfe nicht nur bei symbolischen Reaktionen bleiben, mahnt Chernivsky. Sie hofft auf eine enge Zusammenarbeit mit der jüdischen Zivilgesellschaft und ihren Engagierten.
Während Aufmerksamkeit und Solidarität wachsen, ist aber auch der Tonfall ein anderer – online schon lange, aber auch medial und in der Politik. So lässt sich das Gefühl kaum mehr bestreiten, dass sich Menschen in aller Öffentlichkeit und ohne Scheu trauen, Dinge zu sagen, die vor Jahren undenkbar schienen oder zumindest einer sehr radikalen Minderheit zugerechnet werden konnten.
Wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin im April des vergangenen Jahres mitteilte, wurden allein in der Bundeshauptstadt 2018 insgesamt 1083 antisemitische Vorfälle erfasst. Auch die Zahl tätlicher Angriffe habe sich von 18 auf 46 mehr als verdoppelt, teilte die Stelle weiter mit. Unter den tätlichen Angriffen waren sechs Körperverletzungen oder versuchte Körperverletzungen gegen Menschen, die eine Kippa oder ein Davidstern-Tattoo trugen. Die Lage ist also ernst, sehr ernst.
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