Gleiches Recht — Demet Demir und Berkan Kaya

Deutschland ist ein Einwanderungsland – doch im Rechtswesen sind Menschen mit Migrationshintergrund noch immer unterrepräsentiert. Der Postmigrantische Jurist*innenbund drängt deshalb auf mehr Diversität.
9. Juni 2023
5 Minuten Lesezeit
Text: Hannah El-Hitami — Fotos: Max Gödecke

Einer Jurastudentin wird im Bewerbungstraining geraten, ihren Geburtsort Kabul lieber nicht zu erwähnen. Einer anderen empfiehlt die Professorin, sich bescheidenere Notenziele zu setzen: „Vergleichen Sie sich nicht mit deutschen Studierenden, Sie haben ja einen anderen Background und eine andere Muttersprache.“ Eine Anwältin wird im Gerichtssaal wiederholt für die Dolmetscherin gehalten, eine Referendarin für die Verlobte des Angeklagten.

Der Postmigrantische Jurist*innenbund (PMJB) hat diese und andere Erfahrungsberichte auf seiner Instagram-Seite gesammelt. Sie sollen zeigen, wie sehr der juristische Studiums- und Berufsalltag von rassistischen Stereotypen geprägt ist. Als seien nicht-weiße Menschen nur auf oder im Umfeld der Anklagebank zu erwarten und nicht auf der Seite des Gesetzes. Um diesen Stereotypen Realität entgegenzusetzen, haben Rechtsanwältin Demet Demir und der Rechtswissenschaftler Berkan Kaya vor zwei Jahren den Postmigrantischen Jurist*innenbund gegründet. Die Intention dahinter: ein postmigrantisches Recht.

Das in Deutschland geltende Recht in seiner aktuellen Form findet Berkan Kaya „hegemonial“, Demet Demir beschreibt es als „traditionsbelastet“. Ein postmigrantisches Recht aber würde die Realität Deutschlands als Einwanderungsland widerspiegeln. Postmigrantisch meint, dass die deutsche Gesellschaft zwar durch die Erfahrung der Migration geprägt ist, diese aber zum Normalzustand erklärt. Kategorien wie deutsch oder nicht-deutsch spielen dann keine Rolle mehr, stattdessen steht die gleichberechtigte Teilhabe aller im Mittelpunkt. Diese Vorstellung im Rechtswesen kompromisslos durchzusetzen, ist das erklärte Ziel von Demir und Kaya.

Die Idee kam beiden im Dezember 2020, mitten im ersten Pandemie-Winter, erzählt Berkan Kaya. Demet Demir war damals Mentorin und gute Freundin für ihn, sie kannten sich aus dem Studium in Hamburg. Bei ein paar Gläsern Wein saßen sie zusammen, unterhielten sich „und da kam wieder das Thema auf, wie wir uns so im juristischen Umfeld fühlen.“ Nämlich fremd unter mehrheitlich weißen Studierenden und Lehrenden. Die beiden beschlossen selbst aktiv zu werden, um etwas zu ändern an der juristischen Ausbildung und den Zuständen in ihrer Profession. „Und da gibt es doch bestimmt viele andere, denen es ähnlich geht“, dachten sie. Inzwischen zählt die Organisation etwa 70 Mitglieder in ganz Deutschland. 

Mitstudierende mit besseren Noten

Demet Demir, 32, ist Rechtsanwältin, außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Schwerpunkten Strafrecht und Prostituiertenschutzrecht. Berkan Kaya, 27, promoviert in Berlin zur parlamentarischen Repräsentation marginalisierter Gruppen und arbeitet an der Bucerius Law School in Hamburg. Ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden hätte beide zu ihrer Berufswahl motiviert. Doch genauso hätten sie sich von Anfang an fehl am Platz gefühlt. „Rassismus und Klassismus hängen da oft zusammen“, erklärt Berkan Kaya, und dass viele, die Jura studieren, aus privilegierten Elternhäusern kommen.

Sein Studium durch Arbeit oder BAföG selbst finanzieren zu müssen, sich familiär auch mehr kümmern zu müssen als andere, mache es schwer, sich wirklich zugehörig zu fühlen. Hinzu kämen die üblichen Fragen nach der Herkunft, das Loben für gute Deutschkenntnisse oder ausgrenzende Kommentare vom Lehrpersonal. Und in juristischen Übungsfällen kommen Menschen mit Migrationshintergrund außerdem überwiegend als Straftatbegehende vor.

„Recht ist Herrschaft“, verdeutlicht Berkan Kaya. „Daher sollte das Recht in einer Demokratie auch von allen in der Gesellschaft mitgestaltet werden.“ Zahlen darüber, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund in juristischen Berufen tätig sind, gibt es allerdings kaum. Bei rechtsprechenden Personen sind es gerade einmal acht oder neun Prozent – gegenüber einem Anteil von 25 Prozent an der Gesamtbevölkerung. In der Forschung und Lehre an den juristischen Fakultäten der Universitäten ist ihr Anteil ebenfalls verschwindend gering

„Wir wollen den Menschen zeigen: Du musst nicht einem bestimmten Bild entsprechen, um juristisch zu arbeiten“, sagt Berkan Kaya. Um neue Vorbilder und Netzwerke zu schaffen, plant der Postmigrantische Jurist*innenbund daher ein Mentoringprogramm, das den juristischen Nachwuchs mit Berufserfahrenen zusammenbringen soll. Erdacht wurde es für „Menschen, die sich selbst nicht als Teil der weißen Dominanzgesellschaft verstehen“ und die im Studium konkret benachteiligt werden. Das hat Demir am eigenen Leib erfahren müssen: bei Klausuren und mündlichen Prüfungen schnitt sie häufig schlechter ab als weiße Mitstudierende mit vergleichbarem Leistungsniveau. Und sie war überzeugt, dass das nicht an ihrer Leistung lag, konnte es aber nicht beweisen. „Stattdessen habe ich die Rückmeldung bekommen, dass ich überall nur Rassismus sehe und vielleicht einfach schlechter bin.“

Als sie im Examen erstmals anonymisierte Klausuren schrieb, wurde deutlich, dass das nicht der Fall war. Plötzlich wurden ihre Leistungen viel besser bewertet – und ein paar Jahre später bestätigte schließlich eine Studie ihre Erfahrungen. Das Ergebnis: Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund werden bei nicht anonymisierten Prüfungen im Jurastudium schlechter bewertet. Endlich Rückendeckung für Demet Demir: sie hatte sich das Problem also nicht eingebildet. „Für mich war das damals wirklich hart, dass niemand mir glauben wollte.“

Rassismussensible Rechtsberatung

Oft geht es genau darum: dass einem endlich jemand glaubt. Darum will der PMJB nicht nur Menschen in juristischen Berufen unterstützen, sondern auch jene, für die sie arbeiten. „Ich hatte viele Mandanten, die mir mit einer Vehemenz deutlich gemacht haben, dass die Polizei sie rassistisch behandelt hat“, erzählt Demet Demir. „Die kamen rein und haben direkt einen Vortrag gehalten, weil sie erwartet haben, dass ich ihnen nicht zuhöre oder nicht glaube.“

Geantwortet habe sie stattdessen und anders, als es viele erwartet hätten: „Ja, das ist so. Wir haben in Deutschland ein Rassismusproblem in der Polizei.“ Das zu hören, sei für Betroffene eine große Erleichterung, weiß Demet Demir. Menschen mit Migrationshintergrund würden von ihrem anwaltschaftlichen Beistand ohnehin nicht immer ernstgenommen. Gerade bei jungen Männern, die noch neu in Deutschland sind, beobachtet Demet Demir, „dass denen vieles nicht erklärt wird, weil vermutet wird, die verstehen das sowieso nicht.“ 

Eines der großen Projekte des Postmigrantischen Jurist*innenbundes ist die Kontaktstelle für rassismussensible Rechtsberatung. Denn auch wenn rassistische Diskriminierung nicht der Inhalt eines Rechtsstreits ist, es um Miet-, Arbeits- oder Strafrecht geht, wünschen sich viele Schwarze Menschen und People of Colour auch einen Rechtsbeistand of Colour, heißt es auf der Webseite der Organisation, „sei es, weil Betroffene eher das Gefühl haben, die eigene Diskriminierungserfahrung wird ernst genommen und verstanden, weil das Machtgefälle im Beratungsverhältnis minimiert wird oder weil Sprachbarrieren überwunden werden können“.

Intervenieren wollen die Mitglieder des PMJB aber genauso auf rechtswissenschaftlicher Ebene: mit Stellungnahmen zu politischen Debatten, wissenschaftlichen Veranstaltungen und Kampagnen gegen rassistische Gesetzgebung. Sie diskutieren über weiße Deutungshoheit und Objektivität im Recht, plädieren für eine konsequente Ermittlung rassistisch motivierter Straftaten oder informieren über Gesetzesänderungen, die für die anti-rassistische Arbeit wichtig sind. Auch Gerichtsprozesse werden beobachtet und kritisiert, wenn dort etwas schief läuft. „Das Rassismusverständnis an deutschen Gerichten ist nicht immer befriedigend“, sagt Demir. Ein rassistisches Tatmotiv werde etwa viel zu selten dafür genutzt, um die Strafe zu erhöhen – obwohl diese Möglichkeit vor einigen Jahren explizit gesetzlich festgelegt wurde. 

Doch nicht nur im Gerichtssaal nehmen juristisch arbeitende Personen großen Einfluss auf das Leben anderer. Sie wirken als politische Beratende auf Gesetze ein und beeinflussen, wer in einem Streit Recht bekommt. „Gesellschaften werden über das Recht zusammengehalten und verwaltet“, verdeutlicht Demet Demir. Umso wichtiger sei ein rassismuskritischer Blick darauf, wer das Recht auf welche Weise gestaltet und wie es angewendet wird. In Artikel drei des Grundgesetzes heißt es: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Doch Demet Demir ist überzeugt: „Das Gleichheitsversprechen ist in der Realität nicht umgesetzt.“

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.

Weiterlesen

An der Grenze — Osman Oğuz

Wie verändert sich die Hilfe für Geflüchtete, wenn staatliche Fördergelder fehlen und die gesellschaftliche Solidarität schwindet? Zu Besuch bei einer der wenigen Beratungsstellen in Sachsen, die jeden Tag auffängt, was systemisch falsch läuft.

Ruder rumreißen — Veronika Dimke

Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Auf der Flucht nach Europa verlieren hier viele ihr Leben. Das Bündnis f.Lotta hat mit 13 Schiffen die Gewässer vor Lampedusa für zwei Wochen besetzt. Veronika Dimke war mit an Bord. Ein Aktionstagebuch.

Blockschrift — Kolumne Jasmina Kuhnke

George Floyd: ein Name, der mahnt. Aber wer kennt Mouhamed Dramé, Oury Jalloh, Lorenz A. oder Nelson? Auch sie wurden Opfer tödlicher Polizeigewalt. Es geschah mitten unter uns. Doch die allermeisten Menschen lässt das kalt.

Vorverurteilt — Justice Collective

Die Justiz wird als neutrale Instanz beschrieben, doch Macht und Diskriminierung sind genauso vor Gericht ein Problem. Das Justice Collective beobachtet Prozesse und hilft Betroffenen. Über den Fall Cleo G. und ein transfeindliches Strafsystem.

Heilend — Therapie mal anders

Rassismus und geschlechtsspezifische Gewalt sind für Menschen, die in der Psychotherapie arbeiten, oft Leerstellen. Eine Dresdner Hochschulgruppe will vor allem Betroffenen mehr Raum geben. Sie spricht an, was im Studium fehlt.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.