Text: Jasper von Römer — Fotos: Karla Schröder
Dutzende gefälschte Geldscheine schweben behäbig durch die Empfangshalle der Tönnies-Zentrale in Rheda-Wiedenbrück in Ostwestfalen. Mittendrin steigen zwei mit Helium gefüllte silberfarbene Ballons in Haiform auf und stoßen dabei einen lauten, schrillen Ton aus. Parallel montieren zwei maskierte Menschen Banner im obersten Stockwerk an den Balustraden und lassen sie nach unten schnellen. Auf langen weißen Stoffbahnen steht in schwarzen Lettern „Tönnies vergesellschaften“ und „Neokolonialismus stoppen“ geschrieben.
Immer mehr Menschen drängen sich verwundert an den Scheiben der angrenzenden Büros – und sie schauen dabei zu, wie sich ihr steril-moderner Arbeitsort binnen Sekunden in einen Schauplatz des Protests verwandelt.
Stunden zuvor sitzen geschätzt 30 Menschen an Biertischen beim gemeinsamen Abendessen in einem hell erleuchteten Saal zusammen. In der Mitte steht ein großer Topf Linsen Dal zum Selbstbedienen. Decke und Wände sind schwarz angemalt. Sonst finden hier Veranstaltungen statt. Doch laute Musik und eine ausgelassene Stimmung fehlen heute, alle wirken erschöpft und angespannt. „Es wird eine sehr anstrengende Nacht, weil noch vieles unklar ist“, murmelt Kaya. Vertieft blickt er auf seinen Fragebogen: „Was soll geschehen, wenn du vorübergehend festgenommen wirst?“ Kaya kreuzt an: „Leute vom Bündnis sollen mich besuchen kommen“. Weiter unten kann er Medikamente notieren, die er braucht, sollte er im Gefängnis landen.
Milliarden-Subvention
Wie die meisten anderen ist Kaya Teil des Bündnisses „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“, das seit 2019 verschiedene Strömungen der Klimagerechtigkeitsbewegung bündelt und das Ziel ausgibt, die Tierindustrie zugunsten einer pflanzenbasierten Ernährung abzuschaffen. „Wir müssen selbst aktiv werden, um gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben, weil Regierungen und Konzerne von sich aus nicht die notwendigen Maßnahmen ergreifen“, sagt Kaya. Daher hätten sie in der Vergangenheit Protestcamps organisiert, Firmenzentralen und Schlachthöfe blockiert – und Fakten geschaffen: „Wir haben eine Studie beauftragt, die zeigt, dass der deutsche Staat die Tierindustrie jährlich mit 13 Milliarden Euro subventioniert.“
Kaya unterstreicht deshalb den antikapitalistischen Ansatz des Bündnisses. Denn viel zu oft würde das Engagement medial auf den Tierschutz reduziert. „Auch wenn dir Tiere egal sind, muss dieser Industriesektor abgeschafft werden, der 15 Prozent der globalen Emissionen verursacht und 80 Prozent der weltweit landwirtschaftlich genutzten Fläche einnimmt.“
Am Abend vor dem Protest strahlt Kaya Gelassenheit aus. Seine wahre Identität behält er aus Sicherheitsgründen für sich. Schon 2021 schloss er sich dem Bündnis an und weiß, welche Konsequenzen bei illegalem Protest drohen können. Diesmal aber geht es vor allem um den Überraschungsmoment. Es ist der Auftakt einer groß angelegten Protestwelle gegen Tönnies. Das Unternehmen ist die ungeschlagene Nummer eins im deutschen Geschäft mit Schweinen. 2021 hielt der Konzern einen Marktanteil von knapp 31 Prozent. Und allein im Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück werden jeden Tag bis zu 25 000 Schweine geschlachtet.
Kritik gibt es aber längst nicht nur am Leid der Tiere. Spätestens mit dem Ausbruch tausender Corona-Infektionen wurden im Sommer 2020 die verheerenden Arbeitsbedingungen meist osteuropäischer Beschäftigter publik. Das Image des Betriebs, der sich öffentlich gerne als mittelständisches Familienunternehmen inszeniert, habe dadurch Risse bekommen, erklärt Kaya. Genau daran wollen sie mit der Protestwelle anknüpfen.
Unbemerkt mittendrin
Nach einer kurzen Nacht fahren sechs Kleingruppen am nächsten Morgen Richtung Rheda-Wiedenbrück. Das Auto, in dem Kaya sitzt, hält auf einem Parkplatz, keine fünf Minuten zu Fuß vom Werk entfernt. Durch den Nieselregen geht es an einer viel befahrenen Straße entlang zum Firmensitz. Auf dem öffentlich zugänglichen Gelände scheint sich niemand wirklich für die Neuankömmlinge zu interessieren. Mit ihren Hemden, Daunenjacken und Aktenkoffern gehen sie in der Masse unter; sind quasi unsichtbar.
Erster Stopp: das Firmenrestaurant. Lage checken, prüfen, ob die Tarnung hält. In der Auslage liegen Schweinshaxen und Schnitzel. Kaya und die anderen bestellen Getränke und setzen sich an zwei der vielen leeren Tische, während die Belegschaft weitgehend still zu Mittag isst. Niemandem scheint etwas Ungewöhnliches aufzufallen, die Routine bleibt vorerst ungestört. Nach gut einer halben Stunde bekommt Kaya eine Nachricht auf sein Smartphone geschickt. Er nickt den anderen kurz zu: weiter zum Verwaltungsgebäude. Weil der Fahrstuhl nach oben nur mit einer Chipkarte benutzt werden kann, haben Kaya und die anderen Kartons dabei – in der Hoffnung, dass sie jemand mitnimmt, um die Pakete „auszuliefern“.
Als nur ein paar Minuten später Geldscheine durch die Luft wirbeln, Banner hängen und Haie kreischen, komplettiert sich der akribisch vorbereitete Plan. Während dieser Inszenierung schaut sich ein junger Mann mit Sporttasche fassungslos im Empfangsbereich um: „Was geht denn hier ab? Ich hab’ jetzt ein Bewerbungsgespräch. So eine Scheiße!“ Er schüttelt den Kopf und tippt etwas in sein Handy.
Dass die Forderungen des Bündnisses nicht gerade einfach zu vermitteln sind und Begriffe wie Neokolonialismus eine Erklärung brauchen, weiß Kaya. „US-amerikanische Agrarkonzerne bauen seit hunderten Jahren beispielsweise in Brasilien Futtermittel an. Um den nötigen Platz dafür zu schaffen, vertreiben sie immer wieder Indigene und andere Einheimische.“
Tönnies‘ Schlachthöfe
Die gesamte Logik von Futtermittelimporten nach Europa bei gleichzeitigen Fleischexporten zurück in Länder des Globalen Südens bezeichnet Kaya als neokolonial. Ob das geplante EU-Lieferkettengesetz Veränderung bringt, ist weiter offen. Die Idee dahinter ist, sicherzustellen, dass europäische Unternehmen die Einhaltung von Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren Lieferketten gewährleisten.
Probleme sieht Kaya jedoch nicht nur in der globalisierten Produktionsweise. Denn über die Frage, wie möglichst gewinnbringend gewirtschaftet werden kann, würden in Unternehmen nur ein paar wenige Menschen bestimmen, kritisiert er: „In Rheda-Wiedenbrück heißen alle Tönnies mit Nachnamen und haben ein Privatvermögen von zwei Milliarden Euro. Diese Macht muss gebrochen werden, wenn wir gerecht leben wollen.“ Eine Vergesellschaftung sieht das Bündnis als sinnvollen Gegenentwurf. Tönnies und Co. müssten dann gemeinnützig arbeiten. Wie das aussehen kann, solle gemeinsam mit den Beschäftigten entschieden werden.
Darüber hinaus fordert das Netzwerk „Entschädigungen für Umwelt- und Klimaschäden sowie für die zahlreichen Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen“ vonseiten des Konzerns. Kaya erläutert, dass diese Gelder den Arbeitenden in der Futtermittelproduktion im Globalen Süden und in den deutschen Schlachthöfen zugutekommen sollten. Die Summe der Beschäftigten beziffert das Unternehmen dabei mit über 15 000 Angestellten in 48 Standorten weltweit.
Sich mit den Arbeitnehmenden zu verbinden und gewerkschaftlich zu organisieren, ist ein zentrales Anliegen des Bündnisses. Der Arbeitskampf aber werde von Tönnies blockiert. „Viele Menschen werden nur für wenige Monate oder Jahre beschäftigt. Besonders migrantische Arbeitende sind oft in Wohnungen untergebracht, die Tönnies gehören.“ Das führe zu einem extremen Abhängigkeitsverhältnis und mache es schwierig, sich dagegen zu wehren.
Dass es heute überhaupt Festanstellungen gebe und Tönnies-Beschäftigte nicht mehr von Subunternehmen angestellt werden dürfen, sei durch gewerkschaftlichen Druck erkämpft worden, sagt Kaya. Vor drei Jahren konnte so ein Arbeitsschutzkontrollgesetz auf den Weg gebracht werden. Fragen der Redaktion zu den Forderungen, die beim Protest geäußert wurden, ließ der Konzern bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Identitätsfeststellung
Wie Tönnies’ Umgang mit Kritik oder Widerstand aussieht, zeigt sich hingegen bei der Aktion vor Ort: kleinhalten und möglichst schnell abräumen. Beim Tumult in der Empfangshalle ist direkt ein Security zur Stelle. Als er die Banner und Geldscheine sieht, versperrt er direkt den Eingang. Niemand kommt mehr raus. Nach einer kurzen Diskussion führt der Tönnies-Türsteher die unerwünschten Besuchenden schließlich nach draußen.
Kurz darauf fahren mehrere Polizeiautos auf dem Werksgelände vor. Wer seine Personalien angibt, erhält eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. Wer sich weigert, wird auf anderen Wegen einer Identitätsfeststellung unterzogen. Um diese zumindest zu erschweren, hat sich eine Aktivistin Gesicht und Ohren mit schwer löslicher Farbe angemalt. Auf die Frage, ob sie ihren Personalausweis vorzeigen wolle, antwortet sie, dass sie ihn leider vergessen habe.
Es wirkt wie ein Theaterstück, das beide Seiten schon häufig aufgeführt haben. Die Polizistin bohrt weiter: „Und das Gesicht und die Ohren? Ist das ’ne Krankheit?“ Die Aktivistin antwortet knapp: „Ich hab‘ da ein bisschen mit Farbe rumgespielt.“ Und die Beamtin erwidert: „Achso, also muss ich keine Angst wegen Anstecken haben.“ Die Person wird schließlich abgeführt, in ein Polizeiauto gesetzt und zur so genannten Gefangenensammelstelle gebracht. Unklar ist, wie lange sie dort bleiben wird. In Nordrhein-Westfalen ist die Polizei berechtigt, Menschen zwecks Identitätsfeststellung bis zu sieben Tage festzuhalten.
Für Kaya sind die Repressionen, der Stress und die drohenden Strafen weniger wichtig, als seiner Utopie einer Welt ohne Tierindustrie durch Protest näher zu kommen, auch wenn er die persönlichen Konsequenzen nicht kleinreden will: „Ich habe mich entschieden, dieses Risiko zu tragen. Die Bereitschaft, rechtliche Grenzen zu überschreiten, wirkt sich deutlich auf mein individuelles Leben aus.“ So nähmen zum Beispiel die psychische Vorbereitung auf Aktionen und auch strategische Abwägungen viel Kraft in Anspruch. Außerdem habe er sich von der Vorstellung einer beruflichen Karriere längst verabschiedet.
Leid und Ausbeutung
Mit Tönnies hätte sich das Bündnis einen „extrem klagefreudigen“ Konzern ausgesucht, sagt Kaya. Er sei dafür bekannt, auf kritische Stimmen mit Anzeigen und einstweiligen Verfügungen zu reagieren. Das führe zu ambivalenten Gefühlen und inneren Konflikten im Kampf gegen ein milliardenschweres Unternehmen: „Es gibt Momente, wo du dir denkst: Was machen wir hier eigentlich und werde ich die Abschaffung der Tierindustrie noch erleben? Aber wenn ich mir dann wieder bewusst mache, wie viel Leid und Ausbeutung durch dieses System verübt wird, bringt das Entschlossenheit mit sich.“
Bei einer kurzfristig angemeldeten Mahnwache direkt an der Werkseinfahrt versammeln sich schließlich diejenigen, die aus den polizeilichen Maßnahmen kommen. In der Ferne prangt an einer riesigen weißen Halle der dunkelgrüne „Tönnies“-Schriftzug. Mit dem Protest wurde der um zwei Worte ergänzt: „Gemeinsam gegen Tönnies“. Auch im werkseigenen Fußballstadion hat die Aktion seine Spuren hinterlassen. Dort macht ein Banner klar: „Tönnies & Co. schlucken alle 20 Sekunden diese Fläche durch Futtermittelanbau in Südamerika.“
Mittlerweile ist Nachmittag in Rheda-Wiedenbrück. Und viele Angestellte machen ihrem Ärger über die Störung Luft. Aus vorbeifahrenden Autos mit heruntergelassenen Scheiben sind Rufe zu hören: „Geht arbeiten!“, „Ihr Hänger!“, „Tönnies, bester Arbeitgeber!“ Aus einem Auto mit migrantisch gelesenen Insassen gibt es Daumen nach oben. Nach einem langen Tag fühlt sich diese Geste für Kaya nach Bestärkung an: „Es reicht nicht aus, jahrelang für ein paar mehr Quadratzentimeter im Stall oder ein paar Cents mehr Lohn zu kämpfen. Tönnies schlachtet fröhlich weiter und baut Produktionskapazitäten aus. Das motiviert uns, die Tragweite dieses zerstörerischen Konzerns aufzuzeigen und uns dagegenzustellen.“
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