Text: Selina Hellfritsch — Fotos: Stella Weiß
„Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“, schallt es aus den Autolautsprechern. Während vor den Fenstern die Leipziger Altbauten vorbeiziehen, schaut Sina Reisch verschmitzt in den Rückspiegel ihres geliehenen City-Flitzers. So als wolle sie sagen, dass Rio Reisers Zeilen ihren Aktivismus-Motor gut beschreiben. Und tatsächlich mag sich der Einsatz für den Klimaschutz manchmal wie ein Aufstand auf aussichtslosem Posten anfühlen: Auf der einen Seite düstere wissenschaftliche Prognosen und Katastrophen, auf der anderen Seite etliche Engagierte, die sich mit dem Status Quo nicht zufrieden geben.
Es geht raus aus Leipzig, über grüne Landstraßen, durch die Dörfer bis zum nahegelegenen Tagebau Vereinigtes Schleenhain. Es ist ein Ort, der in der Vergangenheit für Sina Reisch eine besondere Bedeutung gewonnen hat. Hier erstreckt sich eine riesige Grube, in der die bis zu 200 Meter langen Kohlebagger nur noch als kleine Silhouetten in der Ferne zu erkennen sind. Reisch zeigt auf den gegenüberliegenden Hang und erzählt, wie sie 2019 bei einer Aktion von Ende Gelände mit 1 000 Menschen den Tagebau blockiert hat.
Danach wurde sie wegen Hausfriedensbruch verklagt, konnte aber Berufung einlegen und Dank einer Spendenaktion die Prozesskosten zahlen. Es ist der Höhepunkt ihres Klimaprotests gewesen: mit Blockaden gegen den fortschreitenden ökologischen Raubbau. Damals habe Sina Reisch die ersten Kontakte in Leipzig geknüpft und gesehen, welche Möglichkeiten und Organisation es aus klimaaktivistischer Sicht in der Stadt gibt.
Wenn sie gefragt wird, warum sie sich intensiv für die Umwelt engagiere und was Ökologie mit ihr persönlich zu tun habe, antwortet sie simpel: „Ich lebe hier. Ich atme die Luft. Ich esse die Lebensmittel und trinke das Wasser. Wie kann ich davon nicht betroffen sein?“
In Aktion kommen
Schon als Teenager habe sie sich politisch organisiert: „Meine Mama würde sagen, ich war schon immer ein gerechtigkeitsbewusster Mensch.“ Sie erzählt von ihrem ersten zivilen Ungehorsam 2015, der nicht direkt mit Klimapolitik zu tun hatte. Sie versteckte geflüchtete Menschen und half ihnen, aus Deutschland weiterzureisen. Später habe sie über Bekannte von der klimapolitischen Gruppe Ende Gelände erfahren, die sich mit Protesten für die Anti-Atom- und Anti-Kohle-Bewegung einsetzt. Hier war sie von 2019 bis 2022 Pressesprecherin.
Eine empowernde und lehrreiche Zeit, erinnert sich Reisch zurück und erwähnt gleichzeitig, wie absurd sie das Narrativ der Bäume-umarmenden, plastikfrei-lebenden und zu-jeder-Demo-gehenden Öko-Aktivistin findet. Es sei fast gefährlich, ein solches Bild im Kopf zu haben, weil es unerreichbar und vor allem individualistisch sei. „Wenn wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft verändern wollen, dann müssen wir uns zusammen organisieren und für unsere Interessen eintreten.“ Genau daran arbeitet sie – nur anders als noch vor ein paar Jahren.
Saß sie früher bei Wind und Wetter auf dem blanken Boden im Tagebau, ist es heute ein Schreibtisch im Konzeptwerk Neue Ökonomie. Inmitten von bunt zusammengewürfelten Tischen, Retro-Lampen und Pflanzen, macht sie es sich auf einer orange-braun gemusterten Couch bequem. Die Räume liegen in einem alten Fabrikgebäude im Leipziger Westen. Von hier aus setzt sich der Verein für eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft ein.
Die Devise ihrer Arbeit beschreibt Sina Reisch so: „Die Bedürfnisse der Menschen müssen oberste Priorität haben, nicht die Profite der Konzerne“. Ihr Aufgabengebiet ist der Energie- und Klimasektor. Mit der Corona-Pandemie richtete Reisch ihr privates Leben neu aus – und so wanderte sie von der Straße ins Büro. Sie spricht weniger von einer aktiven Entscheidung als von einem Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen.
„Mir gibt die politische Arbeit enorm viel Kraft“, reflektiert sie nachdenklich. „Gibt es eine Krisensituation, dann weiß ich, dass ich mich hier mit anderen Leuten organisieren und etwas bewegen kann.“ Die Menschen passten aufeinander auf. Und sie glauben an dieselbe Sache. Angelehnt an die Theorie des Kulturwissenschaftlers Mark Fisher erklärt die Klimaaktivistin: „Für viele Menschen ist es immer noch einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.“ Eine Welt, in der mit den Grundbedürfnissen der Menschen kein Profit gemacht wird, hielten viele für eine unerreichbare Utopie. „Die Kraft zu haben, sich diese Utopie vorzustellen, ist aber wie ein Muskel, den du trainieren kannst.“
Kohle vor dem Aus
An Vorstellungskraft fehle es hingegen oft – auch bei der Energiewende. Beziehungsweise werde das Entwerfen von Visionen hauptsächlich großen Konzernen überlassen, meint Sina Reisch. Im Osten Deutschlands wird der Kohleausstieg bis heute hitzig diskutiert. Spätestens 2038 soll die Ära der Braunkohle enden, so will es das Kohleausstiegsgesetz von 2020. Bis dahin aber bleibt eine zentrale Frage offen: Wie soll diese Transformation genau aussehen?
Der westdeutsche Konzern RWE hat sich zum Beispiel auf einen 2,6 Milliarden schweren Deal mit der Regierung eingelassen und wird deshalb den Ausstieg auf 2030 vorziehen. Mit dem Geld sollen ausgefallene Gewinne abgefedert und der Strukturwandel finanziert werden – die Umstrukturierung der Region also, das Schaffen von neuen Arbeitsplätzen und genauso die Renaturierung der Tagebaulandschaften. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) würde dieses Abkommen gerne auch mit den ostdeutschen Kohlerevieren schließen, allerdings halten diese an 2038 fest.
In Ostdeutschland habe der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturbruch aus den Jahren der Wiedervereinigung eine Art kollektive Trauma hinterlassen, meint Sina Reisch. Menschen, die nun unmittelbar vom Kohleausstieg betroffen sind, wollen vor allem eines: mitreden. Am Ende gehe es um Autonomie und darum, dass der Westen nicht wieder über den Osten bestimmt. Sina Reisch arbeitet deshalb mit anderen politisch Aktiven an der Idee der Vergesellschaftung. Denn es bedeute keine gerechte Lösung, Konzerne über das Schicksal von Mensch und Natur entscheiden zu lassen. „Der Kohleausstieg 2038 ist zu spät“, betont sie.
„Wir müssen den Ausstieg vorziehen und sehen jetzt schon, dass es große ökologische und soziale Probleme birgt, wenn diese Entscheidungen von privatwirtschaftlichen Konzernen getroffen werden.“ Beispielsweise sei in Ostdeutschland das Trinkwasser davon abhängig, was in den Kohlerevieren passiere und wie umweltfreundlich dort gedacht werde. Auch die Frage, wie der Ausstieg gestaltet wird, werde meist den Konzernen überlassen. Daher sei eine Vergesellschaftung der beste Weg, um demokratisch darüber zu entscheiden.
Vergesellschaften
Die ostdeutschen Kohlebetriebe LEAG und MIBRAG wurden inzwischen vom tschechischen Unternehmen EPH aufgekauft, das dem Oligarchen Daniel Křetínský – einem der reichsten Menschen Europas – gehört. Die Strategie dahinter: Kraftwerke aufkaufen, deren Schließung verhindern und so möglichst viele öffentliche Mittel abschöpfen. Während Kohlekonzerne mittlerweile dazu verpflichtet sind, Rücklagen für die Renaturierung zu schaffen, also Gelder für die Wiederherstellung der Landschaften, wird befürchtet, dass sich EPH davor drücken könnte. Würde das passieren, müsste der deutsche Staat diese Kosten tragen.
Der Kohleausstieg in Deutschland werde krass vergoldet und die Gelder in falsche Hände gegeben, kritisiert Sina Reisch. „Daran wird deutlich, dass die Regeln nicht den Menschen dienen, sondern ein kapitalistisches System aufrechterhalten.“
Aber was bedeutet Vergesellschaftung denn genau? Grundsätzlich wird die Eigentumsfrage gestellt: Wem gehört der Kohletagebau? Wem gehört die Energie, die damit produziert wird? Wer entscheidet, wie teuer diese Güter sind? Und wem könnte all das gehören? Genau darüber haben im März Teilnehmende der Konferenz „Let’s Socialzise“ diskutiert, die vom Konzeptwerk Neue Ökonomie veranstaltet wurde – und es wurde nach Lösungen für Mobilität, Ernährung, Landwirtschaft, Care und Energie gesucht. Das Fazit: Es müsse in der Kommunikation deutlich werden, dass Vergesellschaftung nicht gleich sozialistische Planwirtschaft bedeute, sondern der Fokus auf einer demokratischen Verteilung liege. „Unsere Grundüberzeugung ist, dass Eigentum wie Energieträger demokratischer sein müssen“, sagt Reisch.
Nach Artikel 15 Grundgesetz können Produktionsmittel zum Zweck der Vergesellschaftung in Gemeineigentum überführt werden. Das gibt der Klimaaktivistin und ihrem Team Hoffnung: „Mit dieser Basis können neue Gesetze geschrieben und Konzerne wie die EPH enteignet werden. Danach können wir ein soziales, ökologisches und gerechtes System aufbauen.“ Ein System, das nicht am Profit der Konzerne, sondern eben an den Bedürfnissen der Menschen und Umwelt orientiert ist. Das Konzeptwerk schafft genau die Räume, um diese alternativen Konzepte zu diskutieren und auszuprobieren. Gleichzeitig werden Bildungsmaterialien entwickelt, Workshops und Vernetzung organisiert.
Nach dem Protest
In Sachen Klimagerechtigkeit stellt sich Sina Reisch eine Dreiteilung vor: Da ist zum einen die Problemanalyse, bei der ein Missstand auffällt und auf den beispielsweise durch Protest aufmerksam gemacht wird. Zum anderen existiert die Utopie einer Gesellschaft, in der Menschen gerne leben wollen. Und darüber hinaus besteht der Wille nach Transformation, der öffentliches Aufbegehren und Vision miteinander verbindet. „Wir leben schon inmitten der Transformation. Die Frage ist nur, wie wir sie gestalten wollen. Ein Umbruch von fossilem zu grünem Kapitalismus adressiert die Kernprobleme jedenfalls nicht“, appelliert Sina Reisch.
Außerdem müsse Klimagerechtigkeit intersektional und global gedacht werden: Menschen im Globalen Süden sind statistisch gesehen am wenigsten für die Klimakrise verantwortlich, sind aber die ersten, die von den Folgen bedroht, getötet und zur Flucht gezwungen werden. „Wenn Demokratie bedeutet, dass alle Betroffenen mitentscheiden dürfen, dann müssen auch Menschen im Globalen Süden ein Mitspracherecht bekommen.“
Der Idee der Vergesellschaftung könne die Verstaatlichung gegenübergestellt werden. Darin könne Reisch aber keinen guten Weg erkennen. Denn würden zum Beispiel Energiekonzerne verstaatlicht, bedeute das noch lange nicht, dass Betroffene auch mehr Mitspracherecht bekämen. Erst kürzlich hat der Bundestag dem reformierten Klimaschutzgesetz zugestimmt, das bestehende Regeln aufweiche. So müssten in Zukunft die sektorspezifischen Klimaziele nicht mehr eingehalten werden. Klimaschützende sehen darin einen deutlichen Rückschritt.
Würde jedoch der Energiesektor vergesellschaftet, könnten – im Idealfall – die Betroffenen sozial, ökologisch und demokratisch über diesen Wandel mitentscheiden. Viele aber hätten vergessen, verdeutlicht Sina Reisch, welche enorme Kraft Menschen gemeinsam entfalten können, wenn sie sich organisieren. Sie will das anderen wieder in Erinnerung rufen.
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