Vogelperspektive — Ruben Neugebauer

Ruben Neugebauer war an der Gründung von Sea Watch und anderen NGOs beteiligt und gehört seit Jahren schon zu den prägenden Figuren des Aktivismus. Statt sich zu inszenieren, werkelt er lieber an einem internationalen Netzwerk.
18. Juli 2022
12 Minuten Lesezeit
Text: Selmar Schülein — Fotos: Benjamin Jenak

10:21 Uhr, eine Abzweigung am Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs mit Blick auf das Regierungsviertel. Um die Ecke biegt ein dunkelgrauer Opel Astra. Baujahr: deutlich älter als der Rest der Fahrzeuge hier im Stadtbild. Das Auto sieht aus, als hätte es schon einige Reisen vom Typ Durchquerung des Kaukasus hinter sich und abenteuerliche Anekdoten zu erzählen, könnten Fahrzeuge sprechen. Ein letzter Platz ist noch frei – auf der Rückbank neben Ruben Neugebauer, der sich dort, in der Mitte eingequetscht, ganz wohl zu fühlen scheint.

Keine Begrüßungsfloskeln, keine Vorstellungsrunde, kein Blatt vor dem Mund. Das Auto ist gefüllt mit Mitarbeitenden von Sea Watch, der vielleicht bekanntesten der längst kaum noch zu überblickenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Ruben Neugebauer in den letzten Jahren mitgegründet, wirksam vernetzt oder angestoßen hat. 

Einiges von dem, was in der kommenden Dreiviertelstunde zur Sprache kommen wird, ist nicht dazu bestimmt, an die Öffentlichkeit weitergegeben zu werden. Mehrfach muss Neugebauer Anrufe eines prominenten deutschen Politikers entgegennehmen. Es geht um Hinweise auf einen migrationspolitischen Skandal, die aus hochrangigen Behördenkreisen an den Aktivisten herangetragen wurden. Auch die drei übrigen Anwesenden im Auto ziehen es vor, lieber nicht namentlich erwähnt zu werden. Teils haben sie sich bereits daran gewöhnen müssen, Morddrohungen mit der Post zu erhalten. Und das, obwohl ihre Namen und Gesichter nicht in Zeitungen oder Talkshows auftauchen.

Doch der Fahrer des Kombis, der heute für erneute Flugstunden über Brandenburg mit von der Partie ist, seine Beifahrerin, die bereits zahlreiche Beobachtungsflüge zur Seenotrettung über dem Mittelmeer hinter sich hat, ein Mitglied des Vorstands von Sea Watch auf der Rückbank und Ruben Neugebauer reden ungern viel von sich.

Es wird gescherzt, aktuelles Politikgeschehen analysiert und kommentiert, immer wieder telefoniert und vom Smartphone aus eine Kampagne koordiniert, doch vor allem wird deutlich: Diese Menschen sind zum Arbeiten zusammengekommen. Ihr heutiges Ziel: Ein abgelegener Flugplatz etwa 60 Kilometer nordöstlich von Berlin. Durch ein seitliches Tor, für das Ruben Neugebauer einen Schlüssel zückt, geht es auf das Flugplatzgelände. Wenig später zieht er eine Ultraleichtmaschine aus dem begrünten Hangar – und hebt ab. Das erste von vielen Malen an diesem Tag. Kaum mehr Sprit als ein Auto verbraucht der weiße Zweisitzer, der sogar einen Fallschirm im Dach bereithält, an dem das Flugzeug im Notfall zu Boden sinkt.

Keine Idee zu kurios

Dass einer der prominentesten deutschen Seenotretter an diesem Tag hierher kommt, um Übungsflüge zu unternehmen, geht auf eine der zahlreichen kuriosen Ideen zurück, die Neugebauer im Laufe seines Lebens immer wieder kamen. Und auf einen tragischen Vorfall: Als im Mittelmeer wieder einmal Menschen auf der Flucht sterben mussten, weil sie zu lange unbemerkt umhergetrieben waren, fragte sich der Mitgründer von Sea Watch, ob es nicht möglich wäre, aus der Vogelperspektive früher Schlauchboote sichten zu können. Damals erlebte die Crew der Sea Watch 1 einen jener gefährlichen Schönwettertage. Das Wasser auf hoher See ist dann spiegelglatt, was dazu führt, dass überdurchschnittlich viele Flüchtende in Boote steigen und die gefährliche Überfahrt wagen. Die Rettungsschiffe der NGOs gelangen an solchen Tagen häufig sehr schnell an den Rand ihrer Kapazitätsgrenzen.

So auch an diesem Augusttag 2015 – die Sea Watch 1 hatte binnen weniger Stunden über 500 Menschen aufgenommen. Die Versorgung auf dem Schiff eigentlich überlastet. Es ging nicht noch mehr, obwohl davon auszugehen war, dass an einem derart wellenlosen Tag weitere Schlauch- und Holzboote in besorgniserregendem Zustand entdeckt werden würden. Unter den vielen untauglichen Booten befand sich eines, das bereits tagelang manövrierunfähig gewesen war. Die Menschen darin völlig dehydriert, viele mussten sich übergeben. Im Boot hatten sich unvermeidlich Körperflüssigkeiten gesammelt, vermischt mit Sprit.

Zwei Menschen an Bord hatten diese Tage auf dem Mittelmeer nicht überlebt. Sie waren eng an eng zwischen den anderen Flüchtenden gestorben. Neugebauer erinnert sich: „Für uns als Team war diese Situation extrem schwer zu verarbeiten, da wir durchgehend in dem Gebiet unterwegs gewesen waren. Zudem war der Vorfall das erste Mal, dass es bei einer Mission von Sea Watch zum direkten Kontakt mit dem Tod an Europas Grenze gekommen war.“

Nagend sei vor allem das Gefühl gewesen, dass sie dieses Boot theoretisch schon früher hätten finden können. Mindestens drei Tage lang muss es zu diesem Zeitpunkt bereits in dem Gebiet umhergetrieben sein. „In dieser Situation haben wir wie immer einfach funktioniert, wir hatten 500 Personen aufgenommen, die kaum auf das Schiff passten, und uns um die Menschen gekümmert, für die wir in diesem Moment etwas tun konnten.“ Als Neugebauer die Geschehnisse dieser Tage im Nachgang nicht mehr losließen, musste eine Lösung her.

Die Parasailing-Idee – eine fliegende Beobachtungskanzel am Seil hinter dem Schiff – wurde nie umgesetzt. Doch was als skurriler Gedanke begann, verwandelte sich in ein Flugzeug, das die Organisation 2016 für 42 000 Euro erwarb. Mit Ausrüstung und Überführung wurden es 70 000. Ruben Neugebauer, selbst leidenschaftlicher Gleitschirmflieger, machte einen Pilotenschein – und die ersten Missionen in der Luft starteten. Über dem Mittelmeer suchte von da an die „Moonbird“ nach Flüchtenden in Seenot.

Aus der Luft ein Pixel

Mittlerweile hat die Propellermaschine über Brandenburg die Flughöhe erreicht. 500 Meter liegen zwischen Propeller und Boden. Das ist die Höhe, die für die Beobachtungsflüge über dem Mittelmeer üblich ist. Selbst im Cockpit tippt Ruben Neugebauer immer wieder in sein Smartphone. Der Netzwerker ist rund um die Uhr erreichbar. Zugleich jedoch fast immer unterwegs oder auf dem Sprung – zum Beispiel mit dem Reisebus in die Ukraine oder nach Sizilien zu einem internationalen Gerichtsprozess gegen Crewmitglieder verschiedener Seenotrettungsschiffe. Neugebauer ist nicht nur vielbeschäftigt, er ist im Dauereinsatz.

Scheinbar unermüdlich und dennoch stets unaufgeregt. Neugebauer steuert die Maschine über den Werbellinsee im Norden des Landkreises Barnim. Auf dem Wasser ein Boot, das aus dieser Höhe auch mit dem Schaumkamm einer Welle verwechselt werden könnte. Es sieht aus wie ein Pixelfehler, ein weißer Punkt ohne Flächeninhalt, vielleicht auch nur eine Reflexion des Sonnenlichts. Dabei seien die Sichtverhältnisse über dem Mittelmeer selten so gut wie an diesem Tag in Brandenburg und mit den fast kitschig in den Himmel getupften Quellwolken.

Die Zone, die zwischen Malta und Libyen eigentlich überwacht werden müsste, ist jedoch so groß, dass sie selbst von einem Flugzeug im Dauereinsatz nicht vollständig überblickt werden könnte. Darüber hinaus verlange diese Arbeit der Crew einiges ab: „Du musst konstant konzentriert sein. Das Spotten ist so ermüdend, dass es die Augen bereits nach wenigen Minuten höllisch anstrengt. Wer die ganze Zeit auf ein blaues Meer starren muss, wo eigentlich nichts passiert, erkennt schnell gar nichts mehr“, erklärt Neugebauer.

Gleich beim ersten Einsatz, den die „Moonbird“ am Osterwochenende 2017 flog, wurde ein sinkendes Schlauchboot gesichtet. „Wir haben den Menschen beim Ertrinken zuschauen müssen, weil die nächsten Rettungsschiffe über 16 Kilometer entfernt waren. Einem Fischer in der Nähe, der jedoch ohne Funkgerät war, hatte Neugebauer mit Flügelwackeln, einem tiefen Überflug und blinkenden Landescheinwerfern versucht, verständlich zu machen, dass sich drei Kilometer weiter ein Seenotfall zutrug. „Bis wir es geschafft hatten, dass Rettungskräfte an dem Schlauchboot ankamen, waren sieben Menschen ertrunken. Wir hatten alle Schiffe in der Nähe informiert, konnten von da an aber nur noch über dem sinkenden Schlauchboot kreisen. Wir mussten dabei zusehen, wie es auseinanderbrach und wie immer mehr Leute ins Wasser rutschten, das um Ostern herum noch gefährlich kalt ist.“ Selbst die Menschen, die gut schwimmen können, bekommen unter diesen Umständen häufig Kälteschocks.

Vielgehörte Schweigeminute

Ruben Neugebauer weiß, wie tödlich derart geschwächt schon wenige Minuten im Wasser sein können: „Ich habe damals aus dem Flugzeug heraus beobachtet, wie eine Person, die schwimmen konnte, noch lange versuchte, eine zweite Person über Wasser zu halten. Die hat sich jedoch irgendwann nicht mehr bewegt.“ Ohne die „Moonbird“ wäre jede Hilfe zu spät gekommen. Höchstwahrscheinlich wären diese Menschen ungesehen und unregistriert ertrunken – etwa 100 Leute. Ruben Neugebauer schätzt vorsichtig, dass im ersten Jahr der Beobachtungsflüge mindestens 1 000 Menschen ertrunken wären, hätte die Crew im Flieger sie nicht gesichtet. Es war auch die Zeit, in der die italienische Küstenwache und die europäischen Militärs nicht mehr in dem Maße vor Ort waren, wie in den Jahren zuvor.

Zum ersten Mal unmittelbar mit dem Tod konfrontiert war Neugebauer aber nicht auf dem Mittelmeer, sondern beim Gleitschirmfliegen in Chamonix am Mont Blanc. Ein Basejumper im Wingsuit – einer Art Flügelanzug mit Stoffbahnen zwischen den Armen und Beinen – schlug wenige Meter unterhalb von Neugebauer ungebremst auf den Boden auf. Der Aktivist begann, sich mit der Unfallstatistik in diesem Extremsport zu beschäftigen: „Ich war geschockt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Verrückten höher ist, als jene derer, die einfach nur ruhig auf einem Boot im Mittelmeer sitzen. Während sich die einen jedoch ganz freiwillig von Felsvorsprüngen stürzen, müssen die anderen flüchten und kämpfen mit den Gefahren einer Abschottungspolitik.“ Allein im letzten Jahr starben insgesamt 2 048 Menschen beim Versuch, das europäische Festland zu erreichen.

Bereits vor diesem Unglücksfall in den französischen Alpen hatte den Aktivisten die Situation auf dem Mittelmeer derart mitgenommen, dass er gänzlich ohne nautisches Wissen erstmals einen Einsatz auf der tödlichsten Seeroute des Planeten mitinitiierte. „Wir hatten irren Respekt vor dieser Arbeit auf dem Mittelmeer. Wir haben uns nicht anmaßen wollen, das zu können. Die Idee war zunächst nur, vor Ort zu sein und zu dokumentieren, was passiert“, erinnert sich Neugebauer heute an die Geburtsstunden von Sea Watch zurück.

Die Mission war medial sehr präsent, auch deshalb, weil Sea Watch-Mitgründer Harald Höppner als Gast in der Talkshow von Günther Jauch saß und ohne Rücksicht auf das Skript der Sendung eine Schweigeminute für die gestorbenen Flüchtlinge initiierte. Mit dem Kauf eines alten Bootes hatte der Geschäftsmann als Erster die Idee ins Spiel gebracht, einfach selbst auf dem Mittelmeer nach dem Rechten zu sehen. Als er bei Günther Jauch ähnlich selbstbewusst die Bühne geentert hatte, ging ein Hashtag im Anschluss an die Sendung im April 2015 durch die Decke: #schweigejauch verbreitete die Gründungsidee von Sea Watch rasant in den sozialen Netzwerken.

Der fliegende Schreibtisch

Aus sieben Leuten wuchs der Verein damals in kurzer Zeit auf 100 Aktive an. Überwiegend Ehrenamtliche, die ihren Jahresurlaub als Seenotrettende auf einem Schiff verbrachten. Neugebauer sei darum schnell „an den Schreibtisch gewechselt“, wie er es unscheinbar formuliert. Tatsächlich beginnt damit eine ganz andere Geschichte von Engagement – und beschreibt die Methode eines Meta-Aktivisten. Ruben Neugebauer beginnt, seinen Einfluss und seine Netzwerke neu zu denken: als Ressource für andere NGOs, die gute Arbeit machen könnten, aber teils an Finanzen, Kontakten oder Strukturen scheitern. Seine Hauptarbeit läuft seitdem unter dem Label #LeaveNoOneBehind.

Wer Neugebauer lediglich als Gründungs- und Galionsfigur von Sea Watch abgespeichert hat, unterliegt darum einem massiven Missverständnis, was seine tatsächliche Arbeit ausmacht. Nämlich die strategisch ausgeklügelte Vernetzung und Aufstellung von NGOs zu Einsätzen in den Bereichen Migration, Flucht, Umwelt- und Menschenrechte. Das zeigt schon der Blick auf seinen Twitter-Account. Dort promotet er nicht sich selbst als Speaker, sondern nutzt seine Reichweite als Bühne für dringliche zivilgesellschaftliche Interventionen oder ungesehene humanitäre Notlagen. Während andere mit einer derart breitenmedialen Sichtbarkeit und Reichweite am nächsten Podcast-Deal mit Spotify arbeiten, oder auf die Publikation eines lukrativen Sachbuchs schielen, denkt Neugebauer mehr darüber nach, wie er sich selbst an möglichst vielen Einsatzorten überflüssig machen könnte. Dabei wäre es für den einstigen Journalisten und Pressesprecher wohl ein Leichtes, attraktive Medienverträge abzuschließen.

Neugebauer gründet stattdessen lieber einen Verein, der es möglich macht, Finanzmittel möglichst schnell dorthin zu bringen, wo sie gerade am dringendsten gebraucht werden. So erhielt zum Beispiel Sea-Eye eine hohe sechsstellige Summe. Eine Organisation, die damals Textbausteine der Sea Watch-Webseite inklusive der Rechtschreibfehler für die eigene Online-Präsenz kopiert hatte. „Wir haben uns gefreut, als Kopiervorlage gedient zu haben. Wir wären damals gar nicht in der Lage gewesen, noch ein weiteres Schiff zu operieren, hatten aber das Geld. Darum war es toll, Nachahmer zu unterstützen. Bis heute verbindet uns diese witzige Geschichte und eine fruchtbare Zusammenarbeit.“

In der NGO-Welt gehe es dagegen zu viel darum, das Wachstum der eigenen Organisation im Blick zu haben, das eigene Logo zu platzieren, noch mehr Spendengelder einzusammeln, so Neugebauer. „Wir hätten damit aber nicht mehr Schiffe und mehr Rettungen bekommen.“

Schwerelos und schwer

Das Ultraleichtflugzeug über Brandenburg ist inzwischen auf dem Rückweg. Am Hangar warten Trainees, die eingewiesen werden wollen, um bald ihre ersten Missionen über dem Mittelmeer bestreiten zu können. Neugebauer macht kein Geheimnis daraus, dass ihm all das auch einen irren Spaß macht. Vor der Landung gönnt er sich noch einen Parabelflug. Die Schwerelosigkeit dieses Moments gibt zu verstehen: Aktivismus in Einsatzfeldern, wo das Sterben alltäglich ist, muss nicht allein nur Schwere und grimmige Stirnfalten bedeuten. Neugebauer schöpft Kraft aus seiner Arbeit und gibt sie vollends zurück in seine Projekte.

Doch was bedeutet es konkret, dass dieser Mensch, der nicht einfach nur für bestimmte Themen und Projekte einsteht, sich in den letzten Jahren zu einem Meta-Aktivisten entwickelt hat? Wie schafft er international Strukturen, die es zivilgesellschaftlich organisierten Kräften ermöglichen, schneller einsatzfähig zu sein, wenn sie dringend gebraucht werden? Ruben Neugebauer identifiziert zunächst diejenigen Organisationen mit den jeweils besten Erfolgsaussichten für bestimmte humanitäre Notlagen. Im Idealfall solche, die vor Ort verwurzelt und mit den regionalen Umständen vertraut sind.

In der Ukraine etwa verteilt er gerade drei Millionen Euro Spendengelder an Organisation, die über kein starkes Fundraising verfügen, dafür aber die beste Hilfe in der aktuellen Situation leisten können. Er reist selbst in das Land, evaluiert vom Westen bis an die Front im Osten, was gut funktioniert und woran manche Hilfe derzeit scheitert. Er identifiziert Projekte, die vor Ort viel leisten und mit Hilfe noch mehr bewirken könnten. Graswurzelbewegungen, aber auch etablierte Organisationen. Ein Verein etwa, der Verwundete aus gefährdeten Gebieten evakuiert und in sichere Krankenhäuser in der West-Ukraine oder in Nachbarländer bringt.

Teils macht sein wandelndes Netzwerk Projekte von heute auf morgen handlungsfähig. Oft mit ungewöhnlich umfangreicher finanzieller Ausstattung, weil Jan Böhmermann oder Klaas Heufer-Umlauf zu spontanen Spendensprints aufrufen. So geschehen, als Neugebauer binnen weniger Tage die nötigen Mittel auftreiben musste, um ein Flugzeug für die „Kabul Luftbrücke“ zu chartern. Als die Taliban im Spätsommer 2021 in Kabul einmarschieren und die jahrelange Arbeit von Ortskräften, Menschen- und insbesondere Frauenrechtsinitiativen mit ihrer bloßen Anwesenheit zunichtemachen, stehen tausende gefährdete Menschen vor den Toren des Flughafens, um das Land zu verlassen.

Obwohl die Bundeswehr damals noch vor Ort ist, kommt von dieser Seite kaum Hilfe. Eine Bekannte von Ruben Neugebauer – die Journalistin und Afghanistan-Expertin Theresa Breuer – stellt in diesen Tagen eine Liste besonders gefährdeter Menschen zusammen. Minütlich erreichen sie Hilferufe von jenen, die das exakte Feindbild der Taliban repräsentieren. Von Neugebauer kommt die Idee, diese Menschen alle mit einem großen Passagierflugzeug selbst auszufliegen. Wenige Tage später ist das Geld da und die Details geklärt, die richtigen Menschen vernetzt, um möglichst viele außer Landes zu bringen.

Eine engagierte Vielheit

Ruben Neugebauer wird nicht müde, seinen Anteil an solchen Projekten kleinzureden. Der wesentliche Erfolgsfaktor sei das freiwillige Engagement von einer engagierten Vielheit, die sich nach außen hin einfach schwer repräsentieren lasse: „Unsere Arbeit funktioniert nur, weil Menschen ihr Wissen und Können uneigennützig und kompromisslos bündeln, um zu helfen.“ Auf die Seenotrettung bezogen bedeute das, ein Team zu versammeln, das im agilen Zusammenwirken individuell vorhandener Kompetenzen wie Notfallmedizin, Logistik, Mechanik, Nautik, Kommunikation, Jura und Psychotherapie so kein zweites Mal existiere.

Neugebauer wüsste noch viele Anekdoten zu erzählen: von ersten Vereinsgründungen zu Schulzeiten, von politischer Aktionskunst während einer PR-Veranstaltung des Ölkonzerns Shell oder von seiner Zeit als Fotojournalist in Syrien, dem Irak und an den Außengrenzen der EU. Etwa davon, wie er während einer Recherche im türkischen Diyarbakır gemeinsam mit zwei Freunden verhaftet wird und das Erdoğan-Regime ihnen Spionage und Terrorismus vorwirft. Solche Geschichten würden aber an ihm vorbeiberichten.

Leistung denkt Neugebauer nicht individuell, sondern immer als eine Dynamik engagierter Teamstrukturen. Und doch gibt es ein persönliches Detail, das nicht verschwiegen werden sollte: „Die Abwägung, wann ich trotz aller Notlagen einmal frei machen kann, ist psychisch schwer zu ertragen. Das hat mich 2019 dazu bewogen, eine Therapie zu beginnen.“ Ruben Neugebauer liegt das Thema am Herzen, weswegen er offen darüber sprechen und die therapeutische Hilfe enttabuisieren möchte: „Wir alle erleben auf unseren Einsätzen so viel, das eigentlich von politischer Seite her geregelt werden müsste. Es ist nur gesund und nachhaltig, sich dafür eine Unterstützung zu holen.“

In der Seenotrettung ist die vorsorgliche psychologische Betreuung des gesamten Teams mittlerweile ein fester Bestandteil der Arbeit von Sea Watch. Es müsse aber unbedingt auch noch ein Leben neben den Projekten aufrechterhalten werden. Einige Jahre habe es für Ruben Neugebauer fast ausschließlich Arbeit und wenig Schlaf gegeben. Die zwischenmenschlichen Beziehungen seien mehr und mehr auf den Arbeitskontext zusammengeschrumpft. Andere aus der Szene berichten von ähnlichen Erfahrungen. Nach der Evaluierungsreise durch die Ukraine wird es darum für drei Wochen mit dem Gleitschirm in die Berge gehen. Das erste Mal seit Langem möchte Neugebauer dann auch sein Handy ausschalten.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!

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