Text: Anne Brockmann — Fotos: Kaja Grope
„Die besten Ideen entstehen an den entlegensten Orten.“ Davon ist Georg Bollig überzeugt. Er selbst war gerade in der Luft, Tausende Meter über dem Boden, auf dem Weg von Norwegen nach Wien, als er einen Einfall hatte, der heute mehr als 100 000 Menschen in 23 Ländern auf der ganzen Welt inspiriert: die Letzte Hilfe. In den Kursen vermitteln heute Kursleitende mit Erfahrung aus der Palliation uraltes Wissen zum Sterbegeleit, das schleichend verlorenging.
„Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass die Erste Hilfe einfach zu kurz gedacht ist. Dass Leben retten für uns Profis in der Medizin nicht alles sein darf, denn Leben und Tod sind zwei Seiten einer Medaille“, erinnert sich Bollig zurück. Er lebte damals als junger Arzt mit seiner Familie in Norwegen, studierte zeitgleich in Wien und arbeitete von 2005 bis 2008 auf seinen Master in Palliative Care hin. Die Letzte Hilfe wurde schließlich das Thema seiner Masterarbeit.
Die Theorie hat er daraufhin in die Praxis übersetzt. In insgesamt vier Modulen mit einer Länge von jeweils 45 Minuten setzen sich die Kursteilnehmenden mit ihrer eigenen Haltung zum Tod auseinander und erfahren Grundlegendes zum Umgang mit sterbenden Menschen.


Bollig war 14, als er zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert wurde. Als Letztgeborener von vier Kindern wuchs er mit seinen Eltern in einem großen Haus auf. Seine Großtante Elisabeth lebte mit ihnen in einer Einliegerwohnung. Sie stand der Familie sehr nahe. „Wir haben sie alle sehr geliebt und manchmal haben wir sogar darüber gestritten, wer ihr am nächsten ist.“
Als er einen Abend mit ihr alleine verbrachte, erlitt die Großtante einen Schlaganfall und starb daran. Die eigene Ohnmacht, der Bollig damals ausgeliefert war, führte dazu, dass er sich mit der Ersten Hilfe zu beschäftigen begann. „Wenn ich als Teenager unterwegs war, ist mir eine Zeit lang ständig jemand vor die Füße gefallen, der Hilfe brauchte.“
Mit 17 bildete er bereits andere junge Menschen in Erster Hilfe aus. Ein Jahr später wurde er Rettungssanitäter, später Arzt. Gearbeitet hat er schon in unterschiedlichen Bereichen – als Notarzt, Anästhesist, Schmerztherapeut und Palliativmediziner. Heute ist er leitender Oberarzt der Palliativmedizin am Helios Klinikum in Schleswig und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Köln.
Das Schöne am Vergänglichen
Bollig wollte die Letzte-Hilfe-Kurse so konzipieren, dass sie für alle Menschen geeignet sind. Denn er sieht in der Suche nach einem menschlichen Umgang mit dem Tod gar so etwas „wie den Heiligen Gral“, weil es um die Frage gehe, „wo wir alle gleich sind, was uns ausmacht und eint“. Hierzulande hätten die Menschen den Umgang mit dem Tod nahezu komplett verlernt, sagt Bollig. „Sterben ist in Deutschland professionalisiert und institutionalisiert. Ich verurteile das gar nicht, doch es erschwert vielen den individuellen Bezug zu Tod und Sterben.“
Die Kursteilnehmenden bräuchten daher anfangs Zeit, sich dem Thema behutsam zu nähern, um sich im Verlauf immer mehr darauf einlassen zu können. Im ersten Kursmodul geht es zum Beispiel darum, das Sterben als einen festen Teil des Lebens zu begreifen. „Der letzte Atemzug ist vorprogrammiert, sobald ich den ersten tue“, formuliert es Bollig knapp.
In der zweiten Einheit dreht sich dann alles um die Vorsorge. „In frei formulierten Vollmachten schreiben Menschen oft, sie möchten nicht an Schläuche angeschlossen werden. Das ist viel zu allgemein formuliert. Als Arzt mache ich so gut wie nichts ohne Schläuche. Gemeint ist oft ein Beatmungsgerät, eine Sonde zur künstlichen Ernährung oder ein Infusionsschlauch“, führt Bollig aus. Über solche Fallstricke klären die Kursleitenden in den Letzte-Hilfe-Kursen auf und machen die Menschen fit für eine differenzierte Entscheidung.


Das dritte Modul dreht sich um philosophische Fragen. Eine Welt oder eine Zeit ohne Tod – wie wäre das? Früher oder später würden alle Kursteilnehmenden übereinstimmend bei dem landen, was Goethe so treffend formulierte: „Der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, um viel Leben zu haben.“ Oder anders ausgedrückt: In der Vergänglichkeit liegt Schönheit und diese schafft Raum für Neues. Wie Laubbäume, die sich im Herbst ihrer Blätter entledigen, sie welken und sterben lassen, damit sie Energie sparen, um die kargen Wintermonate zu überstehen.
Später heißt es dann: „Hands on“. Der Titel ist Programm, denn es wird praktisch. Was tun bei Atemnot, Durst, Schmerzen, Übelkeit? Letztere wird zum Beispiel oft durch Gerüche ausgelöst, die Sterbende nicht selten besonders intensiv wahrnehmen, weiß Bollig. Es helfe manchmal schon, einfach das Fenster zu öffnen oder sich auf die Suche nach dem Geruch zu machen und diesen zu entfernen. Akupressur, Druck auf bestimmte Punkte des Körpers, könne kleine Wunder bewirken, wenn jemandem schlecht ist. Die Handgriffe seien recht leicht zu erlernen.
Ein Durstgefühl, das viele Sterbende erleben, kann mit einem feuchten Schwamm oder einem Wattebausch gelindert werden, indem Angehörige damit die Lippen befeuchten. Mundpflege sei ohnehin ein Thema für sich. „Warum also nicht mal Ananassaft nehmen oder Bier? Etwas, das die Menschen gern mögen“, sagt Bollig. Die heimische Speisekammer, der Vorratsschrank würden vieles hergeben, das die Not am Lebensende lindern könne. Dabei gilt, dass jemand umso besser unterstützen könne, je näher die Beziehung zur betroffenen Person ist.
Anders umgehen mit dem Tod
Im letzten Teil der Kurse dreht sich alles ums Abschiednehmen. Die Teilnehmenden befassen sich mit den Formalia einer Bestattung, vor allem aber geht es darum, den „Druck und Stress rauszunehmen“, sagt Bollig. Er hat beobachtet, dass Hinterbliebene aus einer Überforderung heraus oft in einen Aktionismus verfallen und dadurch den eigentlichen Abschied verpassen.
„Wenn jemand gestorben ist, die Reise hinter sich hat, muss erstmal gar nichts passieren. Ich kann mich dazusetzen, tief durchatmen und nachspüren, was in der letzten Zeit gewesen ist und wie es einem damit geht.“ Bollig habe sich mit einem Bier an das Sterbebett seines Vaters gesetzt, die Flasche in Ruhe ausgetrunken und dabei geschwiegen – genau so, wie die beiden es vorher oft gemeinsam getan hatten.
Männer würden sich schwerer tun im Umgang mit dem Tod als Frauen, erwähnt Georg Bollig. Das zeige sich auch an den Teilnehmenden der Letzte-Hilfe-Kurse. Dass sich das eines Tages ändert, sporne ihn an, erzählt der Arzt. „Sterbebegleitung ist Care-Arbeit und die darf nicht länger hauptsächlich Frauensache sein.“ Und er findet, auch Kinder sollten bei den Themen Tod und Sterben nicht länger außen vor bleiben. „Dass Kinder sich von Todkranken, die ihnen nahestehen, verabschieden können, ist enorm wichtig für das Verarbeiten dieses Verlusts. Deshalb plädiere ich dafür, die Letzte-Hilfe-Kurse in den Schulalltag zu integrieren. Die Erste Hilfe hat dort ja auch schon ihren Platz“, bemerkt Bollig.


Den Universitäten empfiehlt er, ihre Medizinstudierenden auf Hausbesuche zu Sterbenden zu schicken. Denn selbst im Studium komme die Beschäftigung mit dem Tod viel zu kurz. Wer in der Medizin arbeitet, würde den Tod noch viel zu häufig als Niederlage begreifen. Das zeuge von einem Verständnis, bei dem Leben und Tod strikt separiert seien. Als Botschaft der Kurse will Bollig verstanden wissen, dass alle Menschen Schwerkranke oder Sterbende begleiten können – egal ob Fachkraft oder Laie. Die Unterstützung bis zum Lebensende bezeichnet er als „gelebte Menschlichkeit“. Helfende sollten sich dabei auf ihr Bauchgefühl verlassen.
Die Letzte-Hilfe-Kurse sind für die Teilnehmenden kostenlos oder mit einer geringen Gebühr verbunden, die die Unkosten decken. Geht es nach Bollig, soll das auch unbedingt so bleiben. Er findet: „Bildung gehört allen und sollte deshalb nichts kosten.“ Und er selbst wünscht sich, zu sterben, wenn er „das Leben satt hat“. Am liebsten unter einem Baum, umgeben von lieben Menschen. Im besten Fall sind auch kompetente Letzthelfende dabei, die dafür sorgen, dass er keine Schmerzen und ein kühles Getränk hat.
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