Text: Laura Catoni — Fotos: Sina Opalka
Zwei bis vier Wochen dauert es, bis aus einer dicken Raupe ein zarter Schmetterling wird. In dieser Zeit begibt sich die Raupe in eine Art natürliche Umkleidekabine. Und je nach Art des Schmetterlings bildet sie eine Puppe, indem sie sich ein letztes Mal häutet. Oder sie spinnt sich einen Kokon aus einem körpereigenen Seidenfaden. Egal ob Puppe oder Kokon – beides schützt die Raupe während ihrer Transformation vor Wetter und Fressfeinden.
Um Transformation und Schutz geht es auch dem queerfeministischen Hebammen*kollektiv Cocoon, das sich 2019 in Berlin gegründet hat. „Wir wollen einen Safer Space schaffen“, sagt Toni Böhm, „in dem wir die Menschen, die zu uns kommen, möglichst sensibel begleiten“. Seit 2021 gehört Toni Böhm zum Team. Was der Kokon für die Raupe während ihrer Metamorphose ist, will das Kollektiv für Menschen auf ihrem Weg in die Elternschaft sein. Und so wie die Raupe ihre Schutzhülle selbst baut, setzt auch Cocoon auf Selbstwirksamkeit. Ziel sei es, dass jede schwangere Person selbst fachlich über sich Bescheid weiß, erklärt Toni Böhm.
Das derzeit sechsköpfige Kollektiv unterstützt vor, während der Schwangerschaft und in der Zeit des Wochenbetts. Die Angebote richten sich an Menschen aller Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Doch der Fokus liegt auf Queers, die bis heute häufig massive Diskriminierung erleben, wenn sie eine Familie gründen wollen.
„Das Thema Familiengründung ist von starker Heteronormativität geprägt“, kritisiert Theresa Richarz, Grundsatzreferentin beim Verband Queere Vielfalt (LSVD⁺), der sich unter anderem für die reproduktive Gleichstellung von Queers einsetzt. So adressierten öffentlich zugängliche Informationen zum Thema Schwangerschaft in der Regel nur heterosexuelle Paare. Dasselbe bei Kinderwunschkliniken. Gleichgeschlechtliche Paare müssten Informationen meist aktiv recherchieren und seien dabei auf Empfehlungen von anderen Queers angewiesen.
Noch steiniger kann dieser Weg werden, wenn ein Elternteil trans* ist. Das beginne damit, dass trans* Personen nicht selten der Kinderwunsch abgesprochen werde, erklärt Gabriel Koenig, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesverband Trans*. Das liege an einem stereotypen Denken, das Schwangerschaft mit Weiblichkeit und die Fähigkeit, ein Kind zu zeugen, mit Männlichkeit verknüpfe. „Wenn ein trans* Mann mit funktionierendem Uterus ein Kind kriegen und eine nicht-binäre Person mit Sperma eines zeugen will, irritiert das manche“, sagt Koenig. Hinzu komme, dass von Diskriminierung betroffene Menschen oft „eindimensional“, also nur über ihr Diskriminierungsmerkmal wahrgenommen würden. Ein trans* Mann sei dann in den Köpfen vieler in erster Linie trans* und nicht auch Elternteil.
Queer und schwanger
Eine Untersuchung des Gunda-Werner-Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung ist eine der ersten wissenschaftlichen Studien in Deutschland, sie sich mit der Diskriminierung von Queers im Kontext der Familiengründung befasst hat. Befragt wurden 1500 queere und nicht-queere Personen, die im zwischen 2016 und 2021 schwanger waren oder werden wollten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Queers und insbesondere trans* Personen häufiger Gewalt und Diskriminierung in der klinischen Geburtshilfe erleben und dementsprechend auch mehr Angst vor solchen Erfahrungen haben als cis hetero Menschen.
Betroffene berichten von medizinischem Personal, das Anrede und Pronomen ignorierte und davon ausging, sie seien automatisch cis oder hetero. Eine befragte Person erzählt, sie hätte ihren Kinderwunsch aufgegeben aus Angst vor Erfahrungen wie diesen.
„Die meisten Ärzt*innen und Hebammen* haben bislang viel zu wenige Berührungspunkte mit marginalisierten Gruppen und queere Lebensrealitäten finden in der Ausbildung kaum statt“, kritisiert Toni Böhm von Cocoon, betont aber auch, dass sich immer mehr Menschen aus dem System Geburtshilfe mit dem Thema auseinandersetzen würden. So hat sich nach Cocoon in Hamburg ein ähnliches Kollektiv gegründet. Daneben gebe es noch das Fortbildungskollektiv Queer*sensible Geburtshilfe, das in Deutschland und Österreich arbeitet.


Damit es nicht bei diesen Ausnahmen bleibt, fordert das Gunda-Werner-Institut die Politik auf, sich für eine Fortbildung von medizinischem Personal zu diskriminierungssensiblem Handeln, für eine inklusive Gestaltung von Informationen zum Thema Schwangerschaft und genauso für eine Reform der Finanzierungsregeln für Kinderwunschbehandlungen einzusetzen. Denn bislang bezuschussen Krankenkassen solche nur für verheiratete cis hetero Paare.
All das fordern auch Theresa Richarz vom Verband Queere Vielfalt und Gabriel Koenig vom Bundesverband Trans*. Ändert sich nichts, sind sich beide einig, sind Queers weiter auf Hilfe aus ihren Communities angewiesen und darauf, dass sich einzelne Menschen aus eigener Motivation weiterbilden. So wie Toni Böhm. Vor Cocoon arbeitete die Hebamme*, 31, queer, in einem Geburtshaus. Doch nach ein paar Jahren entstand der Wunsch nach Veränderung. „Ich wollte meine Arbeit zunehmend politisieren und so meine Vision einer queerfeministischen Hebammen*-Arbeit Wirklichkeit werden lassen.“
Elternschaft ist divers
Cocoon war zu der Zeit schon gegründet und freute sich über Verstärkung. Erzählt Toni Böhm anderen von dem Kollektiv, kommt jedes Mal die Kinderfrage. „Ich wundere mich immer darüber, weil die Tatsache, dass eine Hebamme* gute Arbeit macht oder nicht, nichts damit zu tun hat, ob sie selbst Elternteil ist.“ Stattdessen gehe es um Empathie und Sensibilität.
Beides fängt bei Cocoon schon bei der Sprache an. Muttermilch, Mutterkuchen, Gebärmutter: Die Wörter, die die meisten Menschen im Kontext Geburt verwenden, suggerieren: Wer gebärt, ist Frau – und natürlich Mutter. Doch die Realität ist eine andere, sie ist diverser. Es gibt nicht-binäre Personen und trans* Männer, die schwanger sind. Es gibt Kinder mit zwei Müttern in einer lesbischen Partnerschaft, auch Co-Väter und Mehrelternschaften von drei oder mehr Menschen, die sich entschieden haben, gemeinsam ein Kind großzuziehen.
„Anstatt von der Norm auszugehen“, sagt Toni Böhm, „geht es darum, jede Person von Beginn an mit ihren individuellen Lebensbedingungen zu sehen.“ Das heißt vor allem viel nachfragen. Welche Pronomen benutzt du? Und welche Begriffe verwendest du für deinen Körper? Welche Menschen spielen eine wichtige Rolle jetzt und im späteren Leben deines Kindes?


Wenn es nicht anders gewünscht wird, benutzen die Cocoon-Hebammen* bei ihrer Arbeit die lateinischen Begriffe für Gebärmutter und Co. So auch bei einem Workshop Mitte Februar in Berlin-Schöneberg. Im Regenbogenfamilienzentrum schieben Toni Böhm und Kollegin Juliane Munk am frühen Abend Stühle und Beamer zurecht und gehen noch einmal gemeinsam die Folien ihrer Präsentation durch. Auf einem Tisch liegen abgepackte Spritzen, ein Urinbecher, eine Menstruationstasse und ein Katheter. Das Thema des Abends: Eigeninsemination.
Insemination bedeutet die Übertragung des Spermas in den Genitaltrakt der Person mit Uterus – ohne Geschlechtsverkehr. Kinderwunschkliniken erledigen das jeden Tag, allerdings nur für Paare, die Probleme haben, Nachwuchs auf natürliche Weise zu zeugen. Anders bei der Selbstinsemination: Hierbei wird der Samen ohne ärztliche Hilfe in die Vagina eingeführt – zuhause oder dort, wo die involvierten Menschen sich am wohlsten fühlen.
Das Sperma kommt in der Regel von einer Person aus dem Umfeld. Doch wie genau läuft das Ganze ab? Welche Vorbereitungen sind nötig? Und was ist danach zu beachten? Diese Fragen wollen Böhm und Munk beantworten. Mit ihrem Workshop wollen sie eine Versorgungslücke für Queers schließen – und zwar die zwischen Kinderwunsch und Kinderwunschklinik.
Selber machen lassen
Fast 20 Teilnehmende sind ins Regenbogenfamilienzentrum gekommen, viele aus Berlin, zwei sogar aus Dänemark und Frankreich. Die Atmosphäre ist entspannt. Es gibt Kaffee, Tee und Kekse. Kissen und Wimpelkette in Regenbogenfarben schmücken den Raum, an den Wänden hängen Fotos von lachenden Eltern. Juliane Munk sitzt in Socken auf ihrem Sessel, während sie über Östrogen, Progesteron, Zyklustracking und Fertilitätssteigerung referiert. Manche Teilnehmende machen sich Notizen, stellen Fragen, während die beiden Hebammen* erklären, welche Vorbereitungen die Erfolgschancen einer Selbstinsemination erhöhen können.
Dann geht es ans Eingemachte: Toni Böhm greift nach einer der Spritzen auf dem Tisch vor sich, mit der sich der gespendete Samen aus dem Urinbecher aufziehen und in die Vagina der Person einführen lässt, die schwanger werden will. Ein Katheter kann dabei helfen. Als nächstes hält Toni Böhm die Menstruationstasse in die Luft. Sie kann helfen, das Sperma nach der Einführung an Ort und Stelle zu halten und damit eine Befruchtung erleichtern.
„Ihr könnt euch dabei eine schöne Atmosphäre schaffen, mit Kerzen und Musik“, sagt Juliane Munk. Aber das sei kein Muss. Sie kenne auch eine Person, die schwanger wurde nach einer Eigeninsemination auf dem Parkplatz. Ein Lachen geht durch die Runde. Die Erfolgsquote sei ähnlich hoch wie die beim Geschlechtsverkehr. Wichtig sei, dass das Sperma zum Zeitpunkt des Eisprungs eingeführt wird.
Diesen hatte Lisa Haring bei ihren ersten beiden Versuchen knapp verpasst. Haring arbeitet im Regenbogenfamilienzentrum, lebt in einer lesbischen Partnerschaft und erzählt den anderen Teilnehmenden, wie sie mit Eigeninsemination schwanger wurde. Den Samen bekam sie von einem langjährigen Freund ihrer Partnerin. „Ich hatte ihn nur einmal gesehen, als wir zum ersten Mal über das Thema nachdachten“, erzählt Lisa Haring und lacht. Eineinhalb Jahre ließen die drei sich also Zeit, bis sie sich zur Gründung einer Drei-Eltern-Familie entschieden haben. Heute, erzählt Lisa Haring mit einem breiten Grinsen, ist ihr Kind zehn Monate alt.
Mit dieser Erfolgsgeschichte endet der Workshop – und die Hebammen* öffnen den Raum für Austausch. Auf keiner ihrer Folien, nicht einmal zum Schluss, war das Bild eines Säuglings zu sehen. Was nicht heißt, dass es Cocoon nicht auch um die Kinder geht. „Aber ich bin nicht Hebamme* geworden, weil ich Babys süß finde“, sagt Toni Böhm und lacht, „sondern weil ich in einem medizinisch-sozialen Beruf arbeiten wollte, in dem ich Menschen empowern kann.“
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