Text: Melanie Skurt — Fotos: Thomas Pirot
Wer die Gesellschaft verändern will, muss neue Fragen stellen. Dann darf es nicht heißen: Wie viel wird geleistet, wie effektiv gearbeitet? Und was tragen denn Einzelne zum Wohlstand bei? Sondern: Wann hast du zuletzt geholfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen? Wann einfach nur zugehört und Mitgefühl gezeigt? „Es braucht Empathie“, fasst Eva Breisch knapp zusammen. Doch daran mangelt es heutzutage oft. Die Medizinstudentin dagegen engagiert sich schon seit mehreren Jahren für geflüchtete Frauen in Mannheim.
Über die Zeit ist sie mit intimen und schmerzhaften Erfahrungen in Berührung gekommen. „Das hat meinen Blick auf die Welt komplett gewandelt. Und mir ist klar geworden, wofür ich einstehen will und dass ich handeln kann und auch muss.“ Bis in die ersten Semester ihres Studiums hinein sei sie kein besonders politischer Mensch gewesen. Nicht desinteressiert, aber eben auch nicht aktiv. Dann kam die Corona-Pandemie.

„Viele haben diese Zeit bestimmt ähnlich erlebt: Ich hatte auf einmal Zeit und wollte diese sinnvoll nutzen.“ Aus ihrem Mannheimer WG-Zimmer startet Eva Breisch 2020 in ein Ehrenamt. Eine ihrer Mitbewohnerinnen war zu diesem Zeitpunkt im Vorstand der Geflüchteteninitiative „Nice To Meet You“ – und Breisch schloss sich an. Der Verein organisierte Begegnungen und Veranstaltungen zum Thema Partizipation. Aber vor allem ein Projekt erfährt viel Zuspruch und Nachfrage: Müttersprache. „Dahinter steht ein kostenloser Sprachkurs von Frauen aus Mannheim für Frauen, die geflüchtet sind – inklusive Kinderbeaufsichtigung.“
Inzwischen ist die Initiative von Studentinnen zum Verein gewachsen. Zweimal wöchentlich finden Deutschkurse statt, unterstützt von ungefähr 90 Ehrenamtlichen. Wie sehr es dieses Angebot braucht, zeigen die Wartelisten für den Unterricht. „Rund 40 Frauen stehen aktuell auf unserem Zettel“, sagt Breisch, die heute im Vorstand aktiv ist. „Es gibt kaum Sprachkurse mit Kinderbeaufsichtigung. Dabei fehlt geflüchteten Frauen oft genau das. Sie übernehmen zu Hause viele Betreuungsaufgaben und haben daher wenig Zeit und sind weniger flexibel.“
Lücke im System
Was Eva Breisch aus der Praxis berichtet, hat die Bundesstiftung Gleichstellung untersucht: Geflüchtete Frauen in Deutschland verbringen doppelt so viel Zeit mit der Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit wie Männer. Und unter anderem das beeinflusst, ob sie an sogenannten Integrationsmaßnahmen – wie etwa Sprachkursen – teilnehmen. Ein gesetzlicher Anspruch auf solch einen Kurs hängt von verschiedenen Faktoren ab: vom Einreisezeitpunkt und dem Aufenthaltsstatus beispielsweise. Laut der Analyse der Bundesstiftung wünscht sich zudem über die Hälfte der zugewanderten Frauen, dass sich Männer und Frauen gleichermaßen an der Erwerbs- und Sorgearbeit beteiligen.

Eine Kurzanalyse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge macht außerdem deutlich, dass neben häuslichen Betreuungsaufgaben fehlende Kita-Plätze und die Entfernung zu den Integrationskursen zum Hindernis werden. Strukturelle sowie individuell-familiäre Hürden erschweren somit gesellschaftliche Teilhabe. Dabei erleichtern besonders grundlegende Sprachkenntnisse nicht nur den Zugang zur Lohnarbeit, sondern schaffen Partizipation und Zugehörigkeit. Für geflüchtete Frauen kann ein Sprachkurs ein Schritt in die Unabhängigkeit sein, so Breisch. „Auch vom eigenen Partner.“
Mit dem neuen Programm „Integrationskurs mit Kind Plus“ wird nun ein staatliches Angebot gemacht, um diesem Problem zu begegnen – mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds und Geldern des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie Geldern aus dem Innenministerium. Hier können sich Initiativen, Vereine, Einrichtungen um eine Förderung bewerben, um zunächst bis 2026 Sprachkurse mit Kinderbeaufsichtigung umzusetzen. Zur Einordnung: Im staatlichen Vorläuferprogramm wurden zwischen 2022 und 2023 bundesweit 6 800 Kinder parallel zu Sprachkursen beaufsichtigt.
Sprache lernen
In Mannheim findet der Müttersprache-Unterricht montags und mittwochs für jeweils drei Stunden statt. Menschen im Quereinstieg, vereinzelt auch Personen, die im Lehrberuf tätig sind, stemmen das Projekt. Die Lerngruppen bestehen aus maximal 15 Frauen, um Nähe und Qualität zu gewährleisten. „Wir arbeiten mit einem Handbuch, das in Sprachkursen Standard ist. Parallel haben wir Leitfäden entwickelt, um die Stunden gut zu strukturieren.“ Einmal im Semester finden Weiterbildungen von externen Fachkräften zur Unterrichtsgestaltung statt.
In Rahmen der Sprachkurse des Mannheimer Vereins können geflüchtete Frauen über einen Zeitraum von vier Jahren theoretisch das Sprachniveau B1 erreichen, das erforderlich ist, um beispielsweise eine Ausbildung zu beginnen.

Während es im Unterricht konzentriert und ruhig zugeht, wird nebenan gespielt, getobt, gebastelt – und mit den größeren Kindern manchmal auch Deutsch gelernt. „Wir haben hier Kinder zwischen zehn Monaten und zehn Jahren“, erklärt Breisch. Eine ehrenamtliche Kraft beaufsichtigt in der Regel drei Kinder. „Das muss so eng gestrickt sein, da unterschiedliche Bedürfnisse zusammenkommen und bei Kleinkindern fast eine Eins-zu-Eins-Beaufsichtigung notwendig ist. Unsere Unterstützerinnen sind ja keine Fachkräfte, sondern größtenteils junge Studierende, die noch nie mehrere Kinder gleichzeitig beaufsichtigt haben.“
Alles, was die Intimität der Kinder berührt, erledigen daher die Mütter. Zum Wickeln oder dem Toilettengang verlassen sie für Momente den Kurs. Fachlich werden die Engagierten durch einen Erste-Hilfe-Kurs für Kinder beziehungsweise Säuglinge geschult und außerdem von Externen einmal im Semester in Themen wie altersgerechte Sprachförderung, Konfliktlösung zwischen Kindern oder im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung fortgebildet.
Neu ankommen
Immer wieder ließe sich hier beobachten, wie Kinder und Mütter Schritt für Schritt aufblühen: „Wir können richtige Sprünge im Selbstbewusstsein und in der Kommunikation miterleben. Wie viel der Spracherwerb am Selbstwertgefühl ändern kann, ist sehr schön zu sehen“, meint Eva Breisch. Dass Sprachkenntnisse ein Schlüssel sind, um in einer neuen Gesellschaft Fuß zu fassen, sei offenkundig. Dennoch wurde 2024 geplant, die Mittel für Integrations- und damit Sprachkurse drastisch zu kürzen. Und das in einer Zeit, in der unter anderem in Deutschland EU-weit die meisten Asyl-Erstanträge gestellt werden.
Mit dem Bruch der Ampelkoalition konnte der Haushaltsentwurf zwar nicht beschlossen werden, doch das Signal, das von den Überlegungen ausgeht, wird dennoch stark kritisiert. So warnt Christoph Schroeder, Professor für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Potsdam, dass so noch mehr Menschen gesellschaftlich zurückbleiben würden.

Diesen Eindruck teilt Rozin Yatci. Ihr habe der Kurs Türen geöffnet, die sonst vermutlich noch verschlossen wären. 2017 floh sie aus der Türkei und folgte ihrem Mann, der vor ihr das Land verlassen hatte. Zwei Jahre lebte das Paar in Griechenland und bekam dort ihr erstes Kind. 2019 erreichten sie Deutschland und sind heute in Mannheim zu Hause, mit zwei Kindern. Von Müttersprache hat ihr eine Frau erzählt, bei der sie in medizinischer Behandlung war. „Das war das, was ich brauchte: Ein Sprachkurs, zu dem ich meine Kinder mitbringen kann. Wir hatten damals keinen Kita-Platz und alleine zu Hause hätte ich es nie geschafft, Deutsch zu lernen.“
Selbstermächtigung
Seitdem habe sich vieles in ihrem Leben verändert, meint Rozin Yatci – von Kleinigkeiten im Alltag hin zu grundlegenden Dingen, die ein Leben glücklich machen. Da sind zum Beispiel die Briefe: „In Deutschland gibt es viele bürokratische Dinge. Und das alles zu verstehen, war ein Problem, das ich jetzt lösen kann.“ Bis hin zum Gespräch mit Menschen, die ihre Kinder in der Kita oder Schule betreuen.
Yatci hat Unabhängigkeit gewonnen – und Freundinnen gefunden. „Wenn ich diesen Platz nicht bekommen hätte, würde ich immer noch warten. Ich bin sehr dankbar für diese gute Idee.“ Hinzu kommt: Auch die Kinder werden entlastet. Denn oft übernehmen sie in Familien mit Zuwanderungsgeschichte organisatorische Aufgaben und tragen Verantwortung für bürokratische Vorgänge, weil sie die Übersetzung für ihre Eltern übernehmen.

Der Unterricht bei Müttersprache passt sich den Bedürfnissen der Frauen an; auch kleine Fortschritte werden gefeiert, meint Eva Breisch. „Wir sind ein geschützter Raum und kein Ort für zusätzlichen Druck.“ Auch wenn Teilnehmerinnen in andere Sprachkurse wechseln und das die Gruppendynamik beeinflusst, sei das kein Problem. „Wir sind für viele ein Einstiegskurs. Die Frauen sollen eine Chance zur Selbstermächtigung bekommen – auch dann, wenn sie schon Jahrzehnte in Deutschland leben. Wenn sie ein anderes Angebot finden, das zeitlich günstiger oder besser erreichbar ist, ist das kein Problem. Wir ergänzen bestehende Strukturen.“
Wer so wie Rozin Yatci den Kurs bis zum Ende durchläuft, wird dabei unterstützt, ein offiziell anerkanntes Sprachzertifikat zu bekommen – die Kosten übernimmt der Verein. Möglich wird das durch den Mannheimer Club der internationalen Frauenbewegung Soroptimist. Zudem erhält der Verein eine Förderung aus dem sogenannten Flüchtlingsfonds der Stadt Mannheim.
Fehlende Hilfen
Inzwischen verweisen Menschen in der Verwaltung rege auf den kostenfreien Sprachkurs, so Eva Breisch. Geflüchtete Frauen würden von Behörden darauf aufmerksam gemacht. Auch, weil es in der Stadt keine anderen Angebote mit Kinderbeaufsichtigung gibt. Prinzipiell freut sich die 25-Jährige über die Nachfrage und genauso ärgert es sie, dass ein ehrenamtlich organisierter Verein staatliche Aufgaben übernimmt, ohne dabei unterstützt zu werden.
„Wir haben aktuell einen unserer Kursräume verloren und suchen nun nach Alternativen, die auch bezahlbar sind. Hier unterstützt uns die Kommune weder durch das Bereitstellen von Räumlichkeiten, wie zum Beispiel Schulräumen, noch dürfen wir ihre finanzielle Förderung für Raummiete oder Personalkosten nutzen. Ich würde mir wünschen“, bemerkt Breisch, „dass politische Verantwortliche verstärkt auf uns zukommen, um uns in unserer Arbeit effektiv und sinnvoll zu unterstützen und bürokratische Hürden abzubauen.“

In den kommenden Monaten wird der Verein auch überlegen, wie das Ehrenamt langfristig gesichert werden kann. Menschen im Ruhestand sollen eine größere Rolle spielen: „Sie haben andere zeitliche Ressourcen und gehen dem Projekt nicht verloren wie studentische Kräfte, die mal umziehen oder in arbeitsintensiven Phasen kürzertreten müssen.“ Außerdem könnte Müttersprache in anderen Regionen umgesetzt werden. „Es gab bereits Anfragen für einen Austausch.“ Manchmal fühle es sich surreal an: „Ich vergesse bei der ganzen Organisation hin und wieder, was wir tatsächlich erreichen und wie wichtig dieses Angebot für die Frauen ist.“
Empathie ist eine politische Kraft, die über die Zukunft entscheidet. Die Wissenschaft nennt es einen „future skill“, um überhaupt mit den Krisen und Herausforderungen der Gegenwart umzugehen. Wie Mitgefühl zur Gestaltungskraft wird, erlebt Eva Breisch Tag für Tag. „Vielen Menschen fehlt es an Begegnungen und Austausch. Wer nicht mit Menschen spricht, die in prekären Situationen sind, wird sich nie der eigenen Privilegien bewusst.“ Ihr Engagement hat ihr gezeigt, dass „eine Gesellschaft ohne Empathie und Solidarität einfach nicht funktioniert.“
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