Nachgeschmack — Anuscha Zbikowski

Emil Wendland wird am Morgen des 1. Juli 1992 erstochen auf einer Parkbank im brandenburgischen Neuruppin gefunden – die Täter sind Neonazis. Eine Initiative erinnert an seine Geschichte und wird dafür von Rechtsextremen angefeindet.
22. Juli 2025
4 Minuten Lesezeit
Text: Judith von Plato — Fotos: Sina Opalka

Anuscha Zbikowski eilt zielstrebig durch die Straßen im brandenburgischen Neuruppin – ein mittelgroßes ostdeutsches Städtchen nördlich von Berlin. Ihre langen dunklen Haare flattern im Wind. Es geht über Kopfsteinpflasterstraßen, entlang der alten Stadtmauer und vorbei an verschnörkelten Klassizismus-Bauten. Sie stoppt an einer Ampel, die auf rot schaltet. „Es gibt hier sogar ein paar Fontane-Ampelmännchen“, erzählt Zbikowski. Der Schriftsteller wurde hier 1819 geboren. An ihn wird gerne erinnert und Neuruppin schmückt der Zusatz: Fontanestadt. So ein bereitwilliges Gedenken allerdings gibt es nicht immer, vor allem dann nicht, wenn es Ereignisse anderer Art sind, ein rechts motivierter Mord zum Beispiel.

„Vielleicht schämt sich die Stadt oder hat Angst vor einem schlechten Ruf“, so die 24-Jährige. Mittlerweile hat Zbikowski den Marktplatz erreicht. Der lag immer auf ihrem Schulweg und hat sich später zum Ort politischer Auseinandersetzungen entwickelt – mit Demonstrationen und Gegenprotesten. Gleich daneben liegt der Rosengarten, eine kleine Grünanlage, zentral und unscheinbar zugleich. Hier will Zbikowski hin, an den Tatort von vor 33 Jahren. Es ist der 1. Juli 1992, als frühmorgens ein Mann tot auf einer Parkbank aufgefunden wird. Emil Wendland, 50, früher Lehrer, alkoholkrank, wohnungslos. Er hatte sich zum Schlafen hierher zurückgezogen.

Am Abend zuvor betrinken sich ein paar junge Neonazis. Die drei Männer sind zwischen 19 und 23 und ziehen von Zuhause los, um „Assis aufzuklatschen“. So werden sie es später vor Gericht erzählen. Sie wissen, dass auf den Bänken im Rosengarten Menschen übernachten. So auch in dieser Nacht. Einer der Neonazis hält Wache, die beiden anderen nähern sich Emil Wendland. Sie treten in den Bauch und ins Gesicht. Die Schuhe sind mit Stahlkappen verstärkt. Mit einer Flasche schlagen sie so oft gegen seine Schläfe, bis sie zerspringt. Einer der beiden zückt ein Messer, stößt insgesamt siebenmal zu.

Bis zum nächsten Morgen breitet sich eine Blutlache unter der Bank aus. „Ich finde es richtig, Assis einen Denkzettel zu geben. Die leben nur von unseren Steuergeldern, verschandeln das Stadtbild“, wird einer der drei aussagen. Der Haupttäter, 20, wird schließlich im Oktober 1993 zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt, ein anderer im Februar 1994 zu zweieinhalb Jahren. Über den Gerichtsprozess des Dritten ist nichts bekannt.

Neuruppin ist kein Einzelfall

Emil Wendland ist eines der ersten Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Brandenburg nach der Wiedervereinigung. Mehr als zwei Jahrzehnte wird es dauern, bis das Land Brandenburg die Tat offiziell als politisch motiviert anerkennt.

Damit die Tat im Rosengarten nicht in Vergessenheit gerät, setzt sich Anuscha Zbikowski seit fünf Jahren für das Gedenken an Emil Wendland ein. Während sie darüber spricht, plätschert neben ihr der Springbrunnen, andere Menschen unterhalten sich und lachen laut, Kinder toben auf dem Spielplatz. „Das ist schon paradox“, sagt die Studentin. „Es ist trotzdem schön, dass das Gedenken präsent ist, ohne dass es aktiv bespielt wird.“ Dass die Stadtgesellschaft überhaupt dem Ermordeten gedenkt, ist der Gedenkinitiative zu verdanken. Ein fünfköpfiges Team, zu dem heute auch Zbikowski gehört. 

„Wenn ein Gedenktag vorbei ist, beginnen wir oft mit den Vorbereitungen für den nächsten“, sagt sie. Das meiste organisieren sie digital, denn alle wohnen mittlerweile an verschiedenen Orten. Es gehe dann meist um den Ablauf, Redebeiträge von Organisationen und politischen Vertretungen wie dem Bürgermeister von Neuruppin. In diesem Jahr gab es ergänzend eine Diskussionsrunde zu den Themen geschlechtsspezifische Gewalt und Wohnungslosigkeit

Seit der ersten Gedenkfeier 2012 aber sei das politische Klima ein anderes geworden. Die in Brandenburg gesichert rechtsextreme AfD konnte ihr Ergebnis in Neuruppin bei der vorigen Bundestagswahl verdoppeln und erreichte im Frühjahr fast 30 Prozent. Gleichzeitig wurde für 2024 ein neuer Höchststand bei rechten Gewalttaten gezählt: 273 Angriffe in Brandenburg, 66 davon richteten sich gezielt gegen progressive und linke Stimmen, gegen Personen, die sich journalistisch, politisch oder aktivistisch engagieren. Das sei ein deutlicher Anstieg um 75 Prozent, so der Verein Opferperspektive. Die Zahlen des Innenministeriums bestätigen das.

Die Bedeutung von Worten

Anuscha Zbikowski läuft derweil die Gedenkorte ab, schaut nach, ob sie beschädigt sind. Das gehört zu den Vorbereitungen eines jeden Gedenktags. Die Orte existieren ohnehin nur, weil sich die Initiative viele Jahre dafür eingesetzt hat – mittlerweile gibt es eine Gedenktafel am Tatort im Rosengarten, einen Gedenkgarten und den städtischen Emil-Wendland-Platz. 

Schäden gibt es diesmal keine. Doch das sei nicht immer so. „Die Sachbeschädigungen sind offensichtlich politisch motiviert.“ Auf dem Emil-Wendland-Straßenschild hätten Unbekannte den Slogan „Love AfD“ hinterlassen. Auch die Tafel am Tatort sei schon beschmiert worden. 

Wenn Anuscha Zbikowski über ihr Engagement und die brutale Gewalt spricht, bleibt sie ruhig, wägt jedes Wort genau ab. Worte sind ihr wichtig. Nach dem Studium möchte sie vielleicht als Schriftstellerin oder Autorin arbeiten. Als sich der Tod Emil Wendlands zum 30. Mal jährte, trug sie auf der Gedenkzeremonie eine Spoken-Word-Performance vor:

Hier bei uns
Geschehen Morde
Durch die Rechte Hetzerhorde
Durch Täter, die nicht sehen,
Wie wertvoll Leben ist.
Wie wichtig, nun zu sagen:
Ihr werdet noch vermisst!
Vergisst man, dass ihr Opfer wart,
Ohne Tat und Schuld,
Wird Hass Normalität
Und Gewalt zu Kult.

Neben Vandalismus würden die Engagierten am Emil-Wendland-Platz auch noch was anderes beobachten: Treffen rechter Gruppen. „Das sind jugendliche Gruppen, häufig alkoholisiert. Die pöbeln und schreien.“ Es seien auch schon Scheiben des benachbarten Jugendprojekts, das in dem großen Backsteinhaus beherbergt ist, eingeworfen worden. „Solche Vorfälle spiegeln das politische Klima und das bereitet uns Sorgen“, meint Zbikowski. „Uns ist bewusst, dass es sich um Einschüchterungsversuche handelt. Das führt jedoch nicht dazu, dass wir in einem Klima der Angst leben.“ Das wäre kontraproduktiv, stellt sie nüchtern fest.

„Es holt den Menschen nicht zurück, aber das Gedenken ist eines der wenigen Dinge, die wir tun können.“ Wenn sich die Initiative nicht darum kümmert, würde es wohl niemand anderes tun, meint sie, auch die Stadt nicht. Fördermittel beantragt die Gruppe daher jedes Jahr neu. Anuscha Zbikowski bleibt trotzdem dabei, auch wenn sie zum Studieren nach Berlin gezogen ist. Bevor sie mit der Regionalbahn wieder in die Hauptstadt zurückkehrt, schaut sie nochmal trauernd auf die Bank im Rosengarten. Mit der Gruppe will Anuscha Zbikowski dazu beitragen, dass so etwas nie wieder passiert. „Wenn wir gedenken, ist es ja schon zu spät.“

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