Text: Ruth Klages — Fotos: Karla Schröder
Gröhlend stürmt Jascha über den Schotterplatz auf eine Gruppe Queers zu. Ein Schlauchschal mit Flammenprint bedeckt Mund und Nase, knallbunt leuchten Jaschas Strümpfe. Zusammen mit zwei anderen Vermummten ist die Aufgabe der nicht-binären Person heute: Nazi sein. Das Trio schwenkt Flaschen wie Keulen, reckt Mittelfinger in die Luft und brüllt: „Verpisst euch!“
Viele, die am Rand stehen, müssen über die Inszenierung lachen. Doch der Ernst ist allen klar. Eine Kursteilnehmerin zerrt schnell eine kleine schwarze Spraydose aus ihrer Jackentasche und zielt. Fast zu spät. Erst kurz vor ihren Füßen trifft sie direkt in Jaschas Augen, sodass die angreifende Person zu Boden fällt. Für die Übung heute ist kein Pfefferspray in dem Behälter, sondern Wasser. „Ziemlich gruselig, wenn ihr so auf mich zukommt“, verdeutlicht sie.
Das Training ist Teil der Workshopreihe „Get Ready for Queer Action“, die von der Queer Pride Dresden organisiert wird. Jascha und Rita gehören zum Orga-Team und wollen zur Sicherheit beitragen. Denn in Sachsen und Brandenburg finden dieses Jahr so viele CSDs statt wie noch nie. Gleichzeitig gab es bei den Angriffen auf die Straßenumzüge 2024 einen Höchststand.

In Sachsen waren zwei Drittel aller Veranstaltungen von rechten Störaktionen bedroht. „Das ist ein enormer Anstieg“, recherchierte das Team der Queer Pride. So wurden vergangenes Jahr 40 000 Pride-Teilnehmende gezählt – demgegenüber kamen 2 600 Personen zu rechten Gegenaktivitäten. Aus den ehemals vereinzelten Protesten sind systematische Proteste von Neonazis geworden. Deshalb lädt die Queer Pride Dresden dazu ein, sich gemeinsam auf die Saison vorzubereiten: „Leiste mit uns präventiv und aktiv Widerstand und sorge dafür, dass CSDs in Sachsen nicht zu rechten Angsträumen verkommen.“
Die Inhalte der Workshopreihe seien aus den Erfahrungen des letzten Jahres entstanden. So habe es den Wunsch gegeben, besser auf Ausfahrten zu ländlichen CSDs vorbereitet zu sein, erklärt Jascha. „Wir wollen Menschen helfen, Erlebtes aufzuarbeiten und Wege zu finden, mit ihrer Angst und Hoffnungslosigkeit umzugehen“, ergänzt Rita. Ihre richtigen Namen behalten beide für sich.
„Den Umgang mit Pfefferspray zu lernen, kann individuelle Sicherheit geben“, sagt Rita. „Aber falsch verwendet, gefährdet es euch selbst.“ In einem Kreis, der aus Bierbänken gestellt ist, sitzen die Kursteilnehmenden und lauschen der theoretischen Einführung. Viele besitzen ein Spray, sind aber noch unsicher in der Benutzung. Jascha erklärt die verschiedenen Produkte: Fog Spray, Jet Spray, Gel und Schaum. Gel lasse sich präzise einsetzen und verursache wenig ungewollte Nebenwirkungen. Das setze aber auch voraus, dass zielgenau getroffen wird. Jet ist die Empfehlung für draußen. Das erreiche weite Entfernungen mit einem gezielten Strahl.
Sicherheit bei den CSDs
Nach der Theorie folgt die erste Übung: den Behälter so schnell wie möglich aus der Tasche ziehen. „Das Pfeffern anzudrohen, verschwendet wertvolle Sekunden“, stellt Jascha klar. Es sei besser, den Überraschungsmoment zu nutzen: rechtzeitig, ohne zu zögern abdrücken, wenn die Gefahr akut und die Entscheidung gefallen sei. Um die Treffgenauigkeit zu schulen, sind in einem bunt besprühten Schuppen Zielscheiben angebracht. „Schwenkbewegungen können helfen, das Gesicht anzupeilen – von oben nach unten oder von links nach rechts“, so Jascha.
Was den Teilnehmenden außerdem mitgegeben wird: Pfefferspray dient zur Distanzabwehr. „Mindestens zwei Armlängen Abstand sollten zwischen der Bedrohung und dir sein.“ Und um Selbstverletzungen zu verhindern, wird empfohlen, den Mund zu schließen und zu verhüllen.
In Deutschland ist der Einsatz von Pfeffersprays nur „gegen Tiere“ erlaubt, darf nur in einer Situation akuter Bedrohung gegen Menschen zur Selbstverteidigung genutzt werden. Denn der Wirkstoff kann in Kombination mit berauschenden Substanzen Allergien, Asthma, Anfälle wie Epilepsie oder gefährliche Wechselwirkungen auslösen. Capsaicin ist zudem fettlöslich, haftet also an Cremes oder Kontaktlinsen. Jascha und Rita betonen, sich der Folgen eines Einsatzes bewusst zu sein. „In einer Notwehrsituation geht es darum, euer eigenes Wohl zu verteidigen“, erklärt Jascha eindrücklich. „Dann könnt ihr nicht darüber nachdenken, ob der Nazi vielleicht Epilepsie hat.“

Die Queer Pride Dresden veranstaltet in diesem Jahr bereits zum fünften Mal einen eigenen Protest – bewusst in Abgrenzung zum CSD. Denn dort war der Medienkonzern Axel Springer dieses Jahr ein Schirmherr, erzählt Rita und lacht irritiert. „Große CSDs werden oft kritisiert für Pinkwashing und eine Depolitisierung von queeren Identitäten“, ordnet sie ein. „Für uns sind diese Identitäten aber grundsätzlich politisch, weil sie das über den Haufen werfen, was eine hegemoniale, normative Vorstellung von Leben und Gesellschaft ist.“
Für die Gruppe sei selbstverständlich, Antifaschismus und Queerness zusammenzudenken – und inklusiv zu sein. Bei ihrer Pride ist die Route rollbar, Reden werden in Gebärden übersetzt und queere Lebensrealitäten, die sonst zu kurz kommen, werden bewusst sichtbar gemacht.
Queersein auf dem Land
Wie die Zusammenarbeit mit lokalen Antifa-Gruppen vertieft werden könne, darüber will sich die Gruppe bei einer Podiumsdiskussion austauschen. Schon jetzt würden sie sich etwa bei Recherchen unterstützen. Als zum Beispiel die rechtsextreme Elblandrevolte 2024 beim CSD in Dresden aufmarschierte, wusste die Queer Pride vorher Bescheid, stellte sich den Neonazis in den Weg und verhinderte damit, dass der queere Umzug gestört werden konnte. Doch Jascha und Rita wissen: „Auch Nazis haben Recherche-Netzwerke, die gezielt nach Leuten suchen.“
Mit Blick auf das vergangene Jahr meint Jascha: „Die Lage wurde von der Polizei systematisch unterschätzt. Solche Gegendemos werden zu oft als demokratischer Diskurs anerkannt und nicht als Bedrohung gesehen.“ Also müssten sich die Engagierten Schutz selbst organisieren. Der Dresdner Gruppe sei eine frühe Intervention wichtig. „Wenn es Neonazi-Gruppen gelingt, ein Bedrohungsszenario aufzubauen, werten die das als Erfolg und machen es wieder.“ Genau das müsse verhindert werden – wie 2024 beim CSD in Bautzen. Damals beanspruchten Queers das Bahnhofsgleis in Dresden für sich und verzögerten so die Anreise der Rechten.

Auch für diese Saison sind wieder Anreisen zu allen CSDs im Umland von Dresden geplant. „Wir als Großstadt-Queers schirmen ab und schaffen auch die Masse, in der sich lokale Menschen verstecken können“, beschreibt Rita. „Wir sorgen für eine Distanz zwischen dem CSD und einer faschistischen Drohkulisse.“ Die Sichtbarkeit im Stadtbild könne dauerhaft etwas verändern. „Niemand kann dann mehr sagen: ‚Queers gibt es bei uns nicht‘.“ Gerade für die Förderung von Bildungsprojekten sei das ein nicht unerhebliches Argument.
18 queere Organisationen in Ostdeutschland verkündeten Anfang Mai in einer gemeinsamen Erklärung, in Zukunft vernetzter aufzutreten. Indem sie Präsenz zeigen oder Ressourcen und Erfahrungswerte beitragen, wollen sie gemeinsam dafür sorgen, dass Veranstaltungen sicher und geplant ablaufen. Menschen aus der Stadt sind etwa bei der Versammlungsanmeldung in kleinen Orten dabei. „Viele Jahre Beziehungsarbeit fließen in die gemeinsamen Anreisen“, sagt Jascha. Regelmäßig tauschen sie sich über akute Bedarfe aus.
Mit Repression umgehen
Und auch bei den vorbereitenden Workshops werde darauf geachtet, dass Queers aus dem Umland dabei sein können. Bei den Registrierungen wurden Plätze freigehalten, Unterkünfte und Reisekosten trage die Queer Pride. „Die wenigen Fördergelder werden häufig in kleinere ländliche Sachen gesteckt, um Nothilfe zu leisten“, weiß Jascha. „Deswegen müssen wir noch autonomer werden.“ Die Dresdner Gruppe selbst organisiert sich nur mit Spenden.
„Unsere Stärke ist, dass wir aufeinander aufpassen und Entschlossenheit auch auf die Straße bringen“, fasst Jascha zusammen. Auch international seien sie mit anderen Gruppen vernetzt. In Tschechien legten DJs der Queer Pride auf, in Polen halfen die Engagierten dabei, die Demo zu schützen. Und als vor mehr als sechs Jahren „LGBT-freie Zonen“ im Nachbarland ausgerufen wurden, unternahmen Jascha und andere Queers eine Bildungsreise, um sich selbst ein Bild zu machen. Danach gründeten sie die Dresdner Gruppe. „Unsere polnischen Genossis haben deutlich früher diesen rechten Backlash mitbekommen“, erzählt Jascha. Von den Erfahrungen im Umgang mit staatlichen und gesellschaftlichen Repressionen wollten sie profitieren und dieses Wissen nun auch an andere weitergeben, wie beim Workshop auf dem Schotterplatz.

„Nein!“, schreien sich zwei Teilnehmende entgegen. Sie versuchen lauter und selbstbewusster zu werden: fester Stand und feste Stimme. Deeskalation, die Gruppe im Blick behalten, sicher auftreten, auch das möchte das Team der Queer Pride vermitteln. Mit ihren Workshops wollen sie Menschen den Raum für den Umgang mit Gefühlen des Unbehagens geben. „CSDs werden im Nachgang oft nicht mehr als Feier-Moment wahrgenommen. Wir müssen viel Sorgearbeit in der Community leisten, um Bedrohungsszenarien und Ängste aufzufangen“, sagt Jascha. Wer auch nur eine latente Bedrohung spüre, ziehe sich eher aus der politischen Arbeit zurück.
Sich verteidigen zu können, ist das eine. Pfefferspray wieder loszuwerden, das andere. Das braucht Teamwork, weiß Jascha. Die Gruppe übt an einer letzten Station, sich gegenseitig die Augen auszuspülen. Dafür werden mit Nägeln Löcher in den Plastikdeckel einer Wasserflasche gehämmert und wieder festgeschraubt. So entsteht eine selbstgebastelte Augendusche.
Jascha ist heute oft von den Sprühstrahlen getroffen worden. Das Shirt ist klitschnass und es tropft aus Jaschas verstrubbelten Haaren. Zum Abschluss erzählen einige davon, wie sie sich der Angst gestellt haben, sich zu verteidigen. Andere grübeln, wie viel Übung noch nötig ist, um sich wirklich sicher mit dem Pfefferspray zu fühlen. Und sie sind sich einig, dass es lustig war. „Queere Widerständigkeit ist trotz allem auch Spaß“, findet Jascha. „Die Nazis sind nicht der Motor, dass es unsere Workshops gibt, wir reagieren nur adäquat und bereiten uns vor.“
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