Der vermessene Film — Kolumne Malonda feat. Natasha A. Kelly

Regisseur Lars Kraume erzählt in seinem Film „Der vermessene Mensch“ vom Genozid an den Herero und Nama. Was ist daran problematisch? Eine Sonderfolge Blaxpertise mit Achan Malonda und Natasha A. Kelly.
18. April 2023
26 Minuten Lesezeit
Text: Achan Malonda und Natasha A. Kelly — Fotos: Benjamin Jenak und Danard Grays

Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird das Thema Suizid besprochen.

Der Film „Der vermessene Mensch“ von Lars Kraume beschäftigt sich mit den deutschen Kolonialverbrechen in ehemals Deutsch-Südwestafrika. Er feierte auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere als Sondervorführung und wird von der deutschen Filmkritik sehr wohlwollend besprochen. Ich habe ihn wenige Wochen später mit einigem Befremden im Rahmen eines Screenings der Heinrich-Böll-Stiftung gesehen und musste danach sofort meine Freundin, die Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin Dr. Natasha A. Kelly, anrufen. Ein spoilerreiches Gespräch über die filmische Darstellbarkeit von Kolonialismus, strukturellen Rassismus und antirassistische Arbeit als Prozess, der an Feigheit scheitert.

Achan Malonda: Anfang 2021 hast du mir erzählt, dir sei eine Drehbuchidee vorgelegt worden, die du dir rassismuskritisch anschauen solltest. Eine Geschichte über den Genozid an den Herero und Nama, und irgendwie habe der Regisseur aber vor, dass der weiße Protagonist eine Liebesgeschichte mit der Schwarzen weiblichen Hauptfigur haben sollte. Darüber haben wir uns dann eine halbe Stunde lang empört. Jetzt ist der Film tatsächlich fertig. Wie kamst du zu diesem Projekt?

Natasha A. Kelly: Ich mache ja verschiedene antirassistische und machtkritische Fachberatungen, auch im Filmbereich. In diesem Fall wurde ich damit beauftragt, eine frühe Fassung des Drehbuchs zu lesen. Ich war auf unterschiedliche problematische Punkte gestoßen: Zum einen las es sich für mich wie eine Liebesgeschichte zwischen der Hauptfigur, einem weißen Afrikaforscher, und seinem Anschauungsobjekt, einer Schwarzen Teilnehmenden einer Berliner Völkerschau des späten 19. Jahrhunderts.

Wie sich im Laufe der Erzählung herausstellte, gehörte sie dem Volk der Herero und Nama an und ihre Liebesgeschichte wurde entlang der historischen Ereignisse des Genozids dieser Völker erzählt. Und das aus der weißen Perspektive des Regisseurs, also aus der Täter*innenperspektive. Das war nicht nur eine Romantisierung der Ereignisse, die ja bis heute weder in Deutschland noch in Namibia aufgearbeitet sind, sondern auch realitätsfern. Es hatte etwas vom Stockholm-Syndrom. Die vermeintliche Partnerin war quasi keine Sprechrolle, sie war stumm, jeder Handlungsmacht beraubt; sie war lediglich eine Statistin. Das hat ihre Objektifizierung noch mehr unterstrichen.

Darüber hinaus habe ich noch einiges an Sprache rot anstreichen müssen, wie den Gebrauch des N-Worts und andere rassistische Fremdbezeichnungen. In der Evaluation via Zoom habe ich dem Regisseur und dem Produzenten meine Anmerkungen erklärt, in einem dreistündigen Gespräch, das ich als sehr produktiv empfunden habe, emotional, aber doch produktiv. Bei dem Thema kann ich ja auch schon fast nicht ruhig bleiben. Und schon gar nicht, wenn ein Genozid auf diese Weise verschönert wird. Danach habe ich nie wieder von ihnen gehört. Es gab keine weitere Kommunikation.

Achan: Im fertigen Film spricht diese Figur, Kunouje, sie verwehrt sich auch den romantischen Avancen der weißen Hauptfigur Hoffmann, der auch als sehr triebhaft und sie objektifizierend dargestellt wird. Dafür wird der Film von Kritiker*innen gelobt. Laut des Regisseurs geht diese Dynamik auf den Einfluss der Hauptdarstellerin Girley Jazama selbst zurück. Aber du hast diese Anmerkung ja auch schon gemacht und warst vor allem, so hast du es mir schon damals erzählt, die Person, die gesagt hat: Die Hauptdarstellerin muss eine namibische, eine Herero Hauptdarstellerin sein.

Natasha: Es gehört ja zu meinen Aufgaben, auch Empfehlungen auszusprechen, wie Dinge besser gemacht werden können. Ich habe tatsächlich empfohlen, dass die Rolle der Schwarzen Frau ausgebaut werden muss und dass weiße männliche Autoren sie nicht schreiben können. Ich musste das auch länger erklären, bis es verstanden wurde. Dass dieser Vorschlag angenommen wurde, erfuhr ich aber erst später. Ich habe dem Regisseur davon abgeraten, dass er selbst diese Aufgabe übernimmt, weil weiße Männer seit jeher die Gefühlswelten Schwarzer Frauen imaginieren, erotisieren und exotisieren. Diese wirklich uralte kolonialrassistische Praxis sollte auf diesem Weg vermieden werden. Es war wichtig, dass eine Schwarze Frau selbst in die Rolle eintaucht. Und weil es wichtig ist zu verstehen, dass Schwarzsein in sich ja divers ist, war meine Empfehlung, eine namibische Autorin zu suchen und eben nicht irgendeine namibische, sondern tatsächlich eine, die dem Volk der Herero angehört, damit diese Rolle aus der Ich-Perspektive der Figur ausgearbeitet werden kann. Denn natürlich habe ich als Schwarze Deutsche eine andere Perspektive als eine Schwarze Namibierin; meine Geschichte spielte sich ja hier in Deutschland ab und nicht dort.

Deswegen habe ich ja auch betont, dass die Rolle nicht von irgendeiner Schwarzen Person ausgearbeitet werden sollte. Den weißen Herren schien das zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig. Ohne meine Beteiligung hätte es die Rolle von Kunouje in dieser Form vielleicht überhaupt nicht gegeben. Außerdem kritisierte ich einige Szenen, die rassistische Gewalt gegen die Herero reproduzieren. Diese Gewalt darf nicht eins zu eins aus der weißen deutschen Erinnerung reproduziert werden. Deutsche Geschichte wird aus einer weißen Perspektive erzählt. Es wird auch ausschließlich aus einer weißen Perspektive erinnert. Das ist nicht einfach auszuhalten als Schwarze Person, vor allem als Schwarze*r Deutsche*r. Genau an solchen Punkten muss es auch eine Aushandlung geben.

Deutsche Geschichte wird aus einer weißen Perspektive erzählt. Es wird auch ausschließlich aus einer weißen Perspektive erinnert. Das ist nicht einfach auszuhalten als Schwarze Person, vor allem als Schwarze*r Deutsche*r.

Natasha A. kelly

Achan: Diese Aushandlung fängt der Film an. Die ersten 20 Minuten fand ich sehr treffend, die waren eine sehr großartige Studie zum weißen deutschen Herrenmenschen. Das Publikum hat da viel gelacht, ich glaube, sie haben gar nicht so sehr verstanden, dass sie da gerade beschrieben werden, sondern fanden sie absurd. Aber er führt die Aushandlung nicht zu Ende. Die Objektifizierten schauen so gut wie nie zurück, werden vor allem betrachtet. Ich nehme das als Leerstelle wahr. Wenn der Regisseur gefragt wird, warum diese Perspektive fehlt, antwortet er, er hätte kulturelle Aneignung vermeiden wollen. Genau da hätte euer Prozess ansetzen sollen, aus einer Schwarzen Perspektive heraus, die natürlich den Herero und Nama gerecht wird, aber auch Schwarzen deutschen Rassismusbetroffenen heute.

Natasha: Als ich den Auftrag angenommen habe, habe ich auch gedacht, dass es darum geht, dass diese Prozessbegleitung explizit aus einer Schwarzen deutschen Perspektive erfolgen soll. Meine Perspektive ist ja eine dritte Perspektive, aus der ihr „weißer Fleck“ überhaupt erst sichtbar werden kann. Das war ihnen aber offensichtlich nicht klar, es ging ihnen nur darum, dass der Film fertig wird und als „antirassistisch“ gelabelt werden kann. Sie waren zwar sehr bemüht, keine Rassismen im Film zu reproduzieren, allerdings haben sie nur punktuell an eine Dekolonialisierung des Produktionsprozesses gedacht, was gerade bei diesem Thema extrem wichtig gewesen wäre.

Achan: Was ist mit unserer Identität als Schwarze Deutsche, als afrodiasporische Menschen? Sind wir zufällig hier? Wir existieren ja nicht im luftleeren Raum, sondern unsere Existenz hier ist auch von einer kolonialen Kontinuität, von eben jenen kolonialrassistischen Strukturen geformt. Und zugleich sind wir seit jeher widerständig, produzieren Wissen und stoßen Diskurse an. Wissen wie das, was du im Austausch mit den Filmemachern teilen solltest.

Natasha: Die Prozessbegleitung ging dann jedenfalls auch nicht weiter, vielleicht war das auch gar nicht ihr Plan. Was sie aus diesem ersten Gespräch gelernt haben, steckt in diesen ersten 20 Minuten. Wären sie noch mal an mich herangetreten und hätten das alles nicht als einmalige Geschichte verstanden, dann hätte sich vielleicht der Schwarze Widerstand bis zum Ende des Films durchgezogen, dann wäre tatsächlich auch eine Schwarze deutsche Perspektive filmisch berücksichtigt und Kritik aktiv umgesetzt worden. Aber leider läuft es oft so, dass weiße Personen glauben, sie müssten antirassistische Prozesse nicht fortlaufend durchlaufen. Sie glauben, nach ein oder zwei Gesprächen zu Anti-Rassismus-Expert*innen mutiert und in der Lage zu sein, die Arbeit alleine weitermachen zu können.

Achan: Ich finde spannend, dass das Argument einer kulturellen Aneignung hier quasi als Ausschlusskriterium für weitere Beteiligung funktioniert. Dabei sollte Bewusstsein für kulturelle Aneignung ja das Gegenteil leisten. Das bildet gut ab, was in diesem deutschen weißen liberalen Antirassismus-Diskurs stattfindet. Dann wird einer Schwarzen Person gesagt: Oh, dich nimmt das emotional sicher sehr mit, deswegen beteiligen wir dich gar nicht mehr. Quasi aus Rücksicht. Ist dir das auch so passiert?

Malonda ist politische Künstlerin und Aktivistin gegen Rassismus, für queerfeministische und intersektionale Awareness. Musikalisch schwebt sie zwischen Pop, Elektrobeats und klassischem Chanson – es geht um Liebe und ihr Leben als Schwarze Frau.
Malonda ist politische Künstlerin und Aktivistin gegen Rassismus, für queerfeministische und intersektionale Awareness. Sie schwebt musikalisch zwischen Pop, Elektrobeats und klassischem Chanson – es geht um Liebe und ihr Leben als Schwarze Frau.

Natasha: Genau so. Mir wurde die Entscheidung abgenommen, ob ich mich weiter an diesem Prozess beteiligen möchte oder eben nicht. Und offensichtlich wurde die Notwendigkeit nicht erkannt. Es gab ja keine Rückmeldung, was die nächsten Schritte sind, inwieweit die Empfehlungen umgesetzt werden oder werden können. Die Falle, in die sie letzten Endes getappt sind, ist, dass sie ergebnisorientiert gedacht haben. Dabei ist antirassistische Arbeit prozessorientierte Arbeit, jeder Schritt baut auf dem vorherigen auf. Es ist fatal, zu glauben, nach einem einzigen Gespräch sind sie sozusagen schon am Ende ihrer antirassistischen Reise angekommen oder in der Lage, einen Film mit dieser Brisanz zu drehen. Genauso wenig reicht es aus, sich punktuell eine Schwarze deutsche Expertin zu holen, sich von ihr ein Okay erhofft, dann aber nicht weiß, wie mit der Kritik umzugehen ist. Und genau das ist dem Endprodukt ja anzumerken: dass die antirassistische Reflexion nicht abgeschlossen ist oder gar nicht richtig stattgefunden hat.

Achan: Ich habe mich gefragt, was dieses Endprodukt eigentlich leisten soll, außer einfach dieses Thema aufzugreifen. Der Regisseur hat gesagt, er wollte den Kolonialismus dechiffrieren. Genau das hat er ja nicht getan. Schon die materielle Ebene als Begründung des Kolonialismus wird überhaupt nicht besprochen. Es geht nur um moralische Fragen, eine moralische Degeneration. Die Entwicklungen in der Kolonialgeschichte werden nicht abgebildet, und damit auch nicht die deutsche, die europäische Ideologie, die ihre Grundlage ist. Das verhindert auch, dass die Kontinuitäten zwischen diesen kolonialrassistischen Ereignissen zum Rassismus, den wir als Schwarze Menschen in Deutschland heute erleben, erkennbar werden. Aber es ist ja genau diese Aufarbeitung, die wir 2020 als Schwarze deutsche Community auf der Straße gefordert haben.

Wir existieren ja nicht im luftleeren Raum, sondern unsere Existenz hier ist auch von einer kolonialen Kontinuität, von eben jenen kolonialrassistischen Strukturen geformt.

Achan Malonda

Natasha: Dass ich als Schwarze Deutsche aus dem Prozess ausgeschlossen wurde, hat ja nichts mit mir persönlich zu tun, das weiß ich, dafür mache ich diesen Job zu lange, sondern mit meiner Schwarzen deutschen Perspektive. Ich habe kein Mitleid mit den Tätern und auch keine Empathie. Diesen Schwerpunkt hat der Film nur deshalb, weil die Schwarze deutsche Perspektive fehlt. Deswegen fehlen auch die Kontinuitäten des Kolonialismus. Es fehlt der Bogen zu den Communities damals wie heute, zum Schwarzen Widerstand, der in Deutschland geleistet wird und wurde. Dabei haben wir genau die Prozesse angestoßen, die den Film erst möglich machen: ob es die Rückführung der Gebeine und Schädel 2010 war oder die seitdem fortdauernde Kommunikation und der Austausch mit den Communities der Herero und Nama, von denen Delegationen regelmäßig nach Berlin kommen.

Das einzubeziehen hätte dem Film einen Mehrwert gegeben, auch einen pädagogischen Mehrwert. Der fehlt ihm aber. Der Kolonialismus wird nicht strukturell, sondern auf einer persönlichen Ebene verhandelt, über die fiktive Hauptfigur. Die Idee des Regisseurs war, dass anhand dieser fiktiven Figur entlang der dokumentarischen Erzählung Weiß-sein sichtbar gemacht werden sollte.

Achan: Genau das macht der Film nicht. Weiß-sein ist die unbesprochene Größe im Raum, statt sie sichtbar zu machen und gegebenenfalls zu dekonstruieren. Wenn Weiß-sein aber unsichtbar bleibt, perpetuieren sich rassistische Strukturen lediglich.

Natasha: Der Film erzählt ja nichts über die strukturelle Ebene des Rassismus, weil das Wissen fehlt, dass es sich um eine strukturelle Matrix gehandelt hat. Der Film bildet das nur ab: Wissen wird dem weißen Mann, wie dem Professor, zugeschrieben, er erhält die Macht, wie die Kolonisten, während die Schwarzen Figuren alle auf ihre Körper reduziert werden. Diese Triade hätte durchbrochen werden müssen. Da reicht es auch nicht, dass die Schwarze Frau ein Buch geschenkt bekommt und als lesend dargestellt wird. Das wirkt fast spöttisch. Stattdessen wird Rassismus auf Einzelfiguren und Einzelhandlungen reduziert. Dabei spielen diese Figuren ihren Handlungsraum noch nicht mal komplett aus. Deshalb kann das Weiß-sein auch gar nicht dekonstruiert werden.

Achan: Der Film versucht ja auch irgendwie, den Genozid an den Herero und Nama in eine Kontinuität zum Holocaust zu stellen. Gleichzeitig vermeidet er total, die am Genozid beteiligten Soldaten der Schutztruppe als das zu zeigen, was sie waren, nämlich Proto-Nazis, deren Verbrechen wenige Jahrzehnte später fortgesetzt wurden, dann in einer noch viel größeren Gewalteskalation. Nur manchmal wird das spürbar, etwa in der Szene, in der von Trotha den Vernichtungsbefehl vorliest.

Natasha: Ich denke, dass es wichtig ist, die Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu verstehen und auch, dass der Nationalsozialismus ohne den Kolonialismus in dieser Form nie möglich gewesen wäre. Das wird im Film allerdings nicht wirklich deutlich. Die ganze Komplexität, die strukturelle Verwobenheit dieser Epochen wird letztlich reduziert auf die Handlungen der fiktiven Hauptfigur im Austausch mit den anderen Figuren. Ob es jetzt Kunouje ist, die Soldaten oder sein Professor. Kolonialismus und Rassismus sind aber strukturelle Phänomene, die einen Handlungsraum hervorgebracht haben. Spannend wäre gewesen, zu sehen, wie dieser strukturierte Raum sichtbar gemacht wird, aber das ist nicht passiert. Damit wurde der Zuschauende aus seiner historischen Verantwortung entlassen, nicht nur das eigene Handeln zu reflektieren, sondern auch die Machtstrukturen zu erkennen, benennen und im besten Fall zum Einstürzen zu bringen.

Achan: Das würde ich tatsächlich auch dem aktuellen Diskurs über Kunst und negative Gefühle zuschreiben. Der Film strotzt ja vor toxischer Nettigkeit, vor toxischer Sensibilität, die sich letztlich nicht traut, gerade das Strukturelle und die strukturelle Gewalt zu adressieren.

Natasha: Ja, es wäre wichtig gewesen, strukturelle Gewalt zu thematisieren. Das, was an Gewalt vorkommt, sind erschossene oder zum Verdursten verdammte afrikanische Menschen, eine Reproduktion der historischen Gewalt also. Anstatt den Kolonialismus nicht nur als Macht- und Herrschaftssystem, sondern auch als Erkenntnis- und Repräsentationssystem aufzuschlüsseln und zu zeigen, dass seine Ideologie, der Rassismus, nicht nur aus einzelnen rassistischen Taten besteht, sondern eine Struktur bildet, wurde auf der oberflächlichen Bildebene geblieben.

Achan: Und gleichzeitig wird auch nicht zu viel von dieser Gewalt einzelner Täter gezeigt, das macht es ja so absurd.Entweder hätte halt die ganze Gewalt gezeigt werden müssen, das wäre dann ein Film, den niemand hätte sehen wollen, inklusive mir, aber es wäre die korrekte Erzählung gewesen. Oder sie hätten es wirklich komplett auf der strukturellen Ebene verhandelt. Dann wäre es aber ein anderer Film gewesen.

Es ist wichtig, die Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu verstehen und auch, dass der Nationalsozialismus ohne Kolonialismus nie möglich gewesen wäre.

Natasha a. Kelly

Natasha: Wäre der strukturelle Rassismus aufgezeigt worden, wäre es in jedem Fall ein besserer Film gewesen, bei dem es sogar ein vernünftiges pädagogisches Konzept hätte geben können, wie er im Bildungskontext verwendet werden kann, ohne unsere Schwarzen Kinder zu retraumatisieren. Es reicht schon, dass das N-Wort ausgesprochen wird. Das alleine zeigt, wie wenig Wissen die Verantwortlichen im Umgang mit pädagogischen Ansätzen der antirassistischen Arbeit haben. Da reicht es nicht aus, die Keule zu schwingen, draufzuhauen und dann darüber zu reden, warum sie draufgehauen haben. Das ist zu wenig! Ich verstehe auch nicht, warum der Film ab 12 Jahren freigegeben ist.

Achan: Darüber reden ja jetzt alle: dass dieser Film an Schulen gezeigt werden muss.

Natasha: Auf keinen Fall. Kolonialismus steht ja nicht einmal im Rahmenlehrplan, weder in Berlin noch anderswo. Und jetzt kommt dieser Schinken daher und erschlägt unsere Kinder? So empfinde ich das. Vor allem Schwarze Kinder hätten nicht einmal die Wahl, wie Kinobesucher*innen, sich diesen Film anzugucken oder nicht, sondern wären im Rahmen einer Projektwoche oder ähnlichem diesem Stoff ausgeliefert. Dafür geht der Film nicht tief genug und er ist auch nicht gut genug. Außerdem sind unsere Lehrkräfte in diesen Bereichen nicht ausgebildet: Rassismus und Kolonialismus oder Postkolonialismus gehören nicht in dieser Form zum Lehramtsstudium.

Achan: Du sagst aber gleichzeitig, dass es ein wichtiger Film ist.Ich würde da gerne drauf eingehen. Das Anliegen des Films ist auf jeden Fall wichtig. Aus den Reaktionen der Herero in Namibia kann ich das sehen. Der Film wurde dort zuerst gezeigt, und es gab auch eine positive Rückmeldung, die vor allem damit zu tun hatte, nicht vergessen worden zu sein. Aber das ist ja auch das Minimum, was so ein Vorhaben dann leisten muss. Und wir hier in Deutschland wurden wiederum vergessen.

Natasha: Inhaltlich ist der Film so lala, politisch ist er wichtig. Diese Unterscheidung müssen wir machen. Auf jeden Fall kommt er zur rechten Zeit. Er schafft eine breite Aufmerksamkeit für die laufenden Verhandlungen um den Genozid an den Herero und Nama. Mittlerweile ist eine Zahlung von 1,1 Milliarden Euro erfolgt, damit gestehen die Deutschen zwar ihre Schuld ein, die Bundesregierung spricht auch von einem Völkermord, allerdings wird das Verbrechen völkerrechtlich nicht als Genozid eingestuft. Deswegen werden die Zahlungen auch nicht als Reparationen verstanden. Das ist es aber, was die Herero und Nama fordern.

Achan: Der Regisseur sagt, er war 1991 schon in Namibia, und er hat auch gesagt, er möchte, dass seine Söhne nach Namibia fahren können, ohne sich schämen zu müssen.

Natasha: … ja, dann hat er nicht verstanden, worum es geht. Anders kann ich das nicht sagen. Es geht ja nicht darum, Namibia für Deutsche bereisbar zu machen oder als Zielort des nächsten Urlaubs wieder auf die Landkarte zu bringen. Mit einer solchen Aussage zentriert er wieder weiße Personen und weiße Träume und Sehnsüchte und lässt die politische Dimension, um die es hier geht, total obsolet wirken. Es erweckt den Anschein, als ob er sich jetzt einfach an eine Debatte anschließt, ohne zu zeigen, dass er sie auch wirklich versteht.

Achan: Es ist ein sehr unangenehmes Zitat.

Natasha: Seit Jahrzehnten unterstützt die Schwarze Community hier die namibischen Gemeinschaften und stößt politische Debatten an. Das war schon immer so. Auch zur Zeit des Kolonialismus. Schon damals gab es antikolonialen Widerstand, auch in Deutschland. Das hätte also auch in den Film mit eingewoben werden können, auch in Bezug zur weißen Hauptfigur. Es hätte nicht im Mittelpunkt stehen müssen, aber es hätte präsent sein müssen. Der Kolonialismus dauert an, aber der Widerstand doch auch. Es gab keinen Moment, wo es keinen Widerstand von Schwarzen Menschen in diesem Land gegen Rassismus gab. Es wäre wichtig gewesen, das zumindest im Ansatz zu erwähnen. Gerade, weil es ein Film für weiße Zuschauer*innen ist.

Achan: Stattdessen haben wir eine romantische Erzählung: Der Ethnologe reist seiner Sehnsucht hinterher, bis nach Namibia.

Natasha: Er bleibt in den Grenzen des klassischen Afrikaromans, den er eigentlich dekonstruieren will, mit allen Stereotypen, bis hin zum Vater, der in Afrika von Kannibalen gefressen wurde.

Achan: Und zwischendurch wird von der alten Professorenfigur randomly Sarah Baartman erwähnt, als einzige historische Schwarze Person außer Samuel Maharero und seinem Sohn Frederick.

Natasha: Ich habe nicht verstanden, warum Sarah Baartman erwähnt wird. Ihrer Geschichte, auch als Symbol des Schwarzen Feminismus, wird hier Gewalt angetan. Dieses Namedropping wird ihr einfach nicht gerecht. Wäre die Referenz nicht so oberflächlich, könnte ich fast denken, dass es darum geht, zu zeigen, dass die Deutschen ja gar nicht so schlimm waren wie die Franzosen und Engländer. Vielleicht geht der Zuschauer nach dem Film nach Hause und schlägt mal ihre Geschichte nach. Dann hätten Schwarze Deutsche auch was gewonnen, wenn auch nur ganz am Rande und ganz eventuell. So gesehen kann der Film für weiße Zuschauer*innen, die selbst entscheiden können, ob sie ihn sehen wollen oder nicht, ein guter Einstieg in das Thema Kolonialismus sein.

Der Film „Der vermessene Mensch“ strotzt vor toxischer Nettigkeit, vor toxischer Sensibilität, die sich letztlich nicht traut, das Strukturelle und die strukturelle Gewalt zu adressieren.

achan Malonda

Achan: Weil er erzählt, dass er überhaupt passiert ist.

Natasha: Ganz genau. Auch wenn er viel versäumt, werden Brotkrümel verstreut. Aber vielleicht hätte er auch mehr nicht leisten können, in der Konstellation eines weißen Regisseurs und eines weißen Produzenten, die natürlich auch ein Vermarktungsinteresse haben. Aber es wäre in jedem Fall ein ehrlicherer Film geworden, hätten sie mich oder eine andere Schwarze deutsche Expert*in weiterhin am Produktionsprozess beteiligt. Und nicht erst, wenn der Film fertig ist, auf die Communities zugehen und sie dann einladen, an Panels teilzunehmen. Das ist auch eine Form der Tokenisierung.

Achan: Er bleibt innerhalb der üblichen Machtasymmetrien, die der Film ja eigentlich zeigen will und aus denen er aber auch in der Produktion selbst nicht herauskommt. Dein Name taucht irgendwo einmal in einem Interview auf, weil du die Verwendung des N-Wortes kritisiert hast, was ja nun das basalste und kleinste Problem dieses Films wäre. Hätte dieser Film, das als Nebenbemerkung, wirklich zeigen wollen, was passiert ist, wäre es sehr, sehr oft vorgekommen und dann hätte es ganz, ganz viel piepen müssen. Passiert hier aber auch nicht. Jedenfalls: Du wurdest aus diesem Prozess herausradiert.

Natasha: Dabei wurden Vorschläge von mir ja umgesetzt, wie die Besetzung von jemandem wie Girley. Meine Expertise ist ja angenommen worden.

Achan: Aber unsichtbar gemacht, und als eigene Idee verkauft.

Natasha: Genau das. Und da liegt ja schon wieder genau die kulturelle Aneignung, von der alle reden.

Achan: Die angeblich vermieden wird.

Natasha: Es geht auch gar nicht darum, dass ich nicht in den Credits auftauche, sondern dass ich gar nicht erst gefragt wurde. Ich wäre auch nicht zur Premiere eingeladen worden, hätte ich mich nicht bemerkbar gemacht. 

Achan: Wie war dann die Rückmeldung eigentlich? Als dann erklärt werden musste, warum der Prozess nicht weitergegangen ist?

Natasha: Ich habe ganz lange nichts gehört, erst dann von einer anderen Community-Aktivistin, dass der Film abgedreht wurde. Es gab wohl eine Pre-Preview und das Entsetzen ihrerseits war wohl groß. Im Nachhinein hieß es dann wohl von Seiten der Produktion, dass sie wohl Angst hatten, wie ich dazu stünde, dass das N-Wort ja noch drin geblieben ist. Deswegen war ich wohl nicht zu den Vorführungen eingeladen.

Achan: Wegen des N-Worts also? Cute.

Natasha: Auch das hätte ich ja selbst entscheiden können, ob ich den Film sehen will oder nicht. Da wurde mir auch schon wieder die Entscheidungsmacht abgenommen.

Achan: Das ist aber auch genauso feige wie der Protagonist, oder? Der läuft am Ende auch vor der Schwarzen Frau weg.

Natasha: Das zieht sich auf allen Ebenen tatsächlich durch. Das Ende finde ich deswegen ziemlich gut. So verhalten sich weiße Männer Schwarzen Frauen gegenüber.

Achan: Leider ist es ja nicht das Ende. Es folgt eine Szene, in der Hoffmann, inzwischen Universitätsprofessor in den Zwanzigern, einen Aufsatz aus einem Buch herausreißt, in dem er die Überlegenheit der weißen Rasse angezweifelt hat.

Natasha: Ach, das Ende nach dem Ende. Das hatte ich schon vergessen. Dass es nach dem Weglaufen weitergeht, finde ich schade. Und auch, dass sie es versäumt haben, konkrete politische Allyship zu zeigen. Es gab ja immer weiße Verbündete in der antikolonialen Bewegung. Das muss ich auch ganz klar sagen. Das Getue zum Schluss war fast peinlich.

Achan: Es nimmt der Figur das letzte bisschen Tiefe. Nach den ersten 20 Minuten entwickelt er sich ja nicht mehr weiter. Und die Zuschauenden fragen sich dann auch immer: Warum muss ich denn ihm jetzt ausgerechnet folgen? Ich sehe ja nichts Interessantes.

Natasha: Nach den ersten 20 Minuten wird es auch für Schwarze Zuschauer*innen, vor allem Schwarze deutsche Zuschauer*innen, problematisch. Ab da werden nur noch Rassismen reproduziert. Warum sich das also ansehen? Außer ich gehe von vornherein davon aus, dass Schwarze Menschen sowieso nicht ins Kino gehen und sich den Film anschauen. Das ist ja dann wiederum ein strukturelles Problem, was wir in der Film- und Förderlandschaft sowieso haben: Warum wird dieser Film gefördert und warum werden Schwarze Filme von Schwarzen Filmemacher*innen nicht gefördert?

Achan: Für mich ist es kein Problem, dass es einen Film gibt, in den ich nicht hineingehen kann. Nicht jede Kunst muss für mich gemacht sein. Aber ich würde dann auch gerne im Gegenzug mehr Filme sehen, die auch für mich gemacht sind, von denen ich auch etwas habe. Und ich fühle mich ein bisschen unwohl, wenn weiße Menschen in diesen Film gehen und dann begeistert sind.

Natasha: Bei der Premiere auf der Berlinale bin ich aufgestanden und habe vor 500 Leuten gesagt: Hier fehlt die dritte Perspektive, die Schwarze Deutsche Perspektive. Bei allem, was weiterhin zu dem Film geplant ist, muss diese Perspektive mitgedacht werden, wenn sie im Film schon nicht auftaucht. Es fehlt der antikoloniale Widerstand, der zur selben Zeit in Deutschland stattgefunden hat. Dadurch hätte diese Perspektive abgebildet werden können, auch in der eher dokumentarischen Erzählebene.

Jahrhunderte haben wir dafür gekämpft, dass Schwarze Menschen in diesem Land ernst genommen werden, dass auch institutioneller Rassismus weiter thematisiert wird.

Natasha A. Kelly

Achan: Mich persönlich hat die Gewalt per se nicht schockiert, das ist eben die historische Gewalt. Ich fand schwierig, wie random sie eingestreut war. Viel schwieriger ist doch die Bemühung des Films, die Leute, die diese Gewalt ausüben, eben auch als Menschen darzustellen. Das interessiert mich gar nicht, schon weil diese moralischen Bedenken der Soldatenfiguren doch frei erfunden sind. Die Härte des Umgangs auch miteinander kommt gar nicht vor. Der Film traut sich einfach nichts. Er bleibt in den halbherzigen Antirassismus-Diskursen, wie wir sie heute führen. Radikal ist er nicht, höchstens ein Erstaufschlag.

Natasha: Der Film spiegelt genau wider, was nach 2020 eingetroffen ist, als es um Black Lives Matter ging. Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, haben wir dafür gekämpft, dass Schwarze Menschen in diesem Land ernst genommen werden, dass auch institutioneller Rassismus in der Polizei, der Wissenschaft, in der Schule und so weiter thematisiert wird. Rassismus als gesellschaftliches Problem wurde vorher noch nie in dieser Form in der Geschichte der Bundesrepublik thematisiert. Und dann wurde das Thema vereinnahmt. Es ging nicht mehr um Black Lives, sondern darum, was weiße Leute denken, wie sie handeln, was sie tun sollen, nachdem sie verstanden haben, dass es im Rassismus keine neutrale Außenposition gibt und sie Teil eines strukturellen Problems sind. Das reflektiert der Film tatsächlich auch, es geht wieder nur darum, wie weiße Leute diese Themen verhandeln. Schwarzes Wissen wird nur punktuell aufgegriffen, wie eben in meinem Fall, um sich selbst und den Film zu legitimieren.

Achan: In einem Interview spricht der Regisseur ja über den Vorwurf von rassistischen Strukturen in seinem Film. Und er sagt: Nein, das sehe ich hier nicht. Ein weißer Mann sagt, er sieht den strukturellen Rassismus nicht.

Natasha: Die wenigsten weißen Menschen erkennen rassistische Strukturen, obwohl sie davon profitieren. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt. Ich würde nicht sagen, dass der Film per se rassistisch ist, aber er reproduziert Rassismus, in dem Versuch antirassistisch zu sein. Wie mit der Keule eben: erst draufhauen und dann erklären warum, du gehauen hast.

Achan: Die Vorwürfe drehen sich auch um die Produktionsbedingungen und mangelnde Beteiligung von Schwarzen deutschen Filmschaffenden.

Natasha: Es waren ja viele Namibier*innen beteiligt, das stimmt. All good on that front. Aber Schwarze Deutsche? Darum geht es mir: Unser Wissen ist auch ein Produkt, ist auch Arbeit. Und dieses Wissen wird auf vielen Ebenen unsichtbar gemacht. Es wird historisch unsichtbar gemacht, es wird dokumentarisch unsichtbar gemacht und es wird in dem Produktionsprozess unsichtbar gemacht. Filmisch ist es gar nicht vorhanden, es wird nur angeeignet und reproduziert.

Natasha A. Kelly ist Autorin und Herausgeberin von sechs Büchern, Kuratorin und bildende Künstlerin. Ihre Kunstinstallationen wurden in verschiedenen Museen in Deutschland gezeigt. Ihr Filmdebüt gab sie mit dem Dokumentarfilm „Millis Awakening“.

Achan: Ich merke das an Schwarzen Kritiker*innen am Film, die ihr eigenes Unwohlsein nicht so richtig einordnen können. Es geht da nicht nur um die Grausamkeit, sondern um die Unsichtbarmachungihrer eigenen Identität. Der Film behauptet, Identität zurückzugeben, aber nicht an uns Schwarze Deutsche, die wir in diesen Film hineingehen. Unsere Identität ist nicht Teil dieses Films, wir werden ein weiteres Mal aus der Geschichte sogar noch herausgeschrieben.

Natasha: Und trotzdem hätte es ohne uns diesen Film nicht geben können. Trotzdem fehlt die strukturelle Ebene, um die es beim Antirassismus eigentlich geht und gehen muss. Deswegen hat der Film uns, Schwarzen Deutschen, nach 20 Minuten nichts mehr zu sagen.

Achan: Danach verlassen wir Deutschland und gehen in die Kolonie. Und da setzt sich der Film nur mit dieser Hauptfigur auseinander, die zu feige ist, sich umzubringen. Wir sollen mit seinem Dilemma mitfühlen, so abstoßend es auch ist. Das hat auch mit dem Regisseur zu tun, wie er halt spricht, was seine Sehnsüchte und Bedürfnisse in Bezug auf Namibia, auf seine eigene Geschichte, seine Söhne sind. Du sagst ja auch, es ist der Versuch, whiteness sichtbar zu machen. Und ich sage in dem Moment, wo er es nicht schafft, sich umzubringen, entsteht diese wunderschöne Metapher für den ganzen Film, für sein Scheitern, nämlich dass er Weiß-sein dann doch nicht dekonstruiert.

Natasha: Oder um kategorisch zu bleiben: Das ist ja das, was viele Weiße in ihrem ersten Schrecken immer falsch machen, wenn sie Rassismus anfangen zu begreifen: Sie glauben, sie können das Weiß-sein verlassen. Und das ist ja das, was der Film versucht. Er versucht, sich mit Weiß-sein zu beschäftigen, indem er das Weiß-sein verlässt.

Achan: Aber er schafft es einfach nicht.

Natasha: Ganz genau, er kommt aus seiner sozialen Position nicht raus, egal ob er sich damit beschäftigen will oder nicht. Es fehlt aber an der Stelle, in der Dekonstruktion von Weiß-sein weiter zu gehen. Nicht in der Brutalität, im Mord, im Blut, im Rassismus. Sondern in der Reflexion der eigenen Position in dieser Machtstruktur.

Achan: Weiß-sein zu abolishen ist ja eine kontinuierliche Arbeit.

Wir stehen ja immer wieder vor dieser monolithischen Verhandlung von Schwarz-sein. Bei Bedarf werden unterschiedliche Schwarze Perspektiven von Weißen priorisiert.

Achan Malonda

Natasha: Es sind Prozesse, die nie wirklich enden. Der Regisseur wollte einen bestimmten Punkt machen und hat aber nicht gemerkt, dass das Programm trotzdem weiterläuft. Und da Critical Whiteness ein Schwarzer Ansatz ist und nichts, was sich weiße Menschen ausgedacht haben, hat er diese Figur gar nicht wirklich zu Ende denken können, ohne dass es wieder rassistisch wird.

Achan: Und dann ist es interessant, dass Henning Melber dann gesagt hat, dass der Protagonist den ganzen Film über ein Herrenmensch und ein Feigling bleibt. Das finde ich fantastisch und betone es, weil es mehr über den Film sagt, als der Film versteht.

Natasha: Ich finde es wichtig, Feigling zu definieren. Es geht ja um die Angst vor sich selbst. Diese psychologische Ebene von Gewalt fehlt dem Film völlig. Sie wird dann nur nach außen gespielt, gegen die Herero und die Nama. Selbst Giftschlangen werden noch mit reingezogen und getötet, um die „German Angst“ zu thematisieren. Statt zu sagen: Nein, ich bin mein eigener Feind. Das wird nur kurz in der Spiegelszene angedeutet, wo er versucht, sein Steak zu essen, aber sich selbst nicht im Spiegel ansehen kann.

Achan: Bei dieser Unschlüssigkeit bleibt es dann. Stattdessen geht es um die äußeren Ereignisse, zu denen er sich verhalten muss. Aber es ist ja keine Frage der Moral.

Natasha: Es ist eine Frage der Struktur. Und in dieser Struktur bewegt sich der Film die ganze Zeit, ohne dass sie sichtbar gemacht wird oder er es schafft, über sie hinauszugehen.

Achan: Die Arbeit ist ja nicht die Arbeit gegen die Ereignisse. Die Arbeit ist ja die Arbeit gegen sich selbst.

Natasha: Absolut. Die Last wird aber übertragen auf die Unterdrückten, die Betroffenen, die Kolonisierten, die quasi in der Beweislast sind, zu zeigen, dass sie keine Opfer sind. Und Herr Hoffmann läuft am Ende vor seiner vermeintlichen Liebe weg, kriegt seinen lang ersehnten Job, reißt mit der Seite im Buch symbolisch seine antikoloniale Vergangenheit aus und macht das bisschen Widerstand, was der Film zu bieten hatte, zunichte.

Achan: Dieser weiße Blick setzt sich auch in dem fort, wie die Filmemacher jetzt über ihr Werk reden: Wir haben dieses und jenes versucht, wir haben ganz viel richtig gemacht, wir haben quasi alles richtig gemacht. Aber sie schauen sich nie selbst an, sondern erzählen lieber, was in Namibia alles toll gelaufen ist. Vor dem Backdrop von mehreren hunderten traumatisierten Menschen, die bei der Produktion wirklich auch die Traumata ihrer Vorfahren nacherleben mussten.

Natasha: Bei dieser Namibia-Verbindung ist noch wichtig, dass es ja auch dort ein Widerstandsthema ist, kein Thema der Regierung.

Achan: Das haben sie tatsächlich reflektiert. Sie gehen gezielt in Herero-Communities, um den Film zu zeigen.

Natasha: Okay, gut. Leider wird der namibische Widerstand im Film auch nur sehr stiefmütterlich behandelt.

Achan: Der Film versteht sich trotzdem als Geschenk an die Herero-Communities, und das ist auch richtig so und muss so passieren.

Natasha: Politisch ist das extrem wichtig. Aber ich finde es schade, dass auch hier so eine Bilateralität unterstrichen wird: hier Europa, dort Afrika. Subjekt, Objekt. Aber es gibt ja einen dritten Raum, die Diaspora, auch zur historischen Zeit des Films hat es sie schon gegeben. Das taucht im Film nicht auf.

Achan: Wir stehen ja immer wieder vor dieser monolithischen Verhandlung von Schwarz-sein. Bei Bedarf werden unterschiedliche Schwarze Perspektiven von Weißen priorisiert, das passiert immer wieder.

Natasha: Wir sind dann eben austauschbar und das ist mir ja ein Stück weit in diesem Prozess auch passiert. Sie waren offenbar nicht zufrieden mit dem, was ich gesagt habe, ich war zu emotional, die angry Black woman. But I am proud and angry! Damit habe ich gar kein Problem, wenn zumindest ein Funken von dem angekommen ist, was ich gesagt habe. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn ich nicht interveniert hätte.

Achan: Es wurden für die Einordnung des Films ja auch wichtige weiße Personen dazugeholt, die den Widerstand unterstützen, wie Uwe Timm, den Autor des Romans „Morenga“, dessen Motive der Film aufgreift. Er hat bei der Vorführung, bei der ich war, in seiner Vorbemerkung den Film fast schon gerettet. Und Henning Melber, der in den Siebzigern Mitglied der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO war, hat dann hinterher wie gesagt die Kohlen aus dem Feuer geholt. Und zwischendurch war ein Film, der sehr inkonsistent war in dem, was er eigentlich wollte. Das Material wäre besser aufgehoben gewesen in einer auch so ausgewiesenen Co-Autor*innenschaft.

Natasha: Oder in einem writers’ room.

Achan: Warum ist das nicht passiert? Girley Jazama ist ja nicht nur Schauspielerin, sondern auch selbst Drehbuchautorin und Produzentin. Ihr Input wird zwar immer erwähnt, aber wie eine Partner*innenschaft auf Augenhöhe sieht das nicht aus. Damit entgeht der Film auch den Vorwürfen einer kulturellen Aneignung. Stattdessen, auch mit Blick auf deinen Beitrag, muss ich immer an dieses Zitat denken: Der M*** hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.

Der Film wird als große Errungenschaft in der Geschichtsaufarbeitung präsentiert. Das ist absurd und natürlich das, worüber sich Schwarze Filmschaffende ärgern.

Natasha a. kelly

Natasha: Das ist genau wie in der Black Live Matter-Debatte von 2020. Es ging der weißen  Mehrheitsgesellschaft nicht wirklich um Black Lives, noch nicht mal um All Lives, sondern alles drehte sich um sie selbst, um, white lives, white tears, white dreams and white fantasies. So verkürzt ist auch der Film.

Achan: Gleichzeitig löst der Film auch keine Kontroverse aus. Das heißt, es kommt jetzt auch wahrscheinlich niemand auf die Idee, noch einen weiteren Film über das Thema zu drehen, um es besser zu machen.

Natasha: Der Film ist deswegen gerade für die Schwarze filmschaffende Community ein Ärgernis. Jetzt gibt es das Label: ‘Der erste Film zum Genozid’. Alle Filme, die nachkommen, die sich mit dieser Thematik und auch mit Kolonialismus allgemein beschäftigen, müssen sich an ihm messen. Er hat zwar die Latte echt nicht hoch gelegt. Aber genau das macht es schwer, überhaupt strukturell an die Thematik heranzukommen.

Achan: Da sind wir beim eurozentrischen Verständnis von Kulturproduktion, bei der es immer um vermeintliche Ersturheberschaft geht. Der Film hat dieses Genre quasi erfunden, und deswegen muss sich daran jetzt alles messen.

Natasha: „Der vermessene Mensch“ wird als große Errungenschaft in der Geschichtsaufarbeitung präsentiert. Das ist absurd und natürlich das, worüber sich Schwarze Filmschaffende ärgern. Deswegen wird jetzt auch gesagt, ein weißer Mann darf so einen Film nicht drehen. Und ich kann die Argumentation auch verstehen.

Achan: Dabei haben wir tatsächlich ja eingefordert, dass weiße Menschen sich damit beschäftigen.

Natasha: Ganz genau. Es geht eben nicht darum, dass sich weiße Menschen jetzt nicht mehr mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigen sollen. Aber bitte nicht in Verkennung der realen Machtdynamiken und unter Anerkennung des Wissens zu diesen Themen. Die Schwarze Community ist schon sehr viel weiter als dieser Film. Ich alleine beschäftige mich ja bald 30 Jahre mit dieser Thematik. Und dann kommen andere und glauben, nach drei Jahren, drei Monaten oder drei Wochen diese Dinge drauf zu haben.

Achan: Der Film hätte das Thema von vornherein dekolonial denken müssen. Dann würden die Credits auch anders aussehen. Der Regisseur sagt ja auch: Es wäre schön, wenn auch Namibier*innen das Geld hätten, um so einen Film zu machen. Aber wieso müssen denn alle ihr eigenes Ding machen? Warum können, um diese hierarchischen Verhältnisse, mit den realen Machtstrukturen in der Filmindustrie, nicht zu reproduzieren, nicht alle an einen Tisch?

Natasha: Wie gesagt, der Stoff hätte in einem writers’ room entwickelt werden können, in dem mehrere Autor*innen zusammenarbeiten, damit Multiperspektivität entsteht. Aber dafür müssen sich Menschen von ihrem Ego lösen und von seinem Anspruch auf Definitionsmacht. Und nicht anderen Menschen die Entscheidungsmacht abnehmen, ob sie diesen Film sehen wollen oder nicht. Und wenn er jetzt sogar unseren Kindern aufgezwungen wird? Dann drehen wir uns nur im Kreis.

Achan: Es bringt Rassismus hervor. Herrenmensch bleibt Herrenmensch. Alles genau so wie immer.

Natasha: And we’re back to square one.

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung.

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All Cops Are Busted — Jerry und Tom

Auf kritische Fake-Werbeplakate im öffentlichen Raum reagiert die Polizei immer mehr mit strafrechtlichen Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen. Veto hat ein Adbusting-Kollektiv exklusiv bei seinem neuesten Coup mitten in Berlin begleitet.

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Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

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