Text: Anne Brockmann — Fotos: Sina Opalka
Otto tanzt mit Seifenblasen. Er springt nach den regenbogenfarbenen Schwebegeistern, stupst sie mit der Nase an, hascht nach ihnen, zersticht sie in der Luft. Gustl wühlt kopfüber im Innenleben eines großen alten Sessels herum, dessen Bezug reichlich zerschlissen ist. Wilma treibt ein Riesenlaufrad an – hüpft, läuft, stoppt, guckt und beginnt von vorn. Und Felix, der schaut sich das Ganze von oben an. Er hat es sich bäuchlings auf einer Hängebrücke bequem gemacht, knabbert ein paar Bananenchips und ist kurz davor wegzudämmern.
Was nach einem Abenteuerspielplatz für Kinder klingt, ist ein Lebenshof für Waschbären – gelegen rund 70 Kilometer südwestlich von Berlin. In der brandenburgischen Kleinstadt Treuenbrietzen – umgeben von den Flüssen Nuthe und Nieplitz, eingebettet in Wiesen und Weiden. Auf dem überfluteten Grünland in der Gegend suchen Störche nach Mäusen, rasten Kraniche während des Vogelzugs, wachsen Schilfgürtel um winzige Seen.
Auf rund 600 Quadratmetern leben hier 150 Waschbären, die alle nicht mehr am Leben wären, gäbe es den Hof nicht. Die promovierte Tierärztin und Tierschützerin Mathilde Laininger hat das Domizil geschaffen. „In der EU trat 2015 eine Verordnung in Kraft, die ein sogenanntes ‚Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver Arten‘ enthält. In den meisten Fällen bedeutet ,managen‘ schlichtweg ,töten’“, übersetzt Laininger. In der Jagdsaison 2022/2023 wurden in Deutschland offiziell mehr als 200 000 Waschbären geschossen.
Waschbären sind seit 2016 als invasive Art gelistet. Darunter fallen Tiere, die gebietsfremd sind, ursprünglich also woanders herkommen, denen es jedoch gelungen ist, zu überleben, sich an die neuen Bedingungen anzupassen und fortzupflanzen. Dass sie sich in der neuen Umgebung ausbreiten und auf die bestehende Tier- und Pflanzenwelt einwirken, indem sie zum Beispiel um Lebensräume und Nahrung konkurrieren, macht sie unbeliebt. Mit der Aussage, sie würden ,heimische‘ Tiere und Pflanzen verdrängen, geht häufig auch der Ruf einher, Krankheiten zu übertragen oder Schäden in der Landwirtschaft zu verursachen.
Waschbärenschutz
„Dieses Halbwissen und diese Gesetzeslage führen dazu, dass Waschbären überall in Europa das Recht auf Leben abgesprochen wird. Und in den meisten Ländern wird nicht einmal eine Schonzeit eingehalten, wenn die Weibchen Junge haben. Die Kleinen verhungern elendig. Waschbären werden verunglimpft und gequält, sie werden totgeschlagen und vergiftet, sie werden lebendig eingemauert und Hunde werden auf sie gehetzt“, fasst Mathilde Laininger die missliche Lage zusammen. Dabei gilt das deutsche Tierschutzgesetz für alle Wirbeltiere gleichermaßen – und damit auch für Waschbären.
Seit 2002 bereits hat der Tierschutz in der Bundesrepublik verfassungsrechtlichen Rang und ist damit als Staatsziel festgesetzt. Und auch Waschbären haben demzufolge ein Lebens-, Wohlbefindens- und Unversehrtheitsschutz. Die EU-Verordnung macht diesen Schutz jedoch unwirksam. Dagegen geht Laininger mit ihrem Verein Hauptsache Waschbär vor.
Zusammen mit einem Team aus 20 Ehrenamtlichen versorgt und behandelt sie notleidende und kranke Waschbären in ihrer Praxis und gibt ihnen auf dem Lebenshof ein artgerechtes Zuhause. Denn: Wer einmal in den Besitz eines Tieres gekommen ist, das einer invasiven Art angehört, darf dieses nicht wieder auswildern. In Kitas und Schulen arbeitet Laininger auch an einem besseren Image für die pelzigen Vierbeiner mit der Maskenzeichnung im Gesicht. In Abstimmung mit dem Berliner Senat entstand ein Pilotprojekt, um die Waschbärenpopulation in und um Berlin tierschutzkonform zu reduzieren. Und langfristig will Laininger erreichen, dass die Waschbären wieder von der Liste der invasiven Arten gestrichen werden.
Angefangen hat alles mit Fritzi. Im Alter von gerade mal drei Wochen war das Waschbärenmädchen in einen Fluss gefallen und wurde dort mutterlos geborgen. Zwei Kinder brachten das Tier in Lainingers Praxis in Berlin-Zehlendorf, wo diese bis dato überwiegend Katzen und Hunde behandelt hatte. Laininger zog das Findelkind mit der Flasche auf, Fritzi wuchs – und blieb. Auch, weil es gesetzlich gar nicht anders möglich war.
Ein neues Zuhause
Heute tobt Fritzi über eine Holzbalustrade, die entlang der Wände verläuft. Sie snackt Datteln, während sie in einer Nestschaukel relaxt, die in der Mitte des Zimmers hängt. Oder sie schläft auf Bücherregalen. Laininger hat Fritzis Entwicklung dokumentiert und einen Instagram-Star aus ihr gemacht. Mehr als 42 000 Menschen folgen dem Account. Fritzi teilt ihr Zuhause mit den Waschbären Marvin und Paul, mit Hund Anouk und den Katern Bruno und Miro.
Mathilde Laininger hat ihre Praxis für die Tiere aufgegeben und kümmert sich inzwischen nur noch um Fritzi und all ihre Gefährten. In dem dreistöckigen Haus in Berlin-Zehlendorf gibt es neben der Tier-Mensch-WG allerhand medizinisches Equipment, einen Quarantänebereich und auch noch eine Begegnungsstätte des Vereins. Hierhin kommen Schulklassen, Mitarbeitende anderer Praxen, Medienschaffende und Menschen, die eine Patenschaft übernommen haben.
Der Lebenshof liegt eine gute Autostunde entfernt – und ist inzwischen fast voll. Mit 150 Tieren ist die Kapazitätsgrenze dort so ziemlich erreicht. Laininger schaut sich deshalb nach einer weiteren Immobilie um. Ihr Engagement finanzierte sie anfangs vollständig aus eigener Tasche. Inzwischen kommen Spenden dazu. „Ich war mal wohlhabend. Und dann kamen die Waschbären“, fasst sie zusammen. „Tricksäcke“, so nennt Laininger ihre Kleinbären liebevoll.
Waschbären verstünden es gut, Menschen, die sich auch nur ein bisschen auf sie einlassen, um den Finger zu wickeln, beschreibt Laininger. Und sie hätten eine größere Anziehungskraft auf ihr Gegenüber als Hunde oder andere Haustiere. Und sie glaubt, das hat mit den Pfoten zu tun: „Sie setzen ihre Vorderpfoten genauso ein wie Säuglinge es tun. Wer einen Waschbären zu sich hochnimmt, der wird bemerken, dass er einem die Vorderpfoten ganz automatisch um den Hals legt und sich stark am Menschen festhält.“ Dieses Vertrauen sei besonders.
Menschengemacht
Aber so innig solche Szenen auch sein mögen: Laininger weist immer wieder darauf hin, dass Waschbären keine Kuschel-, sondern Wildtiere sind, die Menschen im Idealfall in Ruhe lassen sollten. Und sie ist überzeugt, die Population würde sich dann ganz von selbst regulieren. „Der Verein ist überhaupt nur entstanden, weil der Mensch durch seinen Eingriff ins System Leid und Probleme verursacht. Deshalb sehe ich mich in der Pflicht, diese Tiere zu schützen.“
Bei aller Liebe für die Kleinbären sieht auch sie die Notwendigkeit, die Waschbärenpopulation zu verringern. Denn Laininger weiß, dass es genauso die Waschbären gibt, die auf Dachböden ihre Jungen gebären und aufziehen wollen und dabei immense bauliche wie wirtschaftliche Schäden anrichten können, indem sie zum Beispiel die Dämmung zerstören und saugfähiges Material mit Kot und Urin ruinieren. Nur ist Laininger eben nicht dafür, die Tiere erschießen zu lassen. Sie hat eine Hotline für jene Menschen geschalten, die Probleme mit den Vierpfötlern haben. Sie können sich melden, werden kompetent beraten und unterstützt.
Manchmal müssen die Tiere nach einer Bergung in Lainingers Tierarztpraxis gebracht werden. Bevor sie auf dem Lebenshof ein neues Zuhause finden können, werden sie kastriert oder sterilisiert. Und genau so stellt sie sich die Zukunft vor. Ihr Pilotprojekt sieht vor, Waschbären mit Lebendfallen zu fangen, in einem speziell ausgerüsteten Kastrationsmobil mit einem kleinen Eingriff unfruchtbar zu machen und danach direkt wieder in die Natur zu entlassen.
In den vergangenen Jahren hätten Studien gezeigt, dass die Jagd keine geeignete Methode ist, um die Zahl der Waschbären zu reduzieren. Die Tiere haben ihre Fortpflanzungsfähigkeit nämlich längst an die Bejagung angepasst. Weibchen werden deutlich früher geschlechtsreif und gebären mehr Weibchen. Außerdem beteiligen sich mehr von ihnen an der Fortpflanzung. Dadurch konnten die Waschbären die Verluste durch die Jagd nicht nur ausgleichen, sondern ihren Bestand weiter wachsen lassen. Das Pilotprojekt war deshalb auch schon startklar. Und der Berliner Senat hatte grünes Licht und für eine Vorstudie Geld gegeben. Im August 2024 hätte es losgehen sollen. Im Juli aber kam überraschend das Aus.
Gegenwind trotzen
„Fadenscheinig“ nennt Laininger die Begründung und ergänzt: „Letztlich hakt es an nur einer einzigen Genehmigung, nämlich der von der Jagdbehörde. Diese verweigert uns plötzlich die bereits zugesagte Genehmigung für das Aufstellen von Lebendfallen. Noch Anfang des Jahres hatte es an einem runden Tisch mit allen Beteiligten geheißen, dass nichts gegen das Projekt sprechen würde.“ Laininger hat das Gefühl, sie sei durch ihren Einsatz für die Kleinbären in den letzten Monaten selbst ins Fadenkreuz geraten.
Für ihre Waschbären-WG in Berlin zum Beispiel habe sie noch keine neue Genehmigung für die Haltung bekommen. Laininger kommt es so vor, als würden die Naturschutzbehörde und auch das Bauamt akribisch nach Gründen suchen, ihr die Verlängerung zu verweigern. „Und wie es aussieht“, befürchtet sie, „wird es ihnen zunächst auch gelingen, denn die Entscheidung liegt letztlich im Ermessen der Behörde.“
Wer Waschbären halten möchte, braucht dafür eine behördliche Erlaubnis, für die strenge Auflagen zu erfüllen sind. Es sei dennoch üblich, eine solche Genehmigung für die Lebenszeit der Tiere auszustellen, weiß Laininger. Sie sieht sich diesbezüglich Schikanen ausgesetzt.
Und auch in Treuenbrietzen gibt es Gegenwind. Die örtliche Agrargenossenschaft habe etwa erklärt, dass Laininger bei ihr nicht nach Stroh und Heu für die Gehege zu fragen braucht. Und für den Dung der Tiere müssen sie und ihre Mitstreitenden seit neuestem Container bestellen und abholen lassen. Die Sammelplatte im Ort dürfen sie nicht nutzen. So würden vermeidbare Kosten anfallen. Insgesamt liegen die Ausgaben für die Waschbären jeden Monat im höheren vierstelligen Bereich. Und das auch nur, weil alle Arbeit fast komplett ehrenamtlich geleistet werde. Kürzlich wurde die erste und bisher einzige hauptamtliche Tierpflegerin eingestellt.
Eine soziale Clique
Bestärkt fühlt sich Laininger, wenn sie einen Waschbären zur Sterilisation oder Kastration auf dem OP-Tisch hat und feststellt, dass das Tier schon unfruchtbar gemacht worden ist – und zwar professionell. „Dann weiß ich, dass es Menschen in meinem Beruf gibt, die ähnlich ticken wie ich. Und die hatten offenbar den Mut, das Tier wieder freizulassen“, so Laininger. Für sie ist klar, Tierschutz zu leben und vorzuleben, bedeute immer auch „Erziehung zur Menschlichkeit“.
„Helfe ich einem wehrlosen Wesen in Not, auch wenn mir das keinen Vorteil bringt? Oder lasse ich gleichgültig geschehen, was geschieht“, fragt Laininger mit hochgezogenen Schultern und offenen Händen. Für den europäischen und damit auch für den deutschen Umgang mit Waschbären findet sie deutliche Worte: „Die Waschbären haben sich nicht von selbst zu uns auf den Weg gemacht und sie sind auch nicht versehentlich nach Europa gekommen.“
Auch das wäre in Lainingers Augen legitim. „Aber im Gegenteil: Sie wurden vor 100 Jahren der Pelzzucht wegen, aus rein kapitalistischen Gründen also, aus Nordamerika hierher gebracht. Jetzt bringen wir sie massenhaft um, weil Europa ursprünglich nicht ihre Heimat war, weil so von woanders kommen. Das ist Fremdenhass pur – ein Thema, das uns alle betrifft.“
Im Gegensatz zu manchen Menschen verhielten sich Waschbären untereinander absolut sozial, ergänzt Laininger. Besonders in die Aufzucht der Jungen würden sich alle einbringen. Es sei ihr schon oft gelungen, verwaiste Jungtiere an eine andere stillende Waschbärenmama zu vermitteln. Auf dem Lebenshof steche eine Waschbärin aber besonders heraus, wenn es darum geht, sich als Amme völlig selbstlos um fremde Jungtiere zu kümmern. Als Laininger verrät, wie ihre Kolleginnen sie genannt haben, muss sie selbst lachen. Ihr Name ist Mathilde.
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