Rettung aus der Luft — Sabrina von Augenstein

Jedes Jahr werden beim Mähen der Wiesen rund 100 000 Rehkitze verletzt oder sie sterben. Mit ihrer Drohne schwebt Sabrina Augenstein deshalb schon frühmorgens über die Felder und bewahrt Wildtiere vor dem Tod.
29. Juni 2023
7 Minuten Lesezeit
Text: Eva Goldschald — Fotos: Lisa Mader

Am Vortag hat es nicht geregnet. Trotzdem ist die Luft feucht. Der Morgentau glänzt, als die ersten Sonnenstrahlen auf Blätter und Blüten scheinen. Wenige Autos sind auf den Straßen unterwegs. In der Ferne schreit ein Uhu, ringsum begrüßen Vögel mit ihrem Gesang den Tag. Weite Felder mit Raps, hüfthoch gewachsene Blumenwiesen und dazwischen alleinstehende Höfe, dahinter Alpenpanorama. Am Feldrand irgendwo im oberbayerischen Teisendorf steht Sabrina Augenstein. Sie trägt Gummistiefel, darüber eine schwarze Regenhose, ein Fleece unter die grüne Jacke gezogen. Für Ende Mai sind die Morgenstunden kalt und klamm. Sie wirkt etwas nervös, obwohl in dem, was sie gleich tun wird, bereits seit Jahren Routine hat. 

Neben ihr wartet ein Bauer mit seinem Sohn und zwei Helferinnen. Sie alle haben an diesem Morgen eine gemeinsame Mission: Rehkitze vor dem Tod retten. Vor gut eineinhalb Jahren gründete Sabrina Augenstein den Verein Drohnenprojekt Leben retten, der sich komplett aus Spenden finanziert. Damit hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Rehkitze, Hasenkinder und andere Tiere, die in den Feldern Schutz suchen, vor dem Mähtod zu retten. „Als Jugendliche fand ich ein Rehkitz am Feld. Es hatte nur noch zwei Beine, die Hinterläufe waren abgetrennt. Das Rehkitz kam unter die Mähmaschine, der Bauer hatte davon nichts mitbekommen.“ Dieses Erlebnis prägte Augenstein so stark, dass sie sich entschloss, Rehkitze vor diesem Schicksal zu bewahren. 2018 startete sie erstmals mit der Rettung. Damals noch gemeinsam mit dem Tierschutzring Traunstein, durch den sie auch die ersten beiden Drohnen finanzieren konnte.

Sabrina Augenstein hält den Controller in den Händen. Mit ihren Daumen bedient sie jeweils einen der beiden Steuerknüppel. Auf einem schwarzen Koffer steht die Drohne abflugbereit. Im Koffer verstaut sie fünf weitere Akkus. Daneben stapeln sich drei graue Wäschekörbe aus Plastik ineinander. Die Drohne erhebt sich wie ein riesiges brummendes Insekt im Morgenlicht senkrecht gen Himmel. 60 Meter hoch kann sie fliegen. Wenn wie heute der Bauer dabei ist, sagt dieser ihr genau, wo sie überall fliegen soll. Ist das Team ohne ihn unterwegs, zeichnet ihnen der zuständige Jäger über eine Onlinekarte ein, welche Bereiche wichtig sind.

Sabrina Augenstein fliegt die weiten Felder konzentriert in Bahnen ab, damit sie auch nichts übersieht und die Orientierung behält. Manchmal sind es zwei Hektar, manchmal fünf, manchmal mehr als zehn. Am schnellsten geht es, wenn sie früh morgens vor Sonnenaufgang über flache, quadratische Felder fliegt. Das dauert nur etwa zehn Minuten. Je verzweigter, abschüssiger und wärmer die Felder sind, desto länger und genauer müsse sie arbeiten.

Erlösende Nachrichten

Auf dem Bildschirm  des Controllers sieht das Feld aus wie eine Mischung aus Ultraschall und Mondlandschaft – alles grau in grau. So geht es ein paar Minuten lang. Reihe um Reihe fliegt die Drohne über das Feld. Sie ist so hoch, dass Augenstein den Himmel immer wieder nach ihr absuchen muss. Nach einigen Minuten erscheint ein schwarzer Fleck am grauen Bildschirm des Controllers. Die Drohne stoppt. Ein Anzeichen, dass diese Fläche wärmer ist als andere. Sabrina Augenstein wechselt rasch die Einstellung. Der Bildschirm zeigt nun die Wiese von oben gestochen scharf. Sie zoomt das Bild näher heran. 56-fach kann sie es vergrößern.

Dort am Feld liegt ein Rehkitz, zusammengekauert und geduckt. Der Wind bewegt das Gras hin und her. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Ein Akku hält maximal 40 Minuten. Katja, eine der beiden Helferinnen, schnappt sich einen Wäschekorb und geht zusammen mit ihrer Kollegin zielgerichtet auf die Drohne zu, die wie ein Ufo ganz starr im Himmel schwebt. Über ein Walkie Talkie kommuniziert die Drohnenpilotin mit Katja. „Einen Schritt nach rechts, dann wieder geradeaus. Ich sehe euch noch nicht am Bildschirm. Passt auf, wo ihr hinsteigt.“ 

Die Anweisungen sind präzise und bestimmt. Die Helferinnen waten durch hüfthohes Gras. Nach gut fünf Minuten erkennt die Drohnenpilotin die beiden am Bildschirm. „Nur noch fünf Schritte, dann müsste es direkt vor euch liegen“, gibt sie über das Walkie Talkie durch. Kurzes Rauschen, dann die erlösende Nachricht: „Ich hab’s“, tönt es aus dem Gerät. Die Helferinnen tragen das Kitz im Wäschekorb an den nahe gelegenen Waldrand. Genau das ist der Moment, in dem zwei Personen wichtig sind – eine muss den Korb festhalten, während die andere nach Material sucht, um ihn zu beschweren. Dafür stecken sie zum Beispiel Äste seitlich durch die Griffe in die Erde. Manchmal verwenden sie auch Steine, Baumstämme oder mitgebrachte Sandsäcke. Sobald die Wiese abgemäht ist, werden die Kitze aus ihrem Versteck befreit.

Die Zeit, in der Rehkitze, Junghasen und Wiesenbrüter geboren werden, überschneidet sich genau mit dem ersten Grünlandschnitt ab Anfang Mai. Vor allem gegen die oft eingesetzten Großflächenmähwerke mit maximalen Geschwindigkeiten bis zu 50 Stundenkilometern und Arbeitsbreiten bis zu 16 Metern haben Wildtiere keine Chance. Die seit Jahren erfolgreichen Überlebensstrategien der Tiere, nämlich bewegungslos ausharren, um sich vor Fressfeinden zu schützen, bewirken bei der Mahd genau das Gegenteil. Neu geborene Rehkitze besitzen beispielsweise bis etwa zwei Wochen nach der Geburt keinen Fluchtinstinkt. Die Ricke gebärt das Kitz im hohen Gras. Dort verweilt es für etwa zwei Wochen und ist so vor Fressfeinden geschützt. Weder das piepsende Geräusch eines Wildretters, noch das Mähwerk selbst veranlassen es, vom sicheren Platz im Feld aufzustehen und davonzulaufen. Stattdessen ducken sie sich noch mehr und geraten schließlich unter die scharfen Klingen. 

Wettlauf gegen die Zeit

Immer wieder trifft es auch junge Feldhasen, Wiesenbrüter und Katzen, wenn sich die Tiere instinktiv ducken. Die Wiese vor dem Mähen mit Hunden abzusuchen, würde bei sehr jungen Rehkitzen nur wenig Erfolg bringen. Weil diese noch keinen Eigengeruch besitzen, kann die ansonsten so feine Hundespürnase sie gar nicht erst riechen. In allen Fällen bleibt das Kitz ganz starr liegen. Das merken auch die Helfenden, wenn sie so ein Tier aus der Wiese holen. Es zappelt kaum und duckt sich im Wäschekorb direkt wieder. Die Drohnenmethode gilt daher als die sicherste Art, um die neugeborenen Tiere vor dem Tod zu retten.

Je älter die Rehkitze werden, desto ausgeprägter machen sie bei Rettungsmissionen auf sich aufmerksam. Obwohl sie noch nicht so schnell sind, um vor dem Traktor zu fliehen, versuchen sie zu entkommen, sobald sie von der Wiese getragen werden. Sie schreien nach ihrer Mutter und zappeln wild mit den Beinen. So stark, dass der Herzschlag unter dem zarten Körper der Tiere deutlich zu spüren ist, während sie von Helfenden mit beiden Händen fest umschlossen in Sicherheit gebracht werden. Würde das Team die Kitze direkt im Wald wieder freilassen, würden sie genau an den Platz zurückkehren, an dem die Ricke es abgelegt hat.

Gegen 19 Uhr tippt Sabrina Augenstein eine WhatsApp-Nachricht an die Gruppe des Vereins: „Wer kann morgen helfen?“ Manchmal melden sich drei Leute, manchmal auch niemand. „Wir würden die Termine gerne früher ausgeben, damit sich die Menschen, die uns unterstützen, auch darauf vorbereiten können. Leider erfahren wir aber oft erst spät abends, dass jemand mäht. Manchmal fällt die Entscheidung sehr spontan – je nach Wetterlage. Jeden Abend plant Sabrina Augenstein mit ihren beiden Kolleginnen Lisa und Jasmin den nächsten Tag. Alle drei besitzen eine Drohne und im besten Fall kommen auf jede Pilotin zwei Menschen, die helfen. Manchmal weiß das Trio schon morgens Bescheid, was grob am nächsten Tag ansteht. Meist bekommen sie aber erst gegen 20 Uhr konkrete Informationen. Bis dann tatsächlich alle Pläne stehen, ist es nicht selten Mitternacht.

Später als sechs Uhr morgens ist es nur selten, wenn sich die Aktiven treffen, eher früher. Für den Drohnenflug ist es wichtig, dass die Wiesen noch kalt sind. Nur so können die Frauen die Tiere über die Wärmebildkamera aufspüren. „Dunkle Erdhaufen heizen sich genauso schnell auf wie die Körper der Rehkitze. Die Wärmebildkamera kann das nicht unterscheiden. So geht wertvolle Zeit verloren, wenn wir jeden Haufen inspizieren müssen. Zumal die Batterien nur 20 bis maximal 40 Minuten halten“, beschreibt Sabrina Augenstein. Eine Drohne kostet zwischen 6 000 und 8 000 Euro, jeder zusätzliche Akku je nach Modell gut 200 Euro.

Gründlichkeit gefordert

In den meisten Fällen melden sich die Jagdbeauftragten direkt beim Verein. Sie stehen mit den Landwirtschafttreibenden in Kontakt und haben auch ein eigenes Interesse daran, dass ihr Bestand nicht durch solche Unfälle minimiert wird. Gesetzlich gibt es klare Regelungen, wer verantwortlich ist. Nach Paragraph 39 Absatz 1 des Bundesnaturschutzgesetzes „ist es verboten, wildlebende Tiere mutwillig zu beunruhigen oder ohne vernünftigen Grund zu verletzen oder zu töten. Die Mahd ist ohne Schutzmaßnahme für sich allein kein vernünftiger Grund ein Tier zu verletzen oder zu töten.“ Primär sind also Landwirtschafttreibende für das Absuchen ihres Landes verantwortlich. Diese Verantwortung übernehmen jedoch nicht viele.

Laut Schätzungen werden jährlich bis zu 500 000 Tiere Opfer von Mähmaschinen. Schuld daran sind falsche oder gar keine Maßnahmen, die das verhindern. Wird also billigend in Kauf genommen, bei der Mahd Tiere zu töten, gilt das als Verstoß gegen das Gesetz. Zum Thema Mähtod gab es bereits einige Gerichtsurteile. Diese reichen von Freispruch über Geldstrafen von 1 000 bis 4 200 Euro bis hin zur Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Meistens passiert allerdings nichts. Denn sobald ein Tier angefahren wurde, kommen die Krähen oder die Tiere werden direkt erschlagen. Sieht das niemand, bekommt es auch niemand mit.

Gegen Mittag packen Sabrina Augenstein und ihr Team die Drohnen zusammen. An diesem Tag konnten sie insgesamt fünf Rehkitze retten, eine Katze aus dem Feld jagen, einen Fuchs von oben auf seinem Streifzug beobachten und eine trächtige Geiß aus der Wiese vertreiben. Rehkitze retten, das kostet Kraft, Schlaf und Nerven. In Stoßzeiten täglich halb vier aufstehen, bis Mittags oder gar nachmittags fliegen, anschließend der Erwerbsarbeit nachgehen. Und es schwingt immer die Angst mit, trotz gründlichem Fliegen vielleicht doch etwas zu übersehen. „Ich habe oft Sorge, vor allem, wenn die Sonneneinstrahlung schon sehr stark oder im Juni das Altgras schon so hoch ist, dass es umkippt. Die Kitze liegen dann unter dem Gras und wir müssen sehr genau arbeiten, um nichts zu übersehen. Ich bitte die Menschen hier immer, uns nach dem Mähen kurz Bescheid zu geben, ob alles gepasst hat“, sagt Augenstein.

Obwohl die Frauen die Wiesen immer gründlich abfliegen, gab es doch einmal einen Unfall. „An dem Tag hatten wir sehr viele Einsätze. Zum Ende hin war die Sonneneinstrahlung schon so stark, dass sich das Kitz auf dem Wärmebild nicht mehr von der warmen Wiese abhob. Es ist furchtbar, so eine Nachricht zu bekommen, aber wir wissen auch, dass wir im Mai und Juni alles tun, um so viele Rehkitze wie nur möglich vor dem Mähtod zu retten.“

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