Text: Ulrike Polster — Fotos: Alexander Peitz
23.09 Uhr: Hämmernde Beats empfangen mich, als ich aus dem Auto steige. Hier, abgelegen im Dresdner Industriegelände, reiht sich ein Club an den anderen. Sie übertönen einander mit wummernden Bässen, die sie in die Nacht schicken. Und sie locken wie die Sirenen in der altgriechischen Mythologie feierwütige Menschen mit ihrem Wunsch nach Tanz, Ekstase und Vergnügen. Ich bin auf dem Weg zur „Rawmantique“, einer sexpositiven Party. Was mich dort erwartet, weiß ich nicht. Die Ankündigungen auf Facebook und Instagram waren recht vage.
Ich weiß, dass es ein Line-Up von DJs aus ganz Europa gibt. Und einen Dresscode. „Keine Alltagskleidung“, stattdessen ein Outfit, das die Experimentierfreude der Individuen, die sich hier zusammenfinden, spiegeln soll: nicht normativ, kreativ, frei. Ich ziehe mir fröstelnd den Mantel enger an den Körper. „Kind, zieh dir was Ordentliches an“, würde meine Mutter sagen.
Es ist Ende Oktober, das Thermometer zeigt weniger als zehn Grad und es weht ein eisiger Wind, doch unter meinem Herbstmantel trage ich nicht mehr als eine Netzstrumpfhose und einen schwarzen, eng anliegenden Body. Darüber eine kurze, glitzernde Bluse, die aus dem Zirkusfundus sein könnte. Ich fühle mich verkleidet – und empfinde das heute als durchaus positiv. Mit meiner Alltagsjeans und den bequemen Turnschuhen kann ich auch mein alltägliches Ich ablegen. Ich bin bereit für diesen Abend, will schillern, feiern, ausprobieren.
„Ist das sowas wie ein Swingerclub?“, wollte eine Freundin wissen, als ich ihr von meinen Wochenendplänen berichtete. Nein, ist es nicht. Und eigentlich ist „Sex-Party“ auch nicht der passende Begriff, schließlich geht es bei dem Format nicht primär um sexuelle Handlungen, sondern vor allem um Aufgeschlossenheit und Freude an allem, was nicht heteronormativ ist.
Dem Alltäglichen entfliehen
„Das, was wir hier machen, ist höchst politisch“, erklärt mir Rakan Suleiman beim Warten in der langen Schlange, die sich vor dem Club gebildet hat. Suleiman hat das Rawmantique-Kollektiv zum Leben erweckt. „Hier kommen Menschen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein können: Herkunft, Alter, Aussehen, Sexualität – auf der Tanzfläche sind wir alle vereint.“ Er erzählt von den Anfängen: in seiner Privatwohnung in der Dresdner Neustadt, dem Szene- und Partyviertel der sächsischen Landeshauptstadt.
„Ich fand die Idee spannend, meine Familie, all meine befreundeten Menschen und Bekannten zusammenzubringen“, erinnert sich Suleiman. „Da waren diejenigen, die konservativ waren; dann Menschen, die wie ich geflüchtet sind und die hier in Deutschland erstmals erfuhren, dass sie ihre sexuelle Identität offen leben dürfen. Und dann waren da meine homosexuellen und queeren Friends, die schon länger in der Szene waren. So unterschiedliche Menschen, einzigartig in ihrem Sein – und alle schön in ihrer Blase.“
Suleiman suchte nach einem Weg, all diese Menschen zum Austausch zu bewegen. Und wo ginge das besser als auf der Tanzfläche? Also räumte der DJ seine Wohnung leer, installierte Lichttechnik und Dekoration. „Meine Wohnung wurde zum Club. Die Menschen kamen in schönsten Kostümen, konnten sich zeigen. Sie hatten einen sicheren Raum, in dem sie sein durften, wie sie sind. Sie tanzten, redeten, lernten. Und sie liebten das Konzept.“
Es folgten weitere, kleinere Partys – und die sprachen sich rum. Andere wollten unterstützen oder dort auflegen. Im Februar 2020 kam der Durchbruch und Suleiman lud mit seiner Party zum ersten Mal in einen Dresdner Szeneclub ein, ganz offiziell. Mehr als 1 000 Menschen besuchten die Veranstaltung. Viele seien aus anderen Städten angereist, sagt er. „Und da habe ich begriffen: cis Frauen, Homosexuelle, People of Color, Geflüchtete, die queere Community: Alle sehnen sich nach einem Safe Space. Und nach einer Auszeit vom Alltag.“
Outfit als Eintrittskarte
Die Schlange vor uns schrumpft. Bei der Frage, wem Zutritt gewährt wird und wem nicht, geht es auch ums Outfit, denn darüber wird Atmosphäre geschaffen und es zeigt, wie offen sich die Gäste gegenüber anderen zeigen. Doch bin ich queer genug für diese Party? Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich kürzlich gelesen hatte: „Gate Keeping“ wird in der Clubszene gerade groß diskutiert. Da war von asexuellen und trans Personen die Rede, die keinen Zutritt zu queeren Partys bekamen. Rakan Suleiman distanziert sich davon: „Ich habe gar kein Recht darüber zu urteilen, ob jemand ‚queer genug‘ für eine Rawmantique ist oder nicht. Ich und das Team vertrauen auf unser Bauchgefühl. Wenn du sagst, du passt hierher, dann bist du richtig.“
Der Türsteher winkt mich zwinkernd durch und ich bin erleichtert. Kasse, Garderobe, erstmal orientieren. Der lange, schmale Flur mit seinen Ziegelsteinwänden ist in orangefarbenes Licht getaucht. An der Wand stehen dunkle Ledersofas. Etwas abgesessen, trotzdem gemütlich. Aber noch leer. Die Dekoration im Vorraum wirkt auf mich provisorisch. Bloß nicht zu viel: raw, roh. Das passt. An den Wänden sind Fotos mit Klebestreifen angebracht: darauf zu sehen sind verschlungene Gliedmaßen, viel nackte Haut. Manchmal weiß ich nicht so recht, welchen Teil des menschlichen Körpers ich da gerade betrachte. Ist aber auch egal.
Ich lasse mich weitertreiben von den Menschen, die von draußen zur Tanzfläche drängen. Ich werde regelrecht eingesogen von der feiernden Menge – und versuche, mich an den Rand zu stellen, will beobachten, was hier passiert: enge Lederhosen, kurze Kleider, Brustwarzen, die mit schwarzem Tape abgeklebt sind. Ich konzentriere mich darauf, der nackten Haut dieser fremden Menschen auszuweichen. Völlig sinnlos, wie ich feststelle. Berührt zu werden und berühren, das gehört hier, wie in jedem Club, dazu. Nur mit weniger Stoff dazwischen.
Von Freiheiten und Grenzen
Ich merke, wie ich langsam entspannter werde. Die Musik ist laut und sie hüllt mich ein mit ihrem Rhythmus, der dem Schlagen eines Herzens gleicht. Der DJ, der eigens für die Party aus Russland angereist ist, schwitzt, als stünde er schon Stunden am Pult. Ich habe selten eine Party erlebt, bei der die Menschen schon beim Eintritt in den Club so viel Lust auf Tanzen und Feiern hatten. Es ist ansteckend. Die Musik zerrt an meinen Beinen, die Bewegungen fließen von allein. Um mich herum Körper, glitzernde Gesichter, warme Augen.
Eine große Person kommt auf mich zu, die Brüste eng in ein Korsett geschnürt. Um den Hals trägt sie ein Lederband, daran an eine Leine, die von ihrer Begleitung gehalten wird. „Nices Outfit“, schreit sie mir lachend ins Ohr und deutet auf den Fascinator, den ich auf dem Kopf trage. Ich lächle zurück. Wir tauschen uns ein bisschen aus, soweit das eben möglich ist bei lauter Musik. Sie kommt aus Südamerika, ist noch nicht lange in Dresden. Und sie mag es, an der Leine geführt zu werden. Ihre Freundin hält mir das lederne Seil entgegen, fragt, ob ich auch mal will. Nächstes Mal bestimmt, denke ich und schüttle den Kopf. Sie verabschieden sich mit einer Umarmung und lassen mich dankbar zurück.
Dankbar? Ja, dankbar. Dafür, dass sie sich mir gezeigt hat, wie sie ist. Dafür, dass sie mir ein Kompliment gemacht hat für das, was ich heute Abend bin. Und dankbar dafür, dass sie das Vertrauen hatte, mich zu fragen, ob ich sie an der Leine führen will. Dankbar, dass ich eine Grenze ziehen und „Nein“ sagen durfte, ohne dass sie es mir übel nimmt.
Rakan Suleiman wird mir später berichten, dass er dieselbe Person später in der Nacht an der Leine auf die Tanzfläche gezogen hat. „Das war auch für mich neu“, wird er sagen, fast schon aufgeregt. „Consent“, das gegenseitige Einverständnis also, sei auf sexpositiven Partys ein entscheidendes Merkmal, das innerhalb der Community auch immer wieder betont wird. „Nur weil wir Menschen die Möglichkeit bieten, sich sexuell frei zu fühlen, ist das nicht allein aufs Körperliche fixiert.“ Es könne alles ausprobiert werden, solange vorher gefragt werde und gegenseitige Zustimmung herrsche. Was geschieht, sei von Party zu Party unterschiedlich.
Schönheit und Authentizität
Rakan Suleiman sieht die Rawmantique als eine Art Spielplatz für Erwachsene: „Wer bin ich? Was gefällt mir? Was mag ich nicht?“ All diese Fragen würden dazu beitragen, sich selbst zu erkennen und daran zu wachsen. Es brauche nur den nötigen Mut, sich darauf einzulassen – und manchmal läge das Experiment allein darin, sich abzugrenzen und „Nein“ zu sagen.
Ermutigt durch seine Worte schiebe ich mich durch die tanzende Menschenmasse hinein in den Dark Room, gleich neben der Bar. Nur die zuckenden Blitze von der Tanzfläche lassen erahnen, was hier vor sich geht. In einer Ecke höre ich zwei Menschen tuscheln und lachen. Ich setze mich ihnen gegenüber, warte. Ich genieße die Auszeit vom Tanzen und versuche neugierig auszumachen, was auf den Sofas passiert. Küssen? Fummeln? Noch mehr?
Zurück auf der Tanzfläche fällt mein Blick auf eine Person, die in der Menge steht und sich suchend umsieht. Sie ist groß, muskulös und trägt ein hautenges Oberteil mit Leopardenprint. Der Ausschnitt am Rücken reicht fast bis zum Po. Das Gesicht glitzert im Scheinwerferlicht. Und sie ist besser geschminkt als ich es je sein könnte: blauer Lidschatten, leuchtend rote Lippen, perfekt gezogene Augenbrauen. Glitter überall. „Menschen zeigen sich bei uns so, wie sie sind und wie sein wollen: Manche wurden in ihrer Vergangenheit dafür diskriminiert. Viele gehören marginalisierten Gruppen an und tragen noch immer Verletzungen in sich“, erinnere ich mich an Suleimans Worte.
Die Person im Leopardenoberteil entdeckt schließlich einen befreundeten Menschen. Sie begrüßen sich mit einer langen Umarmung und einem Kuss auf die Wange. Sie stoßen an und geben sich dann ganz der Musik hin. Die Verletzlichkeit ist verschwunden, ich sehe nur noch Hingabe und Freude. Hier sind alle, wer sie sind, werden geliebt, dürfen sein. Ich bin gerührt von der Authentizität und von der Schönheit der Situation. Beglückt von diesen kleinen Momenten, die wir in Gemeinschaft eine Nacht lang miteinander geteilt haben, gehe ich nach Hause. Mindestens eine Erfahrung reicher, ganz frei ums Herz.
Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.