Go, Görli — Francis Böhm

Das feministische*forum steht für eine solidarische Utopie im sächsischen Görlitz. Francis Böhm ist schon seit 2016 dabei und weiß um die Schwierigkeiten weit im Osten des Landes und in einer Gesellschaft, die immer weiter nach rechts rückt.
10. April 2025
7 Minuten Lesezeit
Text: Selina Hellfritsch — Fotos: Hanna Thrul

„Alerta, Alerta, Antifascista“ schallt es durch die Innenstadt im sächsischen Görlitz. Hier, ganz weit im Osten des Landes trifft AfD-Hochburg auf pittoreske Hollywood-Kulisse. An diesem Tag aber ist die Stimmung eine andere. Gut ein Dutzend Menschen versammeln sich hinter einem neonfarbenen Transparent, auf dem es heißt: „Free Lina, Free Maja, Free Zaid, Free all Antifas!“ Rauch hängt in der Luft, rote Flaggen werden geschwenkt, bedruckt mit einer kämpferischen Faust, umrahmt von der weiblichen Glyphe. Alle posieren mit farbigen Sturmmasken. Und die Teilnehmenden der Demo stoßen mit Sekt an, umarmen sich innig: Feierstimmung.

Es ist der 8. März, feministischer Kampftag. Zum ersten Mal findet zu diesem Anlass in Görlitz eine Demonstration statt. Um die 400 Menschen sind gekommen: aus der Stadt, der ganzen Region, auch aus Dresden und Leipzig. Hätten in der Vergangenheit zwar Workshops und Soli-Veranstaltungen stattgefunden, so sei es doch etwas Besonderes, den Aktionstag mit vielen anderen Menschen auf die Straße zu tragen, beschreibt Francis Böhm.

Grund für das Zusammenkommen ist das feministische*forum. Ein Kollektiv, das 2016 aus der Idee heraus entstanden ist, dass Frauen einander unterstützen. Über die Jahre ist es weiter gewachsen und bietet mittlerweile Workshops und intersektionale Bildungsarbeit an. In den Räumlichkeiten des Forums, an dem sich auch die Demonstrierenden versammeln, wurde ein Anlaufpunkt für FLINTA* geschaffen. Francis Böhm ist von Beginn an Teil des Kollektivs und sagt: „Es ist schön zu sehen, dass sich Menschen außerhalb unseres Kollektivs solidarisieren und mit der Grundidee des Feminismus übereinstimmen.“

Ein loser Zusammenschluss von FLINTA* und anderen Aktiven hat die Demonstration mit dem feministischen*forum organisiert. „Die politische Stimmung der letzten Wochen und Monate hat dazu geführt, dass wir Bock hatten, auf die Straße zu gehen und laut zu sein“, meint Jara. Sie gehört zum Organisationsteam. Aus Sicherheitsgründen möchte sie weder mit Klarnamen noch mit Bild gezeigt werden. Auch die Teilnehmenden der Demo tragen Caps, Perücken oder große Sonnenbrillen. Nicht unbedingt wegen des frühlingshaften Wetters, sondern vor allem als Vorsichtsmaßnahme, um nicht von Neonazis fotografiert oder erkannt zu werden.

Rechte sind präsent

Görlitz liegt direkt an der Grenze zu Polen und ist nur durch die Lausitzer Neiße von der Stadt Zgorzelec getrennt. Bekannt ist Deutschlands östlichste Stadt für ihre Jugendstil-Bauten und als Filmkulisse in mehreren Hollywood-Produktionen. Das führte auch eine Demo-Teilnehmerin hierher, die im Familienurlaub mit den Eltern Europas Baugeschichte kennenlernen wollte. Am 8. März in Görlitz auf die Straße zu gehen, sei eine schöne Überraschung gewesen.

Gar nicht mal so selbstverständlich in einer Stadt, die seit Bestehen der AfD zur Hochburg der in Teilen rechtsextremen Partei geworden ist. Ihr Vorsitzender Tino Chrupalla errang mit bald 50 Prozent der Stimmen das Direktmandat bei der Bundestagswahl. Ein anderes prominentes Rechtsaußen-Gesicht der Stadt ist Finley P. Der Anführer der gewaltbereiten Neonazi-Gruppe „Elblandrevolte“ sitzt derzeit in U-Haft, weil er im Dezember 2024 an einem tätlichen Angriff in Görlitz beteiligt gewesen sein soll.

„Montags überlege ich mir zweimal, wie und wohin ich alleine gehe“, erzählt Francis Böhm. Die Rede ist von den Montagsdemonstrationen, die seit der Corona-Pandemie neu aufgelebt sind. Waren sie zum Ende der DDR ein Zeichen der Friedlichen Revolution, gegen die Diktatur und für freie Wahlen, so werden sie inzwischen von der Neuen Rechten vereinnahmt. 

Auch die AfD titelte zur Bundestagswahl auf ihren Plakaten: „Vollende die Wende“, „Wende 2.0“, „Wir sind das Volk“. Die populistische Strategie sei dabei genauso offensichtlich wie das damit verbundene Ziel, sagt Böhm: die einstige DDR-Bevölkerung und Menschen aus Ostdeutschland davon überzeugen, dass die AfD die sozialen Ungerechtigkeiten der Wendejahre bekämpfe.

Die Realität allerdings sei eine andere: „In den letzten Monaten können wir eine starke rechte Raumnahme beobachten. Insbesondere Jugendliche radikalisieren sich immer weiter, laufen vermummt durch die Straßen und patrouillieren“, berichtet Francis Böhm. Die Landtagswahlen 2024 in Sachsen bestätigen: Ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen wählt die AfD und damit rechts bis rechtsextrem. Gleichzeitig erreichten rechtsextreme Straftaten einen Höchststand.

Sich Räume erobern

 „Es gibt Hardcore-Faschos, die massiv gewaltbereit sind. Da wirst du nicht nur angepöbelt, sondern es kann auch sein, dass sie Pyrotechnik nach dir werfen“, weiß Francis Böhm. Auch Mitglieder des feministischen*forums erlebten mehrfach bedrohliche Situationen. An einem Abend wollte Francis Böhm noch die letzten Sonnenstrahlen in der Stadt genießen, als eine Gruppe Neonazis aufkreuzte und Francis Böhm einkesselte. Der Ort des Vorfalls: die Berliner Straße, die vom Bahnhof ins Görlitzer Zentrum führt und ein beliebter Treffpunkt ist, zudem immer Teil der Route der Montagsdemonstrationen. Die Polizei war vor Ort und versuchte die gewaltbereite Gruppe aufzulösen. „Vor dieser Situation habe ich noch nie erlebt, dass rechte Gewalt so nahekommt. Ich hatte Angst, dass ich da nicht mehr rauskommen würde.“ 

Die Demonstration am 8. März hingegen geht ohne große Zwischenfälle über die Bühne. Die 400 Teilnehmenden folgen dem Lautsprecherwagen, der abwechselnd queerfeministische Musik spielt und kraftvolle Reden ins Publikum überträgt. So spricht eine Person über die Bedeutung von FLINTA*-Freundschaften. Eine Aktivistin aus Polen thematisiert das fehlende Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in beiden Ländern. Und die „Omas gegen Rechts“ erzählen vom Freiheitskampf über Generationen.

So divers wie die Wortbeiträge sind auch die Teilnehmenden der Demo. „Wir haben positives Feedback von allen Seiten bekommen“, sagt Jara. „Es ist nicht selbstverständlich, dass wir auf öffentlichen Plätzen mit einer großen Gruppe an queeren, feministischen, antifaschistischen Leuten abhängen können.“ 

„Es spielt eine immer größere Rolle, wie eine Person wahrgenommen wird“, sagt Francis Böhm, „besonders im öffentlichen Raum.“ Böhm trägt eine bunte Windjacke, kurze Haare, Cap und an der Bauchtasche hängen Buttons mit feministischer Faust, Regenbogenfahne, Antifa-Zeichen. Das alles könne in Görlitz auch schnell gefährlich werden. Gleichzeitig kämpfe das Kollektiv um genau das: Sichtbarkeit, Raum und Akzeptanz.

Die Räume des Forums werden dabei besonders wertgeschätzt. Und erst Anfang des Jahres ist das Kollektiv auf die Hospitalstraße gezogen, die fußläufig vom Bahnhof aus erreichbar ist. „Davor waren wir etwas versteckt, was uns vielleicht auch zugutekam. Mit der neuen Adresse haben wir den Vorteil, eine zentrale Anlaufstelle für alle Interessierten zu sein“, erklärt Francis Böhm und erzählt von Menschen, die bereits neugierig hereingekommen seien.

Proteste gegen CSD

Nach der Demonstration versammeln sich hier auch das Orga-Team und die Teilnehmenden der Demo. Menschen wuseln durcheinander, teilen sich Kuchen, stoßen mit Sekt oder Kaffee an und unterhalten sich angeregt über den Tag, während Kinder im Garten spielen. Francis Böhm geht durch die Menge, bleibt immer wieder stehen, unterhält sich, lacht. „Am Anfang wollten wir unter uns bleiben, haben einen Safer Space für FLINTA* geschaffen“, meint Böhm. „Jetzt haben wir uns entschieden, sichtbarer zu werden. Als queerfeministisches Kollektiv haben wir eine starke Basis und sind auch für Gegenwind gewappnet.“ Sie wollen Austausch und Begegnung schaffen, aber vor allem einen niederschwelligen Zugang ermöglichen.

Doch für all diese Angebote, Räume und Organisation braucht es Geld. Das ständige Bangen um Fördermittel, der Kampf mit der Bürokratie und die Unsicherheiten sind dauernd präsent. Das feministische*forum läuft unter der Trägerschaft des Vereins Filmclub von der Rolle 94, der ursprünglich nur ein Konzeptkino betrieb. Francis Böhm ist dort für die Leitung und das Programm zuständig. Im letzten Jahr wurde dann noch kurzfristig die Trägerschaft für den CSD Görlitz-Zgorzelec übernommen, dessen Fortbestehen auf der Kippe stand.

Ein wichtiges Zeichen, bemerkt Böhm, gerade bei der jüngsten Welle an Anti-CSD-Protesten. Rechtsextreme Gruppen mobilisierten im letzten Sommer 460 Gegendemonstrierende nach Görlitz. Nicht wenig im Vergleich zu den 700 CSD-Teilnehmenden, die auch Unterstützung aus der Umgebung bekamen. Es werde immer wichtiger, sich klar gegen den voranschreitenden Rechtsruck zu stellen und Solidarität zu zeigen. 

„Von der Stadt bekommen wir schon seit Jahren kein Geld mehr. Unsere Fördermittel kommen vor allem vom Land“, beschreibt Böhm. In einer angespannten politischen Lage mit ständigen Kürzungsplänen, gebe es daher wenig Grund für Optimismus. Eine staatlich unabhängige und vor allem unkomplizierte Finanzierung werde immer wichtiger.

Wenn das Geld fehlt

Das hat auch das spendenfinanzierte Netzwerk Polylux erkannt und unterstützt mittlerweile seit 2019 Vereine, Initiativen und Projekte der Zivilgesellschaft im Osten – unter anderem das feministische*forum und die Demo zum Feministischen Kampftag. „Um es ganz klar zu sagen: Gegen den Rechtsruck hilft vor allem Geld. Das macht den großen Unterschied. Entweder wir können unsere Strukturen aufbauen und halten oder wir können es nicht“, so Francis Böhm.

Das sei zwar verkürzt dargestellt und kapitalistisch gedacht, doch am Ende sei es eben das, was wirklich helfe. Auf die Frage, ob Netzwerke wie Polylux ausbleibende staatliche Gelder ersetzen können, antwortet Francis: „Ich glaube nicht. Aber ganz ehrlich, ich liebe sie dafür, dass sie es versuchen, genauso wie die Amadeu Antonio Stiftung.“

In Sachsen gilt das feministische*forum heute als Leuchtturm. Über fast zehn Jahre und mit hartnäckiger und kontinuierlicher Arbeit habe das Kollektiv Strukturen geschaffen, die stabil wirken. „Wir beraten auch kleinere Initiativen und queere Gruppen in ganz Sachsen, vor allem im ländlichen Raum“, sagt Francis Böhm. Gemeinsam wollen sie Wissen weitergeben und mehr Menschen dazu ermutigen, aktivistisch tätig zu sein. „Mein erster Tipp: Fangt einfach an, auch wenn ihr es am Anfang nur für euch macht. Und überlegt, an welche bestehenden Strukturen ihr euch hängen könnt.“ Erstmal kleine Brötchen backen, fasst Böhm zusammen. „Ich finde es spannend, besonders in kleinen Gemeinschafen und Systemen Dinge anders zu denken und zu machen. Mit Basisdemokratie kommen wir unserer Utopie von Gesellschaft näher.“

Francis Böhm lächelt auffällig und lässt den Blick über die Menschen im Hinterhof schweifen. Denn manchmal werde Utopie ganz unerwartet lebendig. Über die letzten Jahre hinweg zum Beispiel hätten sich FLINTA* durch ihren Einsatz beim feministischen*forum weiterentwickelt, ermächtigt und mit anderen solidarisiert. Auch wenn sie heute nicht mehr in Görlitz lebten, so würden sie nun diese Einstellung in sich tragen und sich an anderer Stelle engagieren.

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