Flagge zeigen — Marcel Spittel

Die Regenbogenfahne am Bahnhof hat der Stadtrat in Neubrandenburg verboten, der Oberbürgermeister erklärte daraufhin seinen Rücktritt. Was bedeutet das für die queere Szene in der Stadt? Ein Besuch bei CSD-Organisator Marcel Spittel.
5. November 2024
7 Minuten Lesezeit
Text: Juli Katz — Fotos: Martin Pauer

Oktober 2024: Die Mehrheit der Neubrandenburger Stadtvertretung entscheidet, dass am Bahnhof keine Regenbogenflagge mehr hängen darf. Der Antrag kommt von einem Vertreter der „Stabilen Bürger für Neubrandenburg“ und wird mit den Stimmen von AfD, BSW und einem freien Wahlbündnis durchgesetzt. Die offizielle Begründung: Es habe Straftaten gegeben. Die Flagge ist tatsächlich schon mehrfach gestohlen worden. Fakt ist aber auch: Der besagte Vertreter hat sich im Vorfeld in den sozialen Netzwerken offen queerfeindlich positioniert.

Einen Tag später verkündet der parteilose Oberbürgermeister Silvio Witt seinen Rücktritt für Mai 2025. Er lebt offen homosexuell und wolle mit dieser Entscheidung sein privates Umfeld schützen. Es gehe nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um persönliche Dinge, erklärte er öffentlich. Der Tumult um die Entscheidung im Stadtrat und den Rücktritt ist groß. Es folgen eine Mahnwache vor dem Bahnhof und eine Demonstration für queere Sichtbarkeit.

Marcel Spittel ist einer der Köpfe dahinter. 50 Teilnehmende hatte er zuerst angemeldet, dann auf 200 bis open end erhöht. Letztlich kamen 1 300 Menschen. Über Neubrandenburg und die verbotene Regenbogenflagge wurde überregional berichtet – so wie ein paar Wochen zuvor schon über rechtsextreme Störaktionen beim CSD in Bautzen und über Bedrohungen in Pirna.

Kampf um Repräsentanz

Heute kommt Spittel auf seinem Fahrrad das Kopfsteinpflaster an der Neubrandenburger Stadtmauer entlang gefahren. Trotz aller Geschehnisse der letzten Tage fröhlich lächelnd. Er steigt vom Rad, steckt seinen Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür zum Queeren Zentrum.

Auf gleich drei Etagen in einem Fachwerkhaus – mitten in der historischen Stadtmauer – hat der von Spittel mitgegründete Verein queerNB seine Räume, die vielen Menschen in der Stadt Sicherheit bieten. Hier gibt es Frauencafés, Spieleabende, Buchclubs – und Menschen finden die Möglichkeit, sich zu begegnen und ein Wir-Gefühl wachsen zu lassen, wo sonst Repräsentanz fehlt. „Hier“, sagt Spittel, „darf die Regenbogenflagge noch hängen.“

Spittel kommt aus Thüringen, wurde 1989 in Erfurt geboren, hat in Jena studiert und ist seit 2017 in Mecklenburg – gekommen ist er auch deswegen, weil sein damaliger Partner und jetziger Mann gebürtiger Neubrandenburger ist und zurück in seine Heimat wollte.

Seitdem engagiert sich Spittel vor Ort. Queersein bedeutet für ihn die Anerkennung von Lebensrealitäten, die nicht der heteronormativen Norm, dem klassischen Geschlechterbild entsprechen. Für Personen, die sich nicht als Mann oder Frau definieren. Für Menschen, die nicht in einer vermeintlich klassischen Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind, leben. Queere Menschen eben. Und für diese setzt er sich ein. Mit Infoständen, mit Räumen und genauso auf den Straßen Neubrandenburgs. 

CSD in Neubrandenburg

Spittel sitzt in der Bibliothek des Vereins: umringt von Büchern, die sich mit queeren Themen beschäftigen. Keine Frage bringt ihn aus der Fassung, er wirkt aufgeräumt, fokussiert. Geht der Stift kaputt, springt er auf und organisiert einen neuen, während er weitererzählt, wieso er eben nicht nach Hamburg, Berlin oder Leipzig gegangen ist – Städte, in denen Strukturen, Engagement und Sichtbarkeit für queeres Leben nicht erst noch mühsam aufgebaut werden müssen. „Weil es wichtig ist, dorthin zu gehen, wo Lücken zu füllen sind.“

Neubrandenburg ist so ein Ort. Knapp 65 000 Menschen leben in Mecklenburg-Vorpommerns drittgrößter Stadt nahe der Seenplatte. Es gibt eine historische Altstadt, eine Hochschule, ein Shoppingcenter und ein Naherholungsgebiet am Tollensesee. Aber eins fehlte: „notwendige Strukturen und Treffpunkte für die queere Szene“. Also wurde Marcel Spittel selbst aktiv.

2017 rief er über Facebook zum ersten queeren Stammtisch Neubrandenburgs auf. Erst sei eine Handvoll Leute gekommen, dann der Wunsch nach monatlichen Treffen gewachsen. Aus diesen Zusammenkünften entstanden neue Ideen – und als Spittel ein Jahr später bei einer Zukunftswerkstatt teilnahm, war klar: Er und andere Engagierte wollen einen queeren Verein gründen und den Christopher Street Day nach Neubrandenburg holen. Beides gelang: 2019 fand der erste CSD in Neubrandenburg mit über 400 Teilnehmenden statt. 

Symbole und Solidarität

Parallel gründete Spittel queerNB. Der Verein zählt heute 60 Mitglieder und bietet Menschen jeglicher sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität einen sicheren Raum zur Entfaltung. Er bringt sich ein, um Zusammenhalt zu schaffen und Realitäten zu verändern, erklärt Spittel. „Wenn mir etwas nicht passt, muss ich es hinnehmen oder verändern.“

Spittels Motivation scheint nicht aus dem Schmerz zu kommen, auch nicht aus Wut, Trauer oder Trotz – vielmehr ist er überzeugt, dass er seine eigene Privilegiertheit nutzen möchte, um anderen zu helfen. Seine einzige Angriffsfläche sei, dass er schwul ist, sagt er selbst. Und genau deswegen, also weil es ihm gut gehe, sehe er sich in der Verantwortung, dafür einzutreten, dass es auch anderen besser gehe. „Die Privilegien, die ich habe, möchte ich nutzen. Und ganz ehrlich: Wenn Menschen aufhören und weggehen, wird es nicht besser.“

Und das Verbot der Regenbogenflagge am Bahnhof symbolisiere für ihn das Gegenteil einer progressiven Stadt. Für ihn und die Community sei das Symbol und die Solidarisierung nach außen wichtig, weil queere Menschen in Neubrandenburg längst nicht so repräsentiert seien wie im Durchschnitt der Bevölkerung. „Es ist ein Bekenntnis der Stadt, um zu sagen: Hier bist du willkommen, hier darfst du sein, wie du bist.“ 

Bedrohung und Angriffe

Gerade junge Menschen würden dieses Signal brauchen, meint Spittel und erklärt, er habe weniger ein Problem damit, wenn junge Menschen in Großstädte abwandern, weil sie dort bessere Jobs oder mehr Kultur- und Freizeitangebote suchen. Traurig aber wird er, wenn es daran liegt, dass ihr Leidensdruck in Neubrandenburg zu hoch sei. Deshalb brauche es mehr Symbolaktionen. Zwingend sei aber auch ein ehrliches Engagement, um Minderheiten und queere Personen aktiv zu schützen.

Wie wichtig dieser Schutz ist, hat Spittel bereits selbst erfahren. Nach einer Demonstration 2019 wurde er von zwei Männern verfolgt. Einer hatte eine Bierflasche nach ihm geworfen, die ihn knapp verfehlte. Weil Spittel zwei Regenbogenfahnen bei sich trug – und der Haupttäter wegen politischer Delikte bekannt war –, ging die Polizei von einer politisch motivierten Tat aus. Er habe nach dieser Erfahrung Probleme gehabt, allein im Dunkeln unterwegs zu sein, erzählt Spittel. Mittlerweile habe sich diese Angst aber gelegt. „Nie habe ich daran gedacht, mich einzuigeln. Mir war klar, dass der Fall an die Öffentlichkeit muss, um aufzuklären.“

Wie in anderen Ost-Bundesländern auch, mehren sich die Attacken gegen queere Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Erst im September 2024 gab es einen Brandanschlag auf das in der Szene beliebte Lokal „B Sieben“ in Rostock – die Angreifenden: mutmaßlich rechtsextrem. 

Plötzlicher Rechtsruck?

Im selben Monat wurde eine Sitzung im Schweriner Landtag abgebrochen, weil die queer- und transfeindlichen Äußerungen der AfD nicht tragbar waren. Ein AfD-Abgeordneter war sich nicht zu schade, queere Menschen in die Nähe der Pädokriminalität zu rücken. In Neubrandenburg tauschten Unbekannte außerdem über Nacht eine Pride-Flag gegen eine Hakenkreuzflagge.

Spittel wirkt nicht besonders verwundert, wenn er auf die rechte Szene angesprochen wird. Er ist Neonazis häufig bei Demonstrationen begegnet. Die Idee des plötzlichen Rechtsrucks hält er für falsch: „Es ist nicht so, als ob plötzlich ein Raumschiff ankommt und plötzlich 100 Neonazis aussteigen. Die waren schon vorher da.“ Trotzdem sei ihm vor allem in den letzten Jahren aufgefallen, dass die Rechten weniger den Schutz der Dunkelheit suchten, um ihr Werk zu verrichten. „Mittlerweile machen sie das eben auch in der Stadtvertretung.“

Gerade deswegen trifft ihn der angekündigte Rücktritt des Oberbürgermeisters Silvio Witt. Er sei für ihn immer ein Vorbild gewesen: „Für mich hat er den Entwurf einer lebenswerten Stadt gezeichnet“, sagt Spittel heute. Das neu entstandene Bild sei genau das Gegenteil, erklärt er. Zwar habe sich der Oberbürgermeister an die Seite der Community gestellt und zum Beispiel auch den CSD als Schirmherr unterstützt. Andererseits, das bemerkt Spittel auch, geht es vor allem darum, Vielfalt in einer Stadt erstmal herzustellen. 

Freiheit wird beschränkt

Damit das gelingen kann, reicht das Engagement einer einzigen Person oder eines einzigen Vereins nicht aus. Spittel wünscht sich, dass mehr Menschen sich positionieren, ihre Stimme erheben und sich einbringen, dass sie nach Möglichkeit spenden, dass die Stadtvertretung ihr Handeln reflektiert – und dass sich auch die politisch Entscheidenden einsetzen und neue Narrative entwickeln, um rechten Kräften nicht das Feld zu überlassen.

Spittel habe zuletzt selbst eine Geschichte erlebt, die ihn mitgenommen hat. Die Geschichte von einer jungen queeren Person, die vor wenigen Tagen nach der Demo auf ihrem Heimweg massiv bedrängt wurde. Am Marktplatz wurde sie mutmaßlich von Neonazis gestoppt. „Sie nahmen die Regenbogenflagge an sich und zündeten sie an“, erzählt Spittel. „Als wir später miteinander gesprochen haben, hat die betroffene Person erklärt: ,Mir ist ja nichts passiert, aber ich hätte vielleicht auf dich hören und nicht alleine gehen sollen.‘“

Was zunächst harmlos klingt, seien kaum merkliche Grenzverschiebungen, unterstreicht Spittel. Es seien aber Schlüsselmomente, in denen Menschen ihr Verhalten ändern und sich plötzlich weniger frei bewegen. „Das ist das Gefährliche: In dem Bereich, wo Straftaten noch nicht anfangen, passieren dennoch Verletzungen und Übergriffe. Sie können dazu führen, dass Menschen sich aus bestimmten Räumen zurückziehen. Und das ist bedrohlich.“ 

Positive Bilder schaffen

Zwischen 2020 bis 2022 wurden in Mecklenburg-Vorpommern rund 40 Straftaten in Bezug auf sexuelle Orientierung“ und „geschlechtsbezogene Diversität“ registriert. Einer Schätzung des Ministeriums für Soziales, Integration und Gleichstellung Mecklenburg-Vorpommern zufolge bringt nur jede vierte betroffene Person erlebte Straftaten auch zur Anzeige. 

„Als Erwachsene müssen wir Haltung zeigen und auch Räume schaffen, damit sich Menschen gesehen und wertgeschätzt fühlen. Das ist aber nur gesamtgesellschaftlich zu lösen, weil wir wissen, dass es bei Minderheiten höhere Depressions- und Suizidraten gibt“, sagt Spittel. Für seinen Verein bedeute das, nach außen zu treten, sichtbar zu sein, positive Lebensentwürfe zu zeigen, Rollenbilder zu finden und Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen.

In Neubrandenburg hat Marcel Spittel einen Ort für queere Menschen geschaffen, der vorher fehlte – nicht nur räumlich, sondern auch ideell. Die Situation jedoch bleibt angespannt, das Klima vergiftet. Ein paar Tage nach dem Treffen wird die Flagge vor der Vereinstür geklaut, der Mast beschädigt. Einschüchtern lässt Spittel von all dem nicht: „Wir haben schon einen neuen Masten bestellt. Sobald der da ist, wird wieder die Flagge gehisst.“

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