Mehr Gewicht — Jennifer Steiniger

Jahrelang ist Jennifer Steiniger getrieben vom Ideal normschlanker Körper. Der Druck gipfelt in einer Essstörung. Irgendwann zieht sie die Notbremse, wird zur Fettaktivistin „Nesvria“ und gibt heute online gewichtsinklusive Sportkurse.
19. November 2024
7 Minuten Lesezeit
Text: Melanie Skurt — Fotos: Benjamin Jenak

Das Adjektiv „unvorteilhaft“ hat Jennifer Steiniger aus ihrem Wortschatz gestrichen. Bei TikTok und Instagram allerdings begegnet es ihr oft in den Kommentaren unter ihren Beiträgen. Zum Beispiel zu einem Video, das im November online geht. Darin zeigt sie Kleidung, die sie bestellt hat. Geht sie rechts aus dem Bild, landet der Rock oder das Oberteil in ihrem Schrank; geht sie nach links, gehen die Sachen zurück. Viele Menschen fühlen sich berufen, die Modenschau zu bewerten. Und „unvorteilhaft“ ist dabei noch eine vergleichsweise gemäßigte Äußerung. 

Jennifer Steiniger – die viele nur Jenny nennen – kennt das schon. Geht einer ihrer Posts viral, prasseln Hunderte Hassnachrichten auf sie ein. Aber, und darauf komme es an: Immer finden sich darunter auch Wortmeldungen wie diese: „Ich war 20 Jahre nicht schwimmen, aber weil ich dir schon so lange folge, habe ich mich endlich getraut.“ Ein Beispiel, das die Fettaktivistin bestärkt, weiterzumachen.

Seit inzwischen fünf Jahren teilt Steiniger unter dem Pseudonym „Nesvria“ Szenen aus ihrem Alltag: Sportvideos, in denen sie auf einem Trampolin springt oder einen Handstand macht, auch Nacktbilder. Wer an den Anfang ihres Feeds scrollt, findet zunächst Landschaftsbilder und menschenleere Urlaubsfotos. Doch binnen weniger Monate ändert sich die Perspektive. Im Februar 2019 tritt Jennifer Steiniger vor die Kamera. In der Bildunterschrift schreibt sie: „Ich bin nicht perfekt. Und ich arbeite auch nicht daran! Das Leben jenseits des allgemeinen Schönheitsideals ist manchmal schwer.“ Quasi über Nacht abonnieren Tausende ihren Kanal.  

Von da an berichtet sie persönlich und nahbar von Glücksgefühlen und Enthusiasmus, aber auch von Scham-, Wut- und Ohnmachtsmomenten im Zusammenhang mit ihrem Körper. Sie teilt zum Beispiel eine Erinnerung aus ihrer zweiten Schwangerschaft. Bei der Vorstellung in der gynäkologischen Praxis mustert sie die Ärztin „lange und angewidert“. Diese habe erklärt, nichts außer den Ultraschall anzubieten, weil sie Steinigers Körper „nicht berühren will“.

Während sie erzählt, sammeln sich Tränen in ihren Augen. Der Post löst Hunderte Nachrichten und Kommentare aus – viele berichten von ähnlichen Erfahrungen. Überwältigt, traurig und schockiert sei sie nach diesen Hilferufen gewesen. „Heute sprechen wir leider nicht über die Feinheiten von Diskriminierung. Heute müssen wir über Basic-Menschenrechte reden.“

OPs und Abnehmspritzen

Obwohl sie ihren Körper inzwischen in den sozialen Netzwerken zeigt, bleibt eines unsichtbar: Der Befreiungskampf, der hinter diesen Bildern liegt. Denn Steiniger musste einen kompletten Sozialisierungsprozess überwinden, um an diesen Punkt zu kommen. „Angefangen bei meiner Mutter, die ihr ganzes Leben auf Diät war. Sie hat gesagt: ,Schmier die Butter nicht so dick auf das Brot.‘ Das vererbt sich.“ Weiter über Diskriminierungen in der Schule. Die erste Diät macht sie schließlich mit zehn Jahren, „auf Anraten der Kinderärztin“. So entsteht ein Teufelskreislauf des Abnehmwahns. In diesem System wird sie krank, bekommt nach einer Diät sogar Skorbut. 

Der Druck, den sie über Jahre erlebt, gipfelt in einer „anoperierten Essstörung“. So nennt sie das, was sie mit Mitte 20 erfährt. „Die krasseste Methode, um Gewicht zu verlieren, ist eine Magenverkleinerung. Dadurch habe ich zwar ganz viel Gewicht verloren, aber auch jeglichen Bezug zu einem normalen Essverhalten. Es passt ja nicht viel in so ein kleines Becherchen. Ich habe viel flüssig gegessen, viel Breikost. Und auch bei dieser Abnehmmethode ist es so, dass das Gewicht irgendwann stagniert und tatsächlich auch wieder nach oben geht.“ 

Riet medizinisches Personal bislang zu einer Magen-OP, könnte künftig eine weitere Methode beworben werden, um schnell Gewicht zu verlieren: Abnehmspritzen. Sie sorgen gegenwärtig für Debatten – und Kritik. Steiniger hat sich bereits eine Meinung gebildet. Abgesehen davon, dass bereits jetzt bekannt sei, dass es starke Nebenwirkungen geben könne, zum Beispiel auf die Bauchspeicheldrüse, existierten noch keinerlei Langzeitstudien. 

Und meist setze ein Jojo-Effekt ein, wenn die Spritze abgesetzt wird. „Dieses ewige Abnehmen um jeden Preis – selbst wenn es krank macht und Leben verkürzt – ist halt krass fettfeindlich. Schlank zu sein wird so hoch gestellt, dass es sogar besser ist, krank als dick zu sein.“

Gefahren sozialer Medien

Ihre Geschichte steht stellvertretend für das gesellschaftliche Trauma, nicht dem Diktat der Normschönheit zu entsprechen. Immer mehr junge Menschen teilen dieses Gefühl. Die Zahl der Essstörungen steigt dabei rasant, die Betroffenen werden jünger. Und Therapieanfragen werden unter Umständen bereits für Achtjährige gestellt. In diesem Zusammenhang wird oft die Nutzung sozialer Medien thematisiert.

Filter und vermeintlich perfekte Bildinszenierungen können die Selbstwahrnehmung stören, Bodyshaming und eben Essstörungen begünstigen. Im Gegenzug belegen Untersuchungen, dass Social-Media-Verzicht das Selbstwertgefühl steigern kann. 

Fettfeindlichkeit ist historisch gesehen eng mit Anti-Schwarzem Rassismus verbunden. Das hat Sabrina Strings in ihrem Buch „Fearing the Black Body“ beschrieben. Darin analysierte die Professorin für Soziologie an der University of California, wie weiße, christliche Kolonialsiedler das rassistische Stereotyp des „wilden Schwarzen“ entwickelten und diesem die Norm eines schlanken, weißen Körpers gegenüberstellten. So entstand das bis heute verbreitete Stigma gegen Mehrgewicht. „Das ist strukturell gewachsene Diskriminierung“, bemerkt Steiniger. 

Für sie war irgendwann klar: „Wenn ich nochmal mit einer Diät scheitere, möchte ich nicht mehr sein. Diese Versagensgefühle sind immens. Und dann ist in meinem Kopf ein Gedanke gewachsen: ,Wenn ich keine Diät mehr anfange, kann ich auch nicht versagen.’“ Irgendwie klingt es leicht, wenn sie heute über diesen Prozess spricht. In der Realität ist er mühsam über Monate gereift. Glücklicherweise. Das erklärt sie deutlich: „Obwohl ich schon zwei Kinder hatte, war trotzdem die Überlegung da, mein Leben zu beenden. Das ist so krass und zeigt, wie groß der gesellschaftliche Zwang ist.“

Sport ohne Bewertungen

Mit dem Bewusstsein, dass ihr Körper sein darf und er sich nicht mehr verändern wird, hat sie sich zunehmend Dinge „erlaubt“. Zum Beispiel neue Kleidung. Öffnet sie heute ihren Schrank sieht sie grelle, knallige Farben. Davor habe sie meist nur schwarz getragen. „Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Es ist offensichtlich, dass ich dick bin – ob ich eine lange Hose und ein Schlabber-T-Shirt trage oder einen kurzen Rock und ein enges Oberteil. Diese Freiheit habe ich mir zurückgeholt“, unterstreicht sie entschlossen. 

Ihre Selbstermächtigung und Politisierung via Social Media hat sie auch zu einem konkreten Projekt motiviert: Gymiverse. Es ist das erste gewichtsinklusive Online-Sportstudio. „Sport hat für mich immer eine wichtige Rolle gespielt.“ Jennifer Steiniger war Teil einer Tanzgruppe, trainiert derzeit für einen Triathlon und schaut auf etliche Mitgliedschaften in Fitnessstudios zurück. Aber: „Als dick_fette Person hatte und habe ich keine Option, Sport zu machen, ohne Diskriminierung zu erfahren, beleidigt und abgewertet zu werden.“ Körper wie ihrer würden in Sportstudios nicht mitgedacht. „Also habe ich gesagt: Alles klar, dann mache ich das jetzt.“ 

Der Startschuss für Gymiverse fiel während Corona. Damals nimmt Jennifer Steiniger vielfach an Online-Trainings teil und merkt, wie gut und sicher sie sich in diesen Räumen fühlt. „Da kam mir der Gedanke: ,Wie schwer kann es sein, einen Schein zur Trainerin zu machen?’“ 

Pandemie-bedingt folgten viele Kurse am PC – im Nachhinein wertet sie das als Glücksfall. „Ich musste nur eine Präsenzveranstaltung besuchen und dieser Tag war unheimlich schlimm. Mir wurde gespiegelt, dass es sich um einen Gesundheitsberuf handele und ich nicht gesund sei.“ Wenn sie heute Kurse gibt, verdeutlicht diese Erinnerung einmal mehr: „Nicht dein Körper steht dir im Weg, die Gesellschaft und strukturelle Diskriminierung stehen dir im Weg.“ 

Aufschrei um Stefan Raab

Aktuell erreicht Gymiverse eine zweistellige Zahl an Teilnehmenden. Das Online-Studio arbeitet körperneutral und gewichtsinklusiv. Das heißt, für jedes Gewicht gibt es Übungsvarianten. Zum Beispiel auch Einheiten im Sitzen. Denn: Wer nicht aufstehen kann oder möchte, soll die Möglichkeit bekommen, Sport zu machen. Diese Niedrigschwelligkeit sei unheimlich wichtig: „Wir haben ja über Jahrzehnte Stigmata verinnerlicht: ,Du bist unsportlich, du kannst das nicht, du bist faul und unbeweglich.’ Also bedeutet Sport häufig eine Retraumatisierung für dick_fette Menschen, weil sie Mobbing erfahren haben, weil sie Bewegung verbinden mit Abwertung und Leistungsdruck, mit schlechten Noten.“ 

Deshalb wollen Jennifer Steiniger und die anderen Menschen, die die Trainings leiten, dabei helfen, festgefahrene Denkstrukturen loszulassen. Antrainierte Glaubenssätze wie „Sport ist nur effektiv, wenn geschwitzt wird“. Oder: „Sport bringt nur dann etwas, wenn mindestens 60 Minuten trainiert wird.“ Selbst eine einzelne Minute ist für Jennifer Steiniger ein Erfolg – und sinnstiftend: „Für Menschen, die sich 20 Jahre nicht bewegt haben, in dieser Minute aber Freude an der Bewegung empfinden, schaffen wir etwas Nachhaltiges. Nämlich den Wunsch weiterzumachen.“ Während konventionelle Studios mit destruktiven Gefühlen arbeiten und vermitteln: „Dein Körper hat Defizite, du musst ihn ändern“, kehrt Gymiverse Motivation und Anreiz um. „Wir sagen: Du bist gut wie du bist, du musst überhaupt nichts verändern. Aber es wäre schön, wenn du trotzdem kommst.’“

Für die Zukunft hat Jennifer Steiniger eine klare Vision: „In meinem Kopf stehe ich irgendwann in jedem Fitnessstudio, in den ganzen Ketten, und bilde das Personal fort. Und alle Studios arbeiten irgendwann gewichtsinklusiv.“ Bis dahin müsse zunächst der Aufschrei gegenüber fettfeindlicher Diskriminierung verstärkt werden, meint sie. „Aktuell können wir noch gar nicht differenziert über Diskriminierung sprechen, weil dick_fette Menschen immer noch überzeugen müssen, dass sie überhaupt diskriminiert werden.“ 

Ein Vorfall hat das in ihren Augen erst vor Kurzem beispielhaft gezeigt. Im September schlüpfte Stefan Raab für sein mediales Comeback in einen Fatsuit und tarnte fettfeindliche Aussagen als vermeintlichen Humor. „Leute, wo seid ihr“, fragt die Fettaktivistin damals auf Instagram und TikTok. Dass sie heute für genau diese Probleme ihre Stimme erheben kann, beschreibt sie mit einem treffenden Bild: „Ich habe lange ein Leben in Warteschleife geführt. Als wäre die Pause-Taste gedrückt, weil ich viele Dinge erst machen wollte, wenn ich schlank bin. Irgendwann habe ich mich für Play entschieden und mein Aktivismus ist das Ergebnis.“ 

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Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

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