Text: Philine Schlick — Fotos: Pay Numrich
„Da sind zwei Frauen oben im Baum“, gibt ein Beamter über sein Funkgerät durch. „Hat die eine einen französischen Akzent?“, ertönt die Antwort aus dem Apparat. Cécile Lecomte lacht, als sie sich an die Szene erinnert. Sie war eine der Frauen – jene mit dem Akzent – und hörte den Dialog mit, während sie gut zwei Meter über dem Kopf des Beamten in einer Baumkrone hing.
Mit ihrer Mitstreiterin war sie in der Nacht vor einer angekündigten Neonazi-Demonstration in die Wipfel geklettert. Die Nacht hatten sie in Hängematten verbracht und sich schließlich im entscheidenden Moment quer über die Fahrbahn in die Seile gehängt – und die Route wurde unpassierbar. Lecomte grinst schelmisch, wirft den Kopf in den Nacken. Ihr Ruf eilt ihr voraus. Die unbeirrbare Umweltaktivistin besteht auf ihr Recht und ihren Protest.
Mittlerweile nutzt sie wegen einer chronischen Erkrankung einen Rollstuhl. Das Klettern hat sie deshalb nicht aufgegeben. Im Gegenteil. Sie testet immer wieder neue Techniken aus – und gibt ihre Fertigkeiten an andere weiter. „Wenn es dir hier nicht passt, dann geh‘ zurück nach Frankreich“, diese Reaktion habe sie schon oft gehört. „Aber ich entscheide selbst, wo ich lebe“, bemerkt Cécile Lecomte. Und das ist seit 2005 Lüneburg.

Die studierte Wirtschaftlerin und Sprachenlehrerin suchte die Stadt im Norden Deutschlands bewusst aus, wegen ihrer Nähe zum Wendland. Hier rollte 1995 der erste Castor-Transport aus dem Atomkraftwerk Philippsburg nach Gorleben, begleitet von wütenden Demonstrationen. Die Anti-Atom-Bewegung präge und beeindrucke sie noch immer, erzählt Lecomte. In Sachen Kreativität und Durchsetzungskraft seien damals neue Maßstäbe gesetzt worden – auch für die Proteste in Lützerath. „Die Bezeichnung Tag X und das gelbe Y als Symbol des Widerstands kommen ursprünglich aus dem Wendland, da nie klar war, wann die Castortransporte rollen würden. Deshalb bereiteten sich die Leute auf diesen unbekannten Tag vor.“
Erfolgreiche Techniken zu Blockaden und Besetzungen stammen ebenfalls aus dieser Zeit und haben sich international bewährt: „Ich fand es faszinierend, dass Erfahrungen importiert werden können. Und wie pfiffig die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland war. Der Protest in kleinen Gruppen ist erfolgreich, weil unberechenbar. Kleine Schritte für große Träume!“
Atomkraft nicht C02-frei
Und die Reaktivierung der Bewegung sei dringend notwendig, mahnt Cécile Lecomte. „Es gibt längst Lösungen für die Klimakrise. Wir müssen sie nur anwenden. Wir haben zum Beispiel die Sonne!“ Gleichzeitig habe die Atomlobby an Stärke gewonnen und sich – unter anderem auch getarnt als Bürgervereine – sogar in die Klimabewegung gedrängt. „Auch Fridays for Future hat es an etlichen Stellen verpasst, sich davon deutlich zu distanzieren“, meint Lecomte.
Atomkraft als saubere Energie – dieser Mythos ist längst nicht mehr nur von Rechtsaußen zu hören. „Dabei ist Atomkraft nicht CO2-frei. Weder der Uranabbau, noch der Kraftwerksbetrieb und auch nicht der Beton für Bau und Versorgungsinfrastruktur“, weiß Lecomte. Dazu kommt die Verwendung und Lagerung von aggressiven Substanzen wie UF6, Uranhexafluorid. „Hier ist das Risiko der Toxizität höher als das der Strahlung.“ Das Abschalten von Atomkraftwerken reiche längst nicht aus, wenn es die bekannten Probleme mit der Endlagerung und weiterhin die Urananreicherungsanlage Gronau und die Fertigung von Brennelementen in Lingen gebe.
Deutsche Atomkraftwerke beziehen trotz des Angriffskrieges weiterhin Uran aus Russland – von Rosatom, einem Unternehmen, das der Regierung Putins direkt unterstellt ist. Das EU-Embargo betrifft nicht den Atomsektor, obwohl dieser eng mit Russlands Militär verbunden ist. Es gäbe also durchaus noch wirtschaftliche Hebel, die bedient werden könnten, findet Lecomte, bevor Aufrüstung als einzige Option begriffen werde. Sie fordert: Die Anti-Atom-Bewegung müsse sich international verbünden, so wie auch die Atomlobby kooperiert.

Ihre Verbindungen nach Frankreich ermöglichen Lecomte nicht nur Vernetzung, sondern auch Vergleiche. Die Protestkultur sei hierzulande weniger entspannt, stellt sie fest. Wenn in Frankreich Banner aufgehängt werden, braucht es in Deutschland stets Anmeldungen und Genehmigungen. „In Deutschland werden ständig Daten über dich gesammelt und du giltst als verdächtig, wenn du überhaupt bei Behörden auffällig geworden bist“, schätzt Lecomte ein. Eine Tatsache, die auch Lecomtes Lebensentwurf maßgeblich beeinflusste.
In Lüneburg hat Lecomte in einem alternativen Gemeinschaftswohnhaus umgeben von Wald und Garten ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Ihre Tätigkeit als Lehrerin sei schnell mit dem Einsatz gegen rechts, Verbrennungsmotoren und Atomkraft kollidiert, sagt sie. „In der ersten Schulwoche habe ich mich an Aktionen gegen Castor-Transporte beteiligt. Ein Jahr später wurde ich zur Verhinderung von Protesten zwei Wochen lang rund um die Uhr überwacht.“
Und obwohl Lecomte von Lernenden und Eltern Zuspruch erhielt, sei ihr außerschulisches Engagement „nicht nach dem Geschmack des Schulvorstands gewesen. Aus Sorge vor Einwänden der Eltern.“ Cécile Lecomte hebt die Brauen: „Baumklettern ist gefährlicher als Neonazis. So ist der Staat. Aber ich wollte mich nicht dafür rechtfertigen, was ich in meiner Freizeit mache.“ Mittlerweile ist Aktivismus zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden.
Gefahren der Klimakrise
Lecomte klärt über die Gefahren von Atomkraft auf, reist zu Tagungen und Kongressen, die sich mit Fragen der Klimagerechtigkeit beschäftigen, gibt Kletterworkshops, hält Vorträge zur Widerstandskultur, plant Demonstrationen und Protestaktionen – und dokumentiert auf Social Media ihre zermürbenden Reisen mit der Deutschen Bahn als Person mit Rollstuhl. „Für mich ist alles irgendwie politisch“, stellt sie fest. „Wenn du eine von Ableismus betroffene Person bist, ist das auch eine Art Vollzeitjob.“
Lecomte stellt sich diesem System entgegen, das sie zur Querulantin erklärt, weil es nicht für sie gemacht ist. Wenn Lecomte für Klimagerechtigkeit streitet, dann geht es ums Überleben. Das Risiko, dass Menschen mit Behinderung bei klimatischen Ausnahmezuständen verletzt werden oder sterben, ist zwei- bis viermal so hoch wie für Menschen ohne Behinderung. Und dennoch ist es Lecomtes Rollstuhl, der im Zug von einer Mehrheit als störend empfunden wird – nicht der zu enge Gang, die fehlenden Stellplätze und Rampen.
Es sind nicht die Castor-Transporte, die als unzumutbar gelten, sondern die Menschen, die sie blockieren. Es sind nicht die Umstände, sondern Lecomte und ihre Kritik, die als unbequem gelten. Insbesondere bei Behörden, mit denen Lecomte zwangsläufig in Kontakt kommt. „Für mich ist mein Rollstuhl eigentlich eine Erleichterung. Er gibt mir die Freiheit mich zu bewegen, wie ich es sonst nicht könnte. Aber auf einer Demo kann das sehr schnell gefährlich werden.“ Lecomte erzählt von Erlebnissen, die nie in offizielle Protokolle eingegangen sind. Von Stößen mit dem Ellbogen auf Kopfhöhe, von Schmerzgriffen. Von Versuchen, den Rollstuhl ohne jede Einwilligung zu bewegen. Und vom Absprechen des eigenen Willens. „Wenn du eine Demo von Menschen mit Behinderungen hast, gibt es schnell diesen Zweifel, ob die überhaupt freiwillig da sind oder ob sie dazu gebracht worden sind.“

Lecomte schnaubt, halb verächtlich und halb belustigt. „Es ist manchmal so absurd, dass ich lachen muss. Aber es macht was mit Menschen, so behandelt zu werden.“ Andererseits: Wenn Polizeikräfte unbewaffnete Menschen auf einer Demo in Vollmontur räumen – zeige das nicht auch, wie gefürchtet dieser Protest ist?
Die Tatsache, dass Lecomte einen Rollstuhl nutzt, sei häufig Stein des Anstoßes: Wie kann eine Person mit Rollstuhl klettern? Das werde als Widerspruch wahrgenommen – und als Grund für Misstrauen. Nicht nur von Polizeikräften. Das Sozialamt tut sich schwer mit der Genehmigung eines Sportrollstuhls, denn Schwimmkurse seien besser für Lecomte. Nicht so riskant wie das Rollstuhlskating. Oder Klettern. „Aber es ist mein Risiko. Mein eigenes! Es betrifft nur mich. Die Atomkraft dagegen geht auch alle anderen an und ihre Nachfahren.“
Konfrontation vor Gericht
Menschen zuzuschreiben, was sie können und was nicht, ist eine Facette des Ableismus, der Lecomte auch in aktivistischen Gruppen begegnet. Macht und Bevormundung – sich gegen sie, mit ihnen, trotz ihnen zu bewegen, ist lange schon Lecomtes Alltag. Doch es gibt auch die stillen Phasen, in denen sie sich vor Schmerzen kaum rühren kann. „Wenn ich auf Social Media besonders aktiv bin, heißt das, ich liege im Bett.“ Dann ist die Aussicht darauf, sich aus eigener Kraft wieder auf einen Baum manövrieren zu können, ein Lichtblick.
Den Spitznamen „Das Eichhörnchen“ bekam Lecomte, als sie mit Baumklettern bekannt wurde. Sie trägt ihn bis heute selbstbewusst. Um auch mit ihrer Erkrankung klettern zu können, hat sie eine Technik entwickelt, bei der sie sich mit Hüftbewegungen am Seil nach oben wippt. In Workshops unterstützt sie andere dabei, es ihr gleich zu tun.
Dinge selbst tun, das ist ein Akt der Selbstermächtigung, den Lecomte auch in Konfrontation mit der deutschen Justiz bevorzugt: „Es ist unser politischer Kampf. Und den lassen wir uns nicht nehmen.“ Seit etlichen Jahren hat sie gemeinsam mit anderen Expertise darin erlangt, sich vor Gericht selbst zu verteidigen. Auslöser sei das bevormundende Verhalten eines Anwalts gewesen, erzählt sie. „Meine erste Gerichtsverhandlung war wegen Baumkletterns in Lüneburg. Das war eine Ordnungswidrigkeit. Da habe ich geübt“, erzählt Lecomte lachend.

„Jura ist ein bisschen wie Mathe. Du musst nur die Logik dahinter verstehen. Auch wenn sie manchmal abstrus ist.“ Fachpersonen unterstützten sie mit kostenlosen Weiterbildungen. Letztlich sei „Justiz die Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen“: Wer arm ist und klaut, wird vor Gericht ärmer. Wer reich ist und klaut, kann sich seine Unschuld leisten, verdeutlicht Lecomte. Die wirksamste Waffe sei Solidarität. Lecomte setze auf „offensive Prozessführung“ und wende das Gesetz kreativ an. „Wenn sie mich vorladen, haben sie den Salat.“
Mittlerweile hat sie Verfahren erfolgreich durchgefochten, die ihr bei anderen Prozessen als Exempel dienen – und eine Verfassungsbeschwerde zum Thema Schmerzensgeld gewonnen und drei weitere Klagen, bei denen es um rechtswidrige Polizeimaßnahmen ging. Sie klagt an, auch wenn die Chancen schlecht stehen. Um immer wieder zu hinterfragen: Was ist Gewalt? Wer hat die Macht? Was ist gerecht? Die Urteile veröffentlicht sie. „Das zeigt Sachen auf und macht klar: Hier müssen wir was tun. Manchmal verliere ich juristisch, aber nie politisch.“
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