Text: Selina Hellfritsch — Fotos: Maximilian Gödecke
Die U-Bahnen fahren im Zehn-Minuten-Takt, sommerliche Schwüle liegt in der Luft. Auf einer Bank zwischen den Gleisen sitzt Moyo: eine lebensgroße Puppe. Manche eilen an ihr vorbei, andere schauen zwei-, dreimal hin und laufen schließlich verwirrt weiter. Und einige bleiben stehen, sehen sich fragend nach den zugehörigen Menschen um. „Wow, ich dachte, die wäre echt!“, ruft jemand erschrocken und läuft mit gedrehtem Kopf weiter Richtung Bahn.
Wer Moyo direkt ansieht, merkt, dass es sich um eine Puppe handelt. Trotzdem scheint sie Unbehagen, aber auch Neugierde auszulösen. Um sie bildet sich eine Menschentraube und die Gespräche beginnen. Während Moyo unterwegs ist, ist ihre Schöpferin zu Hause in einer Berliner Altbauwohnung in Neukölln. Wenn Maya Schenk krankheitsbedingt nicht rausgehen kann, nimmt Moyo stellvertretend ihren Platz ein.
Schenk ist Malerin, Musikerin und eine von rund zwei Millionen Menschen in Deutschland, die von Endometriose betroffen ist: eine chronische Entzündungskrankheit, bei der Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter wächst. Die sogenannten Endometriose-Herde sammeln sich vorrangig im Bauchraum, können sich aber bis zur Lunge ausbreiten und sind bei über 70 Prozent der Betroffenen mit starken Schmerzen verbunden.
Bis heute gibt es eine große Forschungslücke, sodass die Ursache der Erkrankung unbekannt ist und Therapien nur darauf abzielen, Symptome zu lindern. Der medizinische Gender Bias führt dazu, dass Forschungen, Daten und Lehrpläne im Medizinstudium zum Großteil an cis Männern ausgerichtet sind. Zudem werden Geschlecht, Ethnizität, sexuelle Orientierung und der soziale Status fast nie berücksichtigt, was für Betroffene und mehrfach diskriminierte Menschen oft zu falschen Diagnosen, Therapien und einer höheren Mortalität führt.
Folgen der Erkrankung
Maya Schenk sitzt auf dem Teppichboden in ihrem Atelier-Zimmer, eine Kaffeetasse neben sich. Die Mittagssonne wirft durch die hohen Fenster warmes Licht auf ihre gemalten Porträts an den Wänden. Während sie erzählt, schweift ihr Blick zu Moyo. Die Puppe sitzt auf der roten Couch neben der Tür. Solange sie sich erinnern kann, habe sie eine starke Periode gehabt, erzählt sie. Besonders schlimm sei es vor acht Jahren geworden: Bei jeder Menstruation habe sie viel geblutet, musste sich übergeben, habe Gewicht verloren, konnte kaum aus dem Bett.
„Ich bin zu verschiedenen Praxen gegangen und habe von meiner Situation erzählt. Daraufhin habe ich immer wieder zu hören bekommen: Eine Periode tut weh, nimm Ibuprofen und eine Wärmflasche“, erinnert sie sich. Erst als sie unter enormen Schmerzen 2021 ins Krankenhaus ging und wegen einer geplatzten Zyste notoperiert wurde, habe das medizinische Personal ihr mitgeteilt, dass sie an schwerer Endometriose leide. Stadium IV, die stärkste Ausprägung – die sie dazu berechtigen würde, einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen.
Jede Krankheit hat auch Auswirkungen auf das eigene soziale Umfeld. „Viele haben gedacht, dass ich meine Krankheit als Ausrede verwende“, sagt Maya Schenk. Nach und nach wurde sie weniger eingeladen. „In diesen Momenten habe ich gemerkt, dass viele meine Krankheit nicht verstehen und nicht ernst nehmen.“ Hinzu kam, dass ihr besonders cis Männer das Gefühl gaben, sich ihre Beschwerden anhören zu müssen, obwohl sie das Thema eklig fanden. Da die Krankheit in Zusammenhang mit der Periode steht, wird sie oft stigmatisiert und gilt als etwas, worüber die Öffentlichkeit nicht spricht, als etwas Schmutziges.
Verzögerte Diagnosen
„Endometriose ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es betrifft nicht nur die Erkrankten, sondern auch die Politik, die Familien, die Arbeitgebenden und Bezugspersonen“, ordnet Maria Bambeck, Vorstandsvorsitzende der Endometriose Vereinigung, ein. Und sie erklärt: Vor allem das fehlende Wissen um die chronische Krankheit kann für Betroffene kritisch werden, da es oft zu einer enormen Diagnoseverzögerung führe. Im Durchschnitt dauere es siebeneinhalb Jahre, bis Endometriose tatsächlich erkannt werde.
Da die Krankheit immer individuell auftrete und eine weite Bandbreite an Symptomen mit sich bringe, werde es auch als Chamäleon der Gynäkologie bezeichnet, erklärt Maria Bambeck. „Es ist wichtig, dass die Gesellschaft besser über Endometriose aufgeklärt ist, das hilft natürlich den einzelnen Betroffenen. Und es ist dagegen fatal, wenn Beschwerden oder auch die ganze Erkrankung kleingeredet und abgetan werden.“
Nach ihrer Notoperation wurde Maya Schenk zum Gynäkologikum in Berlin-Mitte vermittelt. „Diese Klinik hat mir ein zweites Mal das Leben gerettet“, erzählt sie. Als sie sich an die Zeit erinnert, kommen ihr fast die Tränen: „So weit musste es kommen, bis mir jemand wirklich zugehört und meine Schmerzen ernst genommen hat.“ Lange hatte Schenk das Gefühl, zu verschwinden, zu verblassen. „Obwohl ich Leute um mich haben wollte und auch brauchte.“
Inmitten von Frust, Inspiration und Wut formte sie eine Idee: Was, wenn sie eine lebensgroße Puppe nach ihrem Abbild erschaffen würde? „Es hat mir Freude gemacht, Moyo zu kreieren. Dadurch hatte ich das Gefühl, Kontrolle über meinen Körper zu haben“, erzählt sie.
Je länger Maya Schenk an der Puppe arbeitete, desto mehr setzte sie sich mit ihrem Körper auseinander, lernte ihn auf eine neue Art kennen und lieben. Zuerst sei es ein privates Projekt gewesen. Als eine Bekannte vorschlug, die Entstehung in einem Dokumentarfilm festzuhalten, wurde es immer größer. „Plötzlich ist das Projekt, Moyo, legitimiert worden und Menschen haben es als Kunst angesehen“, erinnert sie sich und lächelt.
Politisch angekommen
Während dieser Zeit entstand die Idee, Moyo in soziale Situationen zu schicken. Und so haben Schenks Partner und befreundete Personen die Puppe auf Geburtstagsfeiern, zu Treffen und einen Comedy-Gig mitgenommen, wenn die Künstlerin wegen ihrer Krankheit zu Hause blieb. „Die Aufmerksamkeit, die ich auf meine Absenz gezogen habe, war extrem.“ Gleichzeitig sei in diesen Situationen immer über Endometriose gesprochen und aufgeklärt worden.
Nicht nur im privaten Umfeld der Künstlerin, sondern auch auf politischer Ebene sind Dinge in Bewegung gekommen. Rückblickend habe sich in den letzten Jahren zwar einiges getan und es gebe mehr mediale Aufmerksamkeit, trotzdem sei das nicht genug, meint Maria Bambeck von der Endometriose Vereinigung. „Am 29. September 2022 – dem Tag der Endometriose – war die chronische Krankheit zum ersten Mal Thema im Deutschen Bundestag. Wir haben ein Koalitionsfachgespräch organisiert und unsere politischen Forderungen vorgestellt.“ Fünf Millionen Euro wurden daraufhin im Haushalt für die Erforschung eingeplant.
Im September 2024 starteten nun gleich fünf Forschungsverbünde, die sich auf die Bereiche Unfruchtbarkeit, Krankheitsverlauf, Behandlungsmöglichkeiten, Ernährungskonzepte und Schmerzen fokussieren. Auch wenn die Endometriose Vereinigung den Beschluss begrüße, fehle noch immer Wissen in der Grundlagenforschung. „Fünf Millionen Euro pro Jahr sind zwar ein erster Ansatz, im Bereich der medizinischen Forschung allerdings nicht viel“, bemängelt Maria Bambeck. Im Vergleich: 2023 investierte Australien bereits 35 Millionen Euro und auch Frankreich 30 Millionen Euro. Die Vereinigung arbeite deshalb daran, einen Aktionsplan mit festgelegten Ziele und finanzieller Unterstützung politisch zu etablieren.
Chancen auf Heilung?
Aktuell ist eine der meistgenutzten Therapien noch immer die Hormontherapie: also die Pille. Auch Maya Schenk wurde nahegelegt, diese nach ihrer Operation zu nehmen, um einen guten Heilungsprozess anzuregen. Durch die Einnahme des Hormonpräparats wird vorübergehend die Periode ausgesetzt und somit auch die Bildung neuer Endometriose-Herde. „Mir ging es extrem schlecht mit der Pille. Ich hatte depressive Phasen, war kraftlos und unkreativ – was für meinen Job essenziell ist“, erzählt sie. Nach der Heilungsphase setzte sie die Pille ab und die Schmerzen kamen zurück. Also versuchte sie mit einer angepassten Ernährung, Sport und dem Verzicht auf Alkohol ihre Symptome in den Griff zu bekommen.
„Grundsätzlich ist Endometriose nie einfach weg“, erklärt Expertin Maria Bamberg. „Egal ob durch eine Menopause, Transition oder die Einnahme der Pille – die Symptome können zwar verschwinden, aber die vorhandenen Endo-Herde bleiben. Genauso die Folgen der Krankheit: Verwachsungen, unerfüllter Kinderwunsch, psychische Auswirkungen.“
Für Betroffene sei es am besten, sich einen Blumenstrauß an Dingen zusammenzustellen, die helfen, mit der Erkrankung umzugehen. Im besten Fall zusammen mit einem interdisziplinären medizinischen Team, das osteopathische, schmerz- und physiotherapeutische Behandlungen anbiete. Das Problem: In Deutschland gibt es zwar ungefähr 100 Endometriosezentren, diese aber könnten nicht alle Betroffenen behandeln und stoßen bereits an Kapazitätsgrenzen.
Trotz Schenks Bemühen, alternative Behandlungsmethoden auszuprobieren, funktionierten diese nur bedingt. Alltägliche Dinge wie der Toilettengang oder Geschlechtsverkehr wurden zum schmerzvollen Hindernislauf. Ende 2021 wurde die Künstlerin ein zweites Mal operiert – diesmal von einem Endometriose-Spezialisten in Berlin. Dieser stellte fest, dass ihre Organe im Unterbauch komplett zusammenklebten. Seine Vermutung: Bei der Notoperation wurde der Bereich kontaminiert und die Endometriose konnte sich noch weiter ausbreiten. Auch hier fehlte wohl Wissen für eine fachgerechte Behandlung.
Unerwartet schwanger
Außerdem wurde bei Schenk Adenomyose festgestellt: eine Krankheit, bei der Endometriose-Herde auch in der Muskelwand der Gebärmutter wachsen. „Durch die damit verbundenen ständigen Abblutungen besteht meine Gebärmutter zu 98 Prozent aus vernarbtem Gewebe.“ Bei dem Diagnosegespräch wurde ihr schonungslos mitgeteilt, dass sie deshalb unfruchtbar sei. „Das war krass. Ich bin zwar dankbar für die Hilfe, aber viele männliche Gynäkologen reden mit mir, als sei ich ein Kind und als würden sie meinen Körper besser kennen als ich.“
In bis zu 50 Prozent der Fälle von Menschen, die ungewollt kinderlos bleiben, ist Endometriose die Ursache. Maya Schenk hingegen wurde trotz der Diagnose zwei Jahre später unerwartet schwanger und bekam eine Tochter.
Die Künstlerin sitzt vor einem Spätshop nahe ihrer Wohnung, während sie erzählt. Die Puppe sei eine spielerische Art, um mit Fremden, aber auch Bekannten über ihre Krankheit zu reden, ohne dabei Mitleid zu erregen oder die Stimmung zu kippen. Sie öffnet sich ein Bier und lehnt sich zurück. „Ich bekomme bald meine Tage“, sagt Maya Schenk und prostet. „Da kicken die Schmerzmittel mehr.“ Durch Moyo haben sich ihr gegenüber immer mehr Menschen geöffnet und von ihren chronischen Krankheiten erzählt: „Es hat sich wie eine Art Emanzipation der Erkrankten angefühlt.“ Ihre Erfahrungen, Emotionen und auch ihr Projekt möchte sie in einer Ausstellung präsentieren: „Wir dürfen chronisch kranke Menschen nicht vergessen. Es muss okay sein, offen über Krankheiten zu sprechen und ernst genommen zu werden.“
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