Text: Ella Strübbe — Fotos: Maximilian Gödecke
Die Ladenwohnung in Berlin-Kreuzberg wirkt zunächst nicht wie ein Ort, der einst Kunst zur Selbstermächtigung und Befreiung förderte. Zwar erinnern Postkarten alter Ausstellungen in Kisten und Schubladen noch an die „Galerie JolibaZWO“. Doch wo bis vor wenigen Jahren noch Schwarze Kunstschffende und Menschen der BIPoC-Community ausstellten und performten, wird heute gewohnt. In der Mitte des Raums steht ein großer Esstisch, darauf eine Schale mit Kirschen. Ein Stillleben an einem Ort, der zur Ruhe gekommen ist. Vorerst.
„Ich bin hier“, ruft es von oben. Die Stimme verliert sich zwischen meterhohen Wänden. An der Treppe, die ins Obergeschoss führt, ist ein Rollstuhllift montiert. Ein paar Stufen später öffnet sich der Blick ins Schlafzimmer, wo Katharina Oguntoye in ihrem Bett sitzt. In ihrer Mobilität ist sie seit ihrer Krebsdiagnose eingeschränkt.
Mit 60 wollte sie eigentlich in den Ruhestand gehen – das war 2018. Doch es kamen immer neue Projekte dazu: Ausstellungen, Lesungen, Seminare. Oguntoyes Leben ist durchdrungen vom Engagement für Schwarze Menschen. Und dieser innere Antrieb ließe sich nicht einfach so abstellen, sagt sie lächelnd. Kämpfe hat sie viele geführt, für die Gleichberechtigung und die Teilhabe interkultureller Gemeinschaften, besonders afrikanischer und afrodeutscher Menschen. Vor zwei Jahren wurde sie dafür mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt; es war die späte Ehrung eines besonderen Lebenswerks.
Bereits 1997 gründete Oguntoye das interkulturelle Netzwerk Joliba, eine Familienhilfe für Schwarze Menschen in Berlin. Bis heute ist es die Anlaufstelle für Menschen afrikanischer, afrodeutscher, afroeuropäischer und afroamerikanischer Herkunft in der Hauptstadt. Es bietet Sozialberatung und Unterstützung bei Arbeitssuche, Ämtergängen sowie beim Lesen und Verfassen offizieller Schreiben. Eltern melden sich hier, wenn ihre Kinder in der Schule Probleme haben oder an strukturellen Hürden im Umgang mit Institutionen scheitern.
Generationenwechsel
Weil die Räume dem Verein mit der Zeit zu klein wurden und Katharina Oguntoye parallel eine rollstuhlgerechte Wohnung suchte, zog sie 2019 hier ein – und Joliba nach Friedrichshain. Ihre Rolle im Netzwerk nennt sie heute augenzwinkernd „the Elder“. Das treffe auch auf ihren politischen Aktivismus generell zu. Katharina Oguntoye will jetzt ihre Erfahrungen an Jüngere weitergeben und auch ihr Wissen in den Generationenwechsel der Schwarzen Community einbringen. Vor allem aber zuhören und lernen, was junge Leute bewegt.
„Während zu meiner Zeit zum Beispiel die beruflichen Perspektiven für Schwarze Menschen sehr eingeschränkt waren, muss die jüngere Generation zumindest beim Studium und in der Arbeitswelt nicht mehr gegen Windmühlen kämpfen.“ Aber Rassismus bleibt – physische und psychische Angriffe, strukturelle Benachteiligung, Diskriminierung, Gewalt mit Todesfolge. Vor Monaten erschütterte etwa eine Tat Berlin: William Chedjou wurde bei einem Streit um einen Parkplatz erstochen. Mitten am Tag, auf offener Straße.
„Die Community ist kontinuierlich bedroht“, erklärt Oguntoye. Rassistische Gewalt nehme zu und werde brutaler, das melden Opferverbände längst. Das Klima hat sich gewandelt und die Mitte-Studie belegt rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft. Mit dem Erfolg der AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wächst das Selbstbewusstsein rechter Kräfte weiter. Katharina Oguntoye weiß, was diese Entwicklungen für die Zukunft bedeuten: „Um gegen Rassismus zu arbeiten, braucht es einen langen Atem. Wir dürfen nicht aufgeben.“
Katharina Oguntoye wurde 1959 in Zwickau geboren und wuchs zwischen Leipzig, Heidelberg und Nigeria auf. Im Jahr 1982 führte ihr Weg nach West-Berlin. An der Kreuzberger Schule für Erwachsenenbildung wollte sie ihr Abitur nachholen – damals als einzige Schwarze Schülerin. Zur Vorbereitung auf die Englischprüfung besuchte sie mit ihrer Klasse Seminare an der Freien Universität Berlin. Bei Audre Lorde – eine der einflussreichsten afroamerikanischen Stimmen des 20. Jahrhunderts. Es sollte für Oguntoye ein Schlüsselmoment der politischen Selbstermächtigung werden, denn bald wuchs aus dieser Begegnung eine enge Verbindung.
Rassistische Realitäten
Oguntoye erinnert sich an eine augenöffnende Szene im Seminar. „Audre Lorde bat alle weißen Studierenden sich zurückzunehmen und nur zuzuhören. Bevor nicht jede Schwarze Person gesprochen hatte, durfte niemand den Raum verlassen.“ Ganz alltägliche Fragen habe Audre Lorde gestellt und allein damit die Welt für Minuten verkehrt. Denn: „Weiße Menschen haben Schwarzen für gewöhnlich nicht zugehört. Nun mussten sie es.“ Gleichzeitig mussten sich die Schwarzen Studierenden trauen, sich diesen Raum zu nehmen. „Wir waren darauf trainiert, dass uns eh keiner zuhört. An dieser Übung bin ich sehr gewachsen.“
Audre Lorde ermutigte Oguntoye darüber hinaus mit nur einem Satz zum Schreiben: „Stellt euch einander und der Welt vor!“ Es war der Anstoß für ihr Buch „Farbe bekennen“, das 1986 erschien. Gemeinsam mit der Aktivistin May Ayim bündelte Oguntoye darin 13 Geschichten verschiedener Autorinnen. Erstmals beschrieben in „Farbe bekennen“ Schwarze Frauen in Deutschland ihre Lebensrealitäten und Erfahrungen mit Alltagsrassismus, erstmals wurde die deutsche Kolonialgeschichte aus der Perspektive Schwarzer Menschen erzählt. „Über den Holocaust wurde viel gesprochen und zur Ausländerfeindlichkeit gab es damals starke Diskussionen“, ordnet Katharina Oguntoye die Publikation historisch ein. „Die Menschen hatten Angst, sich mit noch einem schwierigen Thema zu befassen – Rassismus.“
Noch immer wirke das Buch stark auf die Schwarze Community, „speziell auf die Jüngeren, die mitten in ihrer Findungsphase sind.“ Und immer wieder höre Katharina Oguntoye den Satz, „Farbe bekennen“ habe Leben verändert. „Das Buch gibt Menschen die Möglichkeit, sich aus der Einsamkeit zu befreien und einen Platz in der Gesellschaft zu beziehen.“
Damals wie heute ist es der „Starting Point“, um sich zu vernetzen. „Wir haben in Vereinzelung gelebt. Die meisten hatten ein rein weißes Umfeld, kaum Schwarze Familie, geschweige denn Schwarze Menschen im Freundeskreis“, beschreibt Oguntoye. Sie habe unter anderem dafür gekämpft, diskriminierende Sprache und Fremdzuschreibungen abzuschaffen und so die Spirale von Gewalt und andauernder Traumatisierung zu durchbrechen.
Fremdzuschreibungen
Den Begriff „afrodeutsch“ hat Oguntoye mitgeprägt. Er identifiziert Menschen als deutsch, genauso als Teil der afrikanischen Diaspora. „Afrodeutsch“ und „Schwarze Deutsche“ werden synonym gebraucht. Wobei „Schwarze Deutsche“ ein politischer Begriff sei, der sich aus der „Black is Beautiful“-Bewegung herleite und „afrodeutsch“ Prozesse der Identitätssuche und der -findung beschreibe. Er beziehe sich auf kulturelle Wurzeln, auf Lebenssituationen und auf -zusammenhänge, nicht auf Abstammung.
Wie viele andere habe auch Katharina Oguntoye bereits im Kindergartenalter damit anfangen müssen, zu reflektieren, wer sie ist und wie sie hier, in Deutschland, reinpasst. „Afrodeutsche sind kulturell eindeutig Deutsch, werden aber aufgrund ihrer Hautfarbe zum Beispiel bei der Wohnungssuche aussortiert. Du wirst als fremd markiert.“ Durch Anstrengungen Katharina Oguntoyes, Audre Lordes und May Ayims sind an die Stelle von Fremdzuschreibungen nach und nach Selbstbezeichnungen der Community getreten.
So wie Audre Lorde zu einer Schlüsselfigur in ihrer Biografie wurde, ist auch das Jahr 1985 entscheidend für Katharina Oguntoye. Damals begann sie nicht nur ihr Geschichtsstudium an der Technischen Universität. Erstmals organisierte damals eine Gruppe Schwarzer Frauen – Christiana Ampedu, Helga Emde und Eleonore Wiedenroth-Coulibaly – ein erstes Treffen Schwarzer Menschen in Wiesbaden, an dem rund 100 Menschen teilnahmen. Das war die Geburtsstunde einer neuen Organisierung der Community.
Denn nur ein Jahr später rief John Kantara das erste Bundestreffen der Initiative Schwarze Menschen (ISD) in Berlin ins Leben. Der Rest ist Geschichte: Bis heute ist das Netzwerk die größte Interessenvertretung Schwarzer Menschen in Deutschland, aber auch für Europas Nachbarländer, den afrikanischen Kontinent und die USA.
Zeit der Organisierung
„Es lag eine Aufbruchstimmung in der Luft. Alle waren gespannt, einander kennenzulernen“, erinnert sich Katharina Oguntoye an das erste ISD-Treffen – und an die Zeit unmittelbar davor. „Etwa 30 Menschen saßen da alle zwei Wochen am Oranienplatz in Kreuzberg zusammen. Sie wollten herausfinden, was sie gemeinsam haben und was es bedeutet, deutsch zu sein.“
Sie tauschten sich über diskriminierende Begriffe aus, unter anderem das N*Wort. „Aber im öffentlichen Stadtbild fielen wir sofort auf, alle drehten sich nach uns um.“ Deshalb verlegte die Gruppe ihre Treffen nach drinnen, in einen geschützten Raum. Viele Engagierte dieser Kleingruppe nahmen auch am ersten ISD-Bundestreffen teil. Und zeitgleich formierte sich die Adrefa, die Afro-Deutschen-Frauengruppe. Katharina Oguntoye besuchte deren Konferenzen, hielt sich aber im Hintergrund. „Viele waren neu im Feminismus und ich bei der ISD viel eher auf der Suche nach meiner Schwarzen Identität.“
Diese Spurensuche ging auch weiter, als zwei Jahre später die Zeitschrift „afro look“ erschien – ein politisches Sprachrohr für die Belange der Schwarzen Community. Oguntoye trug in Ausgabe eins einen Text über die US-amerikanische Frauenrechtlerin und Wanderpredigerin Sojourner Truth bei, die mit ihrer Rede „Ain’t I a Woman?“ Berühmtheit erlangte.
Für die nächsten Ausgaben zeichnete sie den Comic „Afro Kids in Action“. Dieser handelte von einem weißen Jungen und einem afrodeutschen Mädchen. Der Plot: „Das Mädchen wird von ihm in eine Opferrolle gedrängt, indem er sie immer wieder fragt, ob sie Probleme hat. Da ist also gar kein Raum mehr für ihre eigentliche Lebensrealität“, bemerkt Oguntoye. Die Zeitung wurde beim Allgemeinen Studierendenausschuss der Freien Universität gedruckt, per Hand zusammengeheftet und von den Afrodeutschen überall in der Stadt verteilt. Neben Berichten über Schwarze Menschen in der NS-Zeit und kritischen Kommentaren über die rassistische Sprache in deutschen Medien wurden vor allem Gedichte und Geschichten veröffentlicht.
Bekanntheitszuwachs
Nach dieser Phase des Schreibens und Vernetztens organisierte Katharina Oguntoye Anfang der Neunziger schließlich ihr erstes eigenes Projekt. „Jenseits von Afrika“ war ein Fest für Audre Lorde im Kulturbahnhof Kato im Schlesischen Bahnhof – eine Ausstellung mit Musik, die einen weiteren Stein ins Rollen brachte, wie sie sagt: Von diesem Format inspiriert initiierte Mike Reichelt den Black History Month nach US-amerikanischem Vorbild in Deutschland. Seitdem finden im Februar Community-Events, Bildungs- und Erinnerungsaktionen statt.
In dieser Zeit wuchs Katharina Oguntoyes Bekanntheit stetig. Als politische Bildnerin wurde sie gemeinsam mit ihrer Frau Carolyn Gammon, ebenfalls Aktivistin und Autorin, zunehmend eingeladen. Deutschlandweit klärten beide in Workshops über Rassismus auf. Häufig seien sie von Frauengruppen angefragt worden. Denn im mehrheitlich weißen Feminismus wurden Schwarze Frauen lange ebenso unsichtbar gemacht wie gesamtgesellschaftlich.
Bereits mit 16 Jahren nannte sich Katharina Oguntoye dabei selbst eine Feministin. „Ich bin zum Kiosk gerannt, als 1977 die erste Ausgabe der Zeitschrift Emma erschien“, beschreibt sie. Frauenarmut, Gewalt gegen Frauen, der Gender-Pay-Gap wurden in den kommenden Jahren ihre großen Themen. Mit 26 Jahren bekannte sie sich als lesbisch; das sei ihr erstes Coming-out gewesen. „Mein zweites Coming-out war das Schwarzsein. Du musst den Mut haben, dazu zu stehen. Denn in dem Moment, in dem du dich mit deinem Schwarzsein auseinandersetzt und auf Rassismus reagierst, kannst du nicht mehr wegsehen, wenn Schwarze Menschen angefeindet werden. Du eckst an und wirst auch Freund*innen verlieren.“
Kampf ums Überleben
Lange wurde ihre Arbeit in der weißen Mehrheitsgesellschaft nicht ernst genommen: „Wir sind unter dem Radar geflogen. Es wurde lange negiert, dass es einen berechtigten Bedarf an Sichtbarkeit für Schwarze Deutsche gab.“ Erst die Ermordung von George Floyd habe in ihrer Wahrnehmung dazu geführt, dass weiße Menschen Rassismus zumindest punktuell erkannt haben, auch die Gewalt und daraus resultierenden Konsequenzen für Schwarze Menschen. Zweifelsfrei zu spät. Ebenso wie die Anerkennungen, die Katharina Oguntoye für ihre Arbeit in den letzten Jahren erhalten hat. „Diese Preise gebühren vielen Menschen“, sagt sie knapp und verweist auf den kräftezehrenden Einsatz und die Überlebenskämpfe der Community.
Und was kommt als nächstes? Für den Herbst plant Oguntoye ein privates Treffen: den „Tea-Talk-Generationsaustausch“. Das Format ist doppeldeutig gemeint. Einerseits gibt es einen Garten im Hinterhaus, in dem sich tatsächlich gut Teetrinken lässt, andererseits soll das „T“ für Transgender stehen – das Gesprächsthema der Runde.
Wenn Katharina Oguntoye nach einer Hüftoperation im kommenden Jahr wieder Laufen kann, soll die Kunst wieder eine größere Rolle spielen. Sie plant eine Kreativwerkstatt, als Nachfolge der „Galerie JolibaZWO“. Auf dem großen Tisch im Eingangsbereich sollen dann Nähmaschinen und Holzwerkzeuge stehen, um unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Genau hier, an diesem so zentralen Ort für die Community. Er liegt in der Audre-Lorde-Straße. Erst im April wurde ein Teilabschnitt der Straße umbenannt. Zur Einweihung hielt Katharina Oguntoye eine Rede. Audre Lorde zähle zu den Menschen, die uns inspirieren, erklärte sie damals. Und auch: „Schwarze Menschen sind trotz der mittlerweile etablierten Community oft noch allein.“
Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.