Text: Philine Schlick — Fotos: Andrea Kisslinger
„Bin ich zu früh?“ Theresa Wießmanns Gesicht hellt sich auf, als die erste Teilnehmerin ihren Kopf zaghaft durch die Tür steckt. „Nein, komm rein“, entgegnet Wießmann. Die Terrassentür steht weit offen zum Stoßlüften, Sauerstoff wird in den nächsten neunzig Minuten wichtig sein, wenn sich Vereinsraum der Freiburger Hilfsgemeinschaft in ein Sportstudio verwandelt.
Auch Lukas Oettle hat sich gleich erhoben, begrüßt und hilft bei der Koordination. Die Toilette draußen auf dem Flur wird als Umkleide genutzt. Oettle verteilt Sportschuhe, Matten, kleine Hanteln. Das größte Paar reicht eine Teilnehmerin gleich an ihr Gegenüber weiter: „Die nimmst du doch immer!“ Ein dankbares Lächeln. Die wenigen Minuten vor Trainingsbeginn werden mit Gesprächen über die Familie, die Lebensmittelpreise oder die aktuelle Verfassung gefüllt.
Dicht an dicht liegen die Sportmatten – jede einzelne gespendet wie das restliche Equipment auch. Eine Teilnehmerin mit Rollstuhl bezieht inmitten der bunten Inselgruppe noch Position – und Lukas Oettle drückt die Playtaste.
Schweißperlen auf straffer Haut, Muskeln unter hautenger Funktionskleidung, der nächste gebrochene Weltrekord, Freudentränen auf dem Siegertreppchen und in der Werbepause ein hochwirksamer Protein-Shake – Geschmacksrichtung Macadamia-Melba. Sport hat häufig das Image einer fernen Idealwelt. Was zählt und fasziniert, ist Leistung. Lukas Oettle und Theresa Wießmann aber haben in Freiburg den Verein Benefit gegründet, weil sie Sport ganz anders verstehen: „Das Spannende ist eigentlich die Gemeinschaft.“
Die zehn Teilnehmenden folgen konzentriert Oettles Anleitung. Aus den Boxen klingt treibende elektronische Musik. Oettle beschreibt die nächste Übungsabfolge mit sanfter Stimme. Beide Arme hoch, hüftbreiter Stand und in die Knie gehen. „Aber nur so weit, wie es sich gut anfühlt“, erinnert er. Zu jeder Übung bietet Lukas Oettle eine Variation an, damit niemand über eigene Grenzen gehen muss. Es ist okay, Pausen zu machen, Übungen abzubrechen, auszulassen. Es soll eine Atmosphäre entstehen, in der nicht gemaßregelt, beurteilt oder gegängelt wird. „Alle machen mit, so gut sie können“, fasst der Trainer zusammen.
Zugangshürden im Sport
Oettle und Wießmann studierten in Freiburg Sportwissenschaften. Oettle hat mittlerweile promoviert und Benefit zu seinem Forschungsprojekt gemacht. Beide arbeiten in Teilzeit für den Verein, in dem sich immer wieder praktisch beweist, was Untersuchungen nahelegen: Bewegung bewirkt nicht nur physisch, sondern auch psychisch und sozial Verbesserungen. Doch sie ist längst nicht für alle zugänglich.
Ein trainierter Körper, Teamgeist, Erfolg: Solche sportlichen Versprechen sind in Fitnessclubs und Vereinen oft an ganz konkrete Bedingungen geknüpft – sichtbar oder auch unsichtbar. Mitgliedsbeiträge zum Beispiel, geeignete Kleidung, „die richtigen Kreise“, ein fester Wohnsitz, Sprachkenntnisse. Wer in Deutschland weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, gilt als arm. Und Armut macht nicht nur einsam und unzufrieden, sondern auch krank. Die Gesundheit hängt maßgeblich von Bildung, Einkommen und Beschäftigung ab: je niedriger, desto höher das Risiko für Krebs, Schlaganfälle, Diabetes. Dass Arbeitslosigkeit und Armut das Sterberisiko verdoppeln, das belegte schon 2019 eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung.
In einem Uni-Seminar waren einmal die Zielgruppen sportlicher Betätigung das Thema, erzählt Oettle. Er habe bei der Aufzählung Angebote für Armutsbetroffene vermisst: „Für mich war das verwunderlich, weil es aus wissenschaftlicher Perspektive naheliegend war – gesundheitlich und sozialintegrativ.“ Theresa Wießmann verdeutlicht: „Sport hilft zu sprechen, sich zu äußern.“ Aber arme Menschen rutschen bereits an diesem Punkt meist durchs Raster.
Dieses Phänomen war Theresa Wießmann und Lukas Oettle schon aus ihren Einsätzen bei der Freiburger Hilfsgemeinschaft oder der Tafel bekannt. Die unangenehme Faustregel könnte lauten: Je geringer die Kaufkraft, desto schwindender die Beteiligung. Oettle beschloss, die Problematik zum Schwerpunkt seiner Masterarbeit zu machen. Dafür allerdings brauchte er ein konkretes Projekt – und die Idee für Benefit war geboren.
Ausrüstung und Ausflüge
„Viele Angebote der Krankenkassen sind darauf angelegt, die Menschen schnell wieder fit zu machen. Sie bedienen nur den gesundheitlichen Aspekt“, sagt Lukas Oettle. „Wir aber wollen Menschen zusammenbringen.“ Auf dem Programm stehen Kampfkunst, Tanz, Fußball, Laufen, Schwimmen. Die Nordic-Walking-Gruppe wird heute von ehemaligen Teilnehmenden geleitet und hat sich verselbstständigt, ebenso die Gruppe „Samstagsspaziergang“.
Am beliebtesten sind die Fitnesskurse am Sonntag, die in einer großen Halle stattfinden und jede Woche einen neuen Kursinhalt haben. „Wir versuchen, alle Wünsche zu erfüllen, soweit es uns möglich ist.“ Hin und wieder biete Benefit auch Theaterbesuche und Spielenachmittage an, vor allem aber gehe es um „Bewegung, die durch Wiederholung Veränderung erzielen soll“.
Das Angebot von Benefit ist breit gefächert – nicht nur im sportlichen Sinne. Der Verein lässt etwa Kursteilnehmende mitentscheiden und stellt Ausrüstung, lädt zu Feierabendrunden und Ausflügen ein – alles kostenfrei. „Eine Teilnehmerin hat mal einer Freundin von Benefit erzählt und gesagt: ‚Komm ruhig mal vorbei. Du kannst auch einfach dabei sitzen und musst kein Geld ausgeben‘“, erzählt Wießmann. „Das ist mir voll im Kopf geblieben!“
Denn die meisten Orte und Möglichkeiten von Zusammenkunft sind an Konsum gebunden – sei es durch ein gemeinsames Getränk, ein Abendessen nach der eigentlichen Veranstaltung. Für Menschen, die sich das nicht leisten können, entstehe Druck und Scham. Und das könne wiederum dazu führen, dass Menschen sich zurückziehen und das Selbstvertrauen verlieren.
Gestartet ist Benefit im Sommer 2021. Im Vorfeld hatten Theresa Wießmann und Lukas Oettle an einschlägigen Orten wie Verteilstationen von kostenloser Kleidung und Essen geflyert und Personen direkt angesprochen. Denn auch mangelnde Erreichbarkeit könne ein Problem von Armut sein: ohne Geld kein Smartphone, ohne Wohnsitz kein Internetanschluss.
Vor dem Start sei die Zielgruppe noch unbekannt gewesen: Welche Menschen melden sich? Warum nehmen sie teil? Warum nicht? „Bei unserem ersten Schnupperkurs standen wir im strömenden Regen unter einem Vordach und haben erstmal Corona-Tests verteilt“, erinnert sich Wießmann. Eine Handvoll Interessierter hatte sich eingefunden. Mittlerweile nehmen an den Kursen regelmäßig 40 bis 70 Menschen zwischen 18 und 75 Jahren teil, die an klassische Sportvereine aus unterschiedlichen Gründen nicht andocken können oder möchten. Was alle eint, ist die Lust auf Bewegung, Gemeinschaft, Austausch.
Gemeinsam Sport treiben
Für das Team bedeutet das, flexibel zu sein, wenn es um die Erfüllung der unterschiedlichen Bedürfnisse geht. „Wir wollen Lösungen im Gespräch finden, keine Pläne vorsetzen, sondern aus Ideen entstehen lassen. Das Grundgefühl, das wir vermitteln wollen: ‚Wir bauen das hier gemeinsam auf‘“, beschreibt Lukas Oettle. „Wir versuchen unsere Angebote möglichst inklusiv zu gestalten, so dass viele Menschen teilnehmen können“, ergänzt Theresa Wießmann. „Es kommen Menschen mit ganz unterschiedlichsten Hintergründen und Voraussetzungen.“
Benefit hat es sich zum Anspruch gemacht, das Angebot möglichst barrierearm zu gestalten. Das Konzept werde ständig ausgelotet, zum Beispiel bei einem Sportfest unter freiem Himmel auf einem Freiburger Kirchplatz. Dort wurden von einer Bühne aus sportliche Übungen in drei Varianten „gedolmetscht“: für stehende und für zwei unterschiedliche sitzende Positionen.
„Sport ist in erster Linie ein sozialer Raum“, sagt Wießmann. „Für uns zählt die Frage: Wie fühle ich mich wohl in Gesellschaft?“ Es passiere ganz zwangsläufig, dass Vertrauen wächst und Vorbehalte schwinden. Gemeinschaftlicher Sport verlangt auch den Mut, sich verletzlich zu zeigen. „Besonders emotional ist der Schwimmkurs“, erzählt sie. Menschen stellen sich hier ihren Ängsten, erobern sich das schwierige Medium Wasser, lassen sich tragen.
Auch das Netzwerk um den Verein trägt, beobachtet Wießmann – und das weit über die Kurse hinaus. Wenn sich Menschen im Alltag wiedererkennen und einander grüßen. Wenn sie beim Schnüren der Laufschuhe über ihren Alltag plaudern. „Ich nehme von jedem Austausch etwas mit – über andere Lebensrealitäten, andere Sichtweisen.“ Sie erinnert sich, wie sie einmal auf der Straße eine Kursteilnehmerin traf, beide waren arg gestresst. Wießmann musste zu einem Meeting, die Frau schnell zum Papiercontainer, um vor dem Leeren ihre Zeitung noch zu erwischen. Beide konnten kurz Dampf ablassen über das blöde Gefühl, unter Druck zu stehen. Dann ein Winken: „Bis nächste Woche!“
Die Frage nach dem Geld
Sportliche Begegnungen helfen dabei, Stereotype abzubauen und Belastungen zu mindern: gesundheitliche, soziale, psychische. „Es ist eine große Sache, wenn die Menschen zum Sport kommen und sich eine Gruppe bildet“, betont Wießmann. Was die Kurse von Benefit erlebbar machen, belegen die gewonnenen Erkenntnisse auch wissenschaftlich. Genauso von Vorteil Vorteil ist, dass viele Kursgebende am selben Sportinstitut studieren, an dem Lukas Oettle promoviert. So können Forschungsergebnisse direkt angewendet werden. „Lerneffekte auf allen Seiten“, sagt er. „Sport verändert und aktiviert – und das in vielerlei Hinsicht.“
Die Vereinsgründung von Benefit 2021/2022 war trotz allem ein echter Kraftakt. Finanzen, Buchhaltung, Projektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit – all das mussten sich Theresa Wießmann und Lukas Oettle erst aneignen. Auch die Frage: „Wie gebe ich überhaupt gute Kurse?“ Das ständige Hoffen auf die Genehmigung von Förderanträgen, während parallel dazu das Sportprogramm läuft – das ist bis jetzt geblieben. Hinzukommen Planungstreffen und Mitgliederversammlungen. „Es ist schon ein krasser Workload“, meint Wießmann, die neben Benefit hauptberuflich in einem Freiburger Unternehmen arbeitet.
„Wir stecken in einem Konstrukt, in dem es echt schwierig ist, Einnahmen zu bekommen“, sagt Lukas Oettle. „Eigentlich müssten wir viel mehr Lobbyarbeit machen.“ So reift die Überlegung, sich als Sportverein anzumelden, um Zuschüsse beantragen zu können. Auch Mitglieds- und Solibeiträge werden momentan diskutiert, um Nicht-Mitgliedern die Teilnahme an Angeboten kostenfrei zu ermöglichen. Aber: Es soll kein Gefälle entstehen. Ein Balanceakt, der noch einige Abstimmungen braucht. Viele möchten Benefit gerne auf diese Weise finanziell unterstützen – aber Geld soll weiterhin keine Bedingung sein, obwohl es natürlich gebraucht wird.
Im improvisierten Fitnessstudio in den Räumen der Freiburger Hilfsgemeinschaft ist derweil Halbzeit. Arme und Beine ausschütteln, kurz den Nacken dehnen und mit dem Handtuch das Gesicht trocknen. Ermunternde Blicke, zuversichtliches Nicken. Sport frei.
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