Hinterland — Ocean Hale

Während Anti-AfD-Proteste in Großstädten die Berichte dominieren, lässt sich das Motto „Wir sind mehr“ im ländlichen Sachsen kaum verwirklichen. Hier braucht es einen kontinuierlichen Einsatz, der an die Substanz geht. Unterwegs in Döbeln.
20. Februar 2024
6 Minuten Lesezeit
Text: Melanie Skurt — Fotos: Karla Schröder

Es sind kleine Dinge im Alltag, die Ocean Hale zeigen, dass sich das Leben im sächsischen Döbeln von anderen unterscheidet. Da ist zum Beispiel dieser eine Handgriff, der inzwischen automatisiert abläuft: „Wenn ich abends ins Auto steige, mache ich die Verriegelung rein, damit niemand von außen die Türen öffnen kann.“

Das ist nicht nur eine Sicherheitsmaßnahme, sondern genauso Ausdruck einer generellen Wachsamkeit. Besonders für queere Menschen und für diejenigen, die sich in ländlichen Gegenden Sachsens gegen rechts stellen. Denn Einschüchterungsversuche gibt es immer wieder. Gerade jetzt, wo bundesweite Demonstrationen die Nachrichten bestimmen. Aber – und das ist entscheidend: Sie fruchten nicht. Weil die, die aufstehen und sich nach außen zeigen, offen agieren, Gesicht zeigen und nicht weichen werden. Zu ihnen gehört Ocean Hale. 

Mit der Gruppe „Queeres Döbeln“ ist Ocean Hale seit Wochen präsent im Anti-AfD-Protest, viel länger aber schon aktiv, wenn es darum geht, Döbeln antifaschistisch, rassismuskritisch und solidarisch gegenüber marginalisierten Gruppen zu denken und auch zu leben.

Nach den Correctiv-Recherchen meldete Ocean Hale gemeinsam mit anderen Personen am 21. Januar eine erste Demonstration an. Rund 500 Menschen hat dieser Aufruf mobilisiert; in der Woche darauf kamen noch 400. Und auch in der benachbarten Kleinstadt Waldheim, wo seit Jahren jeden Montag Neonazis den öffentlichen Raum einnehmen, ist Ocean Hale im Team des neu entflammten Gegenprotests organisiert – dem Bündnis Bunte Perlen.

Die Motivation für dieses Engagement beschreibt Ocean Hale als zwingend: „Mein Gefühl war, dass das nicht nur Aufgabe der Großstädte ist, sondern gerade Kleinstädte Präsenz zeigen sollten.“ Genau hier, wo rechten Kräften nicht aus dem Weg zu gehen ist: „Immer dann, wenn in Döbeln etwas gemacht wird, gibt es auch eine rechte Gegendemo.“

Hier, wo Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke 2019 auf Wahlkampf ging und breiten Protest auslöste; hier, wo 2023 ein Video Schlagzeilen machte, das zeigt, wie Neonazis mit Hakenkreuz und Reichsadler eine Gartenparty feiern. Auch Ocean Hale kann von solchen Begegnungen erzählen, von früher Politisierung und Aktivismus im ländlichen Raum. 

Schutzräume schaffen

Ocean Hale ist in Döbeln geboren, aufgewachsen und – immer noch da. Im Gegensatz zu vielen befreundeten Menschen. Es gab einen Grund zu bleiben: den Verein Treibhaus. Das soziokulturelle Zentrum wurde bereits mit 13, 14 Jahren zu einem zweiten zu Hause, erzählt Ocean Hale. „Mir war früh klar, dass ich mich politisch engagieren wollte und hier ging das. Viele Kleinstädte im Hinterland haben so einen Anker gar nicht. Das ist wirklich ein Halt für progressive Kräfte in der Region.“

In jungen Jahren hätten hier Veranstaltungen und auch Konzerte zur Meinungsbildung, zur Reflexion über gesellschaftspolitische Entwicklungen beigetragen — ebenso wie das Outing, das etwa in dieselbe Zeit fiel. „Ich habe mich schon zu Schulzeiten geoutet. Damals noch als bisexuell, mittlerweile als pansexuell. Ich habe viel positives Feedback bekommen. Es kam in den ersten Jahren nie zu wirklichen Anfeindungen.“ 

Weil viele Menschen das anders erlebten und Gewalt gegen queere Personen generell steigt, wollen Ocean Hale und andere Sichtbarkeit schaffen und die queere Community verbinden. Deshalb findet in diesem Jahr der dritte CSD in Döbeln statt. Das Netzwerk „Queeres Döbeln“ trifft sich außerdem zweimal im Monat im Treibhaus. In der Kleinstadt ist so eine nachhaltige Struktur entstanden – ein Anlaufpunkt vor Ort und ein Schutzraum, in dem Wissen geteilt und gegenseitiger Support gelebt wird. Seit drei Jahren leitet Ocean Hale die 30-köpfige Gruppe. 

Diese aktivistische Arbeit aber wird immer schon von Neonazis angegriffen. Zweimal wurden Buttersäureanschläge auf den Döbelner CSD verübt, erzählt Ocean Hale. „Beim ersten CSD gab es auch eine Gegendemo der NPD unter einem antisemitischen und queerfeindlichen Slogan. Es werden Sticker mit Hakenkreuzen verteilt. Und überall in der Stadt ist ,Döbeln bleibt braun, Döbeln bleibt deutsch’ zu lesen“.

Mit der Pandemie habe sich die Stimmung nochmal verändert, sagt Ocean Hale. Gegenwärtig sei eine junge Generation radikal-rechter Menschen präsent im Stadtbild – und in Aktionen. „Das ist sozusagen die Kindergeneration der alten Nazis aus den Baseballschlägerjahren.“ 

Dass mit den bundesweiten Anti-Rechts-Demonstrationen nun tatsächlich etwas Bewegung kommt, darauf hoffen viele, auch Ocean Hale. Es scheint, als wache die lange so schweigsame Mehrheit auf. Dieser neue Schwung strahle aus und schaffe Bilder, die im besten Fall noch mehr Menschen anziehen. All das sei ermutigend. Und dennoch merkt Ocean Hale auch, wie die Provinz inmitten dieser Welle der Positionierung manchmal vergessen wird.

„Nachdem wir beim ersten Protest in Waldheim in der Unterzahl waren, habe ich für die zweite Demo über Instagram alle Kanäle angeschrieben, die mir eingefallen sind: Bands, Parteien, Organisationen, Schauspielende. Und das Feedback war toll: ZSK, Kafvka, Swiss, Bosse haben den Post geteilt, auch ,Leipzig nimmt Platz’, ,Chemnitz nazifrei’, ,Dresden wiedersetzen’. Das hat uns gepusht. Ich habe gedacht, das hilft. Vor Ort waren wir aber wieder in der Unterzahl.“ 

Großstadt-Perspektive

Mit einem Gefühl der Ohnmacht steht Ocean Hale an diesem Demo-Abend mit 250 Menschen etwa 300 Neonazis gegenüber. „Die stehen dort nicht einfach, die haben kaum Redebeiträge, die rufen nichts, die haben Trommeln und marschieren da mit ihren Instrumenten und mit ihren Flaggen durch die Stadt. Das ist wirklich krass beängstigend.“

Auch auf Instagram macht Ocean Hale diesem Frust Luft: „Wir sind enttäuscht und fühlen uns allein gelassen […] Antifaschismus bedeutet mehr als Beiträge zu teilen und entspannte Großstadtdemos zu besuchen.“ Und so bleibt in diesem Moment ein komplett konträres Bild im Kopf: Mitte Januar muss in Hamburg eine Demo gegen rechts wegen Massenandrangs abgebrochen werden – in Waldheim erhält sich der Status quo. Und Engagierte setzen viel dafür ein, etwas an diesem Zustand zu ändern.

In ländlichen, kleinstädtischen Regionen, wo rechte Einflussnahme Alltag bedeutet und Gegenrede von Menschen wie Ocean Hale aktiv betrieben wird, fehlt es häufig auch an der Solidarisierung der eigenen Stadtgesellschaft. Die Mobilisierung ist herausfordernd – auch wenn inzwischen durchaus mehr Menschen allen Alters und Milieus den Weg zum Protest fänden. „Da hat sich schon etwas getan, aber trotzdem müssen wir weiter wachrütteln, mehr für Politik interessieren und ins Gespräch kommen. Es sind bald Kommunal-, Landtags- und Europawahlen – da kann auch niemand aus der Großstadt für uns wählen gehen.“

Und die Realität sähe ehrlicherweise ohnehin ernüchternd aus. „Wir sind 20 000 Menschen in Döbeln. Und wir fühlen uns stark, wenn wir mit 400 Leuten dastehen. Aber das ist ja eigentlich eine Lachnummer. Eigentlich müssten da 3 000 stehen.“ 

Was der breit organisierte Protest gegen die AfD auch zeigt: Die Tatsache, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen plötzlich zusammen agieren, sorgt für grundlegende Debatten. Vor allem Antifa-Gruppen werden durchaus kritisch beäugt. Jene Netzwerke und Bündnisse, die seit Jahrzehnten rechte Strukturen aufdecken und darüber aufklären, die Position beziehen und vielfach Bildungsarbeit leisten, drohen gecancelt zu werden – von bürgerlichen Kräften.

Das kann auch Ocean Hale berichten: „Wir haben bei unseren Demos aufgepasst, dass bei der Songauswahl nichts mit ,Nazis aufs Maul’ dabei ist. Wir haben Songs gespielt, in denen es um Liebe, um Einheit und sowas geht. Wir haben darauf geachtet, dass eine Bandbreite an Reden da ist. Wir haben ein Open Mic, das jeder Mensch nutzen kann. Wir haben alle demokratischen Parteien eingeladen, auch wenn wir nicht alles von denen unterstützen. Die Kirche hat auf der Demo gesprochen. Aber es gibt immer wieder Leute, die sagen: ,Wir würden ja kommen, aber da sind Antifa-Flaggen, die stören uns. Und die Musik, die ist zu linksextrem. Ihr vertretet keine bürgerliche Mitte, ihr seid uns zu links.’“

Linke Kräfte vernetzen

Ocean Hale lassen solche Reaktionen ratlos zurück: „Ich weiß einfach nicht, warum das Wort Antifa so negativ besetzt ist und stigmatisiert wird. Entweder bist du Faschist oder du bist Antifaschist. Es gibt einfach keine neutrale Meinung zum Faschismus.“

Und dieser Richtungsstreit ist auch längst noch nicht beendet. Wie viel Kraft Ocean Hale und Gleichgesinnte in solche Debatten investieren werden, ist unklar. Denn genau das sei es, was demokratische, zivilgesellschaftliche Bewegungen letztlich bremse, vielleicht auch breche: „Wenn wir uns auf Unterschiede statt Gemeinsamkeiten konzentrieren, dann werden wir nicht vorankommen“, meint Ocean Hale.

Deswegen wird aktuell an einer stärkeren Vernetzung im ländlichen Sachsen gearbeitet. „Wir versuchen, die aktive Linke näher zusammen zu bringen, damit – falls wirklich etwas passiert, im Sinne von politischen Umschwüngen – wir Leute haben, mit denen wir zusammenstehen.“

Das betrifft aber nicht mal nur das Szenario, dass die AfD in entscheidende Machtpositionen kommt. Ocean Hale erinnert daran, dass viele progressive Kräfte im Land Sachsen schon jetzt in ihrer Arbeit eingeschränkt werden. Dem Leipziger Verein Rosalinde für queere Begegnung, Bildung und Beratung wurden jüngst Fördermittel nicht bewilligt und damit Bildungsprojekte an Schulen gestrichen. Genauso betroffen ist der sächsische Flüchtlingsrat. Im Zuge einer Novellierung von Förderrichtlinien musste der Verein Projekte einstellen – darunter Beratungen für Geflüchtete, um sich inmitten deutscher Bürokratie zurechtzufinden. 

Auf die Frage, wie Ocean Hale in dieser schwierigen Gemengelage auf die nächsten Monate blickt, scheinen die dystopischen Szenarien zu überwiegen. Da sei nicht nur die Angst, dass konservative Politik – und schlimmer noch die AfD – Vereine kaputtmachen könne, indem Fördermittel entzogen werden. Da ist vor allem auch die Sorge, dass sich rechtsextreme Gruppen weiter bestärkt fühlen in ihrem Tun.

„Wenn sie wissen, dass sie Parteien an der Macht haben, die deren Meinung vertreten, wird es sicher mehr zu körperlichen Angriffen kommen, zu Verfolgungen, zu Unterdrückungen“, meint Ocean Hale. „Und deshalb mache ich das alles: Ich und wir stellen uns denen entgegen.“

Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen. Unser Selbstverständnis: Journalismus mit Haltung. Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.

Weiterlesen

Flagge zeigen — Marcel Spittel

Die Regenbogenfahne am Bahnhof hat der Stadtrat in Neubrandenburg verboten, der Oberbürgermeister erklärte daraufhin seinen Rücktritt. Was bedeutet das für die queere Szene in der Stadt? Ein Besuch bei CSD-Organisator Marcel Spittel.

Unter Nazis — Jakob Palm

Als in seiner Kneipe ein Freund von Neonazis attackiert wird, gründet Jakob Palm einen Verein gegen rechts. Mit Gleichgesinnten streitet er für eine klare Haltung in einer Gemeinde, die als Pilgerort unter Ewiggestrigen und Hitler-Fans gilt.

Auf ein Wort — Jessy James LaFleur

Jessy James LaFleur macht das, was die demokratischen Parteien zulange schon versäumt haben: Sie geht aufs Land. An Orte, die anfällig sind für rechte Parolen und völkische Gedanken. Hier streitet sie für ein anderes Narrativ vom „Osten“.

Ostblick — Kolumne Jakob Springfeld

Am Sonntag wird in Thüringen und Sachsen gewählt – und die Bilder bestimmen die extrem Rechten. Drängende politische Themen bleiben bei all dem auf der Strecke und progressive Proteste gehen unter. Die Empörungslogik funktioniert.

Widerstand — Ost-Wahlen

Antidemokratische Kräfte greifen bei den Wahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen nach der Macht. Die wehrhafte Zivilgesellschaft hält dagegen. Eine Recherchereise durch den Osten: zwischen linkem Protest und rechter Stimmungsmache.

Journalismus mit Haltung

Mit Veto geben wir Aktivismus eine mediale Bühne und stellen all jene vor, die für Veränderung etwas riskieren. Veto ist die Stimme der unzähligen Engagierten im Land und macht sichtbar, was sie täglich leisten. Sie helfen überall dort, wo Menschen in Not sind, sie greifen ein, wenn andere ausgegrenzt werden und sie suchen nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme.

Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

Veto gab es bis Sommer 2022 auch als gedrucktes Magazin. Doch die extrem gestiegenen Preise für Papier, Druck und Vertrieb wurden für uns zur unternehmerischen Herausforderung. Gleichzeitig bekamen wir Nachrichten aus der Community, dass sich viele ein Abo nicht mehr leisten können. Wir waren also gezwungen, das gedruckte Magazin nach insgesamt zehn Ausgaben (vorerst) einzustellen.

Aber – und das ist entscheidend: Es ist keinesfalls das Ende von Veto, sondern der Beginn von etwas Neuem. Denn in Zeiten multipler Krisen wird Veto dringend gebraucht. Um Hoffnung zu geben, zu verbinden, zu empowern und zu motivieren. Deshalb machen wir alle Recherchen und Porträts kostenfrei zugänglich. Denn: Der Zugang zu Informationen über Aktivismus und Engagement darf keinesfalls davon abhängen, was am Ende des Monats übrig ist.

Transparenzhinweis

Veto wird anteilig gefördert von der Schöpflin Stiftung, dem GLS Treuhand e.V., dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und der Bürgerstiftung Dresden. Bis 2022 war auch die ZEIT STIFTUNG BUCERIUS beteiligt. Der Aufbau der Webseite wurden realisiert durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung (2019) und des Förderfonds Demokratie (2020).

Du kannst uns mit einer Spende unterstützen: DE50 4306 0967 1305 6302 00 oder via PayPal.