Text: Susanne Kailitz — Fotos: Jan Ladwig
Es gibt bestimmte Daten, die wird Stephan Anpalagan nie mehr vergessen. Nicht nur, weil sie sich tief in das öffentliche Gedächtnis gegraben haben. Auch, weil sie Einfluss auf sein eigenes Leben hatten, auf seine Art zu denken und zu leben.
Der Brandanschlag von Solingen vom Mai 1993 sei seine erste „politische Erinnerung“, sagt der 36-Jährige. Bis heute sehe er die ausgebrannten Fenster des Gebäudes, in dem fünf Menschen starben, nachdem vier Männer mit rechtsextremem Hintergrund dort Feuer gelegt hatten, und die Särge der Opfer vor seinem inneren Auge.
Auch der 11. September 2001 wird für Stephan Anpalagan eine Zäsur bleiben. An dem Tag steuerten islamistische Attentäter entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers und das Pentagon, ein weiteres stürzte in Pennsylvania ab. Fast 3.000 Menschen starben – und in vielen Kommentaren wurde die Ansicht eines Journalisten der New York Times geteilt, der feststellte, der Anschlag sei „einer jener Momente, in denen die Geschichte sich teilt und wir die Welt als ‚vorher‘ und ‚nachher‘ definieren“.
Leben in Freiheit und Würde
Für Stephan Anpalagan lässt sich dieses „nachher“ klar beschreiben: Nach dem 11. September seien vor allem muslimisch aussehende Männer unter Generalverdacht geraten, „sie galten plötzlich per se als gefährlich“. Anpalagan kennt die Blicke, das kurze Zögern von Menschen, die ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen in eine Schublade stecken und dann anders behandeln als Menschen, denen ihre Herkunft nicht anzusehen ist. Anpalagans Eltern kommen aus Sri Lanka, sie sind Tamilen und flohen vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland.
Er kennt das Gefühl, als „Fremder“ wahrgenommen zu werden, obwohl Deutschland seine Heimat ist und ihn nichts mit dem Land seiner Geburt verbindet. Er hat den Alltagsrassismus erlebt, seit er denken kann – und ist genervt davon. Denn der bedeute auf einer tieferen Ebene, „dass du niemals, auch nicht nach Generationen in diesem Land, ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft sein kannst”.
Bei allem Frust hat Anpalagan sich das Gefühl von Demut bewahrt. Es sei eine Fügung des Schicksals gewesen, dass seine Eltern hätten fliehen können und es so möglich sei, „dass ich ein Leben in Freiheit, Würde und Sicherheit führen darf“.
AfD-Erfolg als Aha-Moment
Ein Privileg, das Stephan Anpalagan auch für andere will – in Deutschland aber für nicht selbstverständlich hält. Er stellt fest, dass Rechtsextremismus und Sexismus „flächendeckend“ bekämpft werden müssten, insbesondere mit dem Aufkommen der AfD sei eine „neue Dimension an Hass und Gewalt in der Mitte unserer Gesellschaft freigesetzt“ worden.
Dabei, so sagt er, sei er „gar nicht unfroh“ über das Aufkommen der Partei. „Ich hatte immer schon das Gefühl, dass 20 bis 30 Prozent der Deutschen stramm rechts denken. Aber nachdem es viele Jahre für dieses Gedankengut nur die recht einflusslose und parlamentarisch geächtete NPD gab, wurde den Menschen, die Rassismus tagtäglich erleben, immer wieder gesagt, das sei alles nicht so schlimm und sie sollten sich nicht so anstellen. Jetzt sehen wir, dass bundesweit 14 Prozent und im Osten sogar ein Viertel eine Partei wählt, die nur als erbärmliche Bande von Nazis bezeichnet werden kann.“
Massive Kritik an der Union
Deutliche Worte findet Anpalagan auch für die CDU – besonders nach der Wahl des thüringischen Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) mit den Stimmen der AfD und den Morden von Hanau.
Sie sei eine Partei, „die mit rechtsextremen Personen und Personengruppen kooperiert, um ihre eigene Macht zu erweitern und ihre politische Agenda voranzutreiben“, meint er in einem Gastbeitrag – und nennt die Union darin eine Partei, „die über Jahre hinweg völkische Ideologien duldet und Neonazis toleriert. Die den offenen Rassismus in Teilen ihrer Partei nicht einzudämmen bereit ist, solange sie mit ihm politische Gewinne erzielt. Und die dabei die Demontage der Demokratie und die nachhaltige Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Kauf nimmt, die sich in ihrer extremsten Form im rassistischen Terror von Halle und Hanau manifestiert.“
Es gebe eine strukturelle Verharmlosung des Rechtsextremismus durch weite Teile der CDU. Und es sei beängstigend, dass die Frage, ob Neonazis und Rechtsextreme vom demokratischen Diskurs ausgesperrt würden, von der CDU beantwortet werden müsse.
Zertifikat für die Arbeitswelt
Doch in Angst zu verharren, das ist nicht Anpalagans Sache. Die Entschlossenheit, eine gesellschaftliche Entwicklung, die ihn erschreckt, nicht kampflos hinzunehmen, treibt ihn an – und füllt seine Tage. Als Unternehmensberater hat der studierte Theologe ohnehin „eine 60-Stunden-Woche“. In der Zeit, die noch bleibt, tut Anpalagan vor allem eins: Er argumentiert gegen rechtes Gedankengut.
Als Autor verschiedener Plattformen wie heise.de oder Krautreporter, als Speaker bei großen Organisationen wie Amnesty International oder dem DGB – und unermüdlich auf Twitter. Alle Zeichenbeschränkungen ignorierend versucht Anpalagan dort, die Mechanismen des Rechtsrucks aufzuzeigen und fügt „die Puzzleteile zusammen“, die das Bild eines bedenklich großen Teils der deutschen Bevölkerung ergeben, der mit rassistischen und menschenfeindlichen Positionen konform geht.
Und dann ist da noch ein Vorhaben, über das Anpalagan schon lange nachdenkt und nun auch endlich umsetzen will: ein Demokratie-Zertfikat für die Arbeitswelt, für das Unternehmen sich auf ihre Werte checken lassen können.
Die Pflicht zum Engagement
Und für seine Idee konnte Anpalagan Lionel Benny begeistern. Geboren, aufgewachsen und sozialisiert in Deutschland hat Benny einen Teil seiner elterlichen Wurzeln auch im westafrikanischen Ghana. Als Unternehmer ist er sowohl in Deutschland als auch auf dem afrikanischen Kontinent tätig. Von seinen Reisen erzählt Benny gerne. Und auch er weist immer wieder darauf hin, welche Demut er darüber empfindet, in einem der reichsten Länder der Erde geboren worden zu sein.
„Ich empfinde die Freiheit nicht als gegeben an. Es scheint immer wieder notwendig zu sein, sich für eben diese einzusetzen und auch für ihren Erhalt zu kämpfen. Sich dabei gesellschaftlich zu engagieren, halte ich für eine Pflicht für alle, denen das möglich ist. Das fängt bei ganz kleinen Dingen an, wie ein Ehrenamt wahrzunehmen oder sich um seine Nachbarschaft zu kümmern.“
Über einen gemeinsamen Freund lernten sich die beiden kennen und merkten schnell, dass sie sich auf einer Wellenlänge wiederfinden – und genauso zügig war die Idee des gemeinnützigen Projekts „Demokratie in Arbeit“ geboren.
Signal an das Firmenumfeld
„Nicht zuletzt durch die Entwicklungen der letzten Jahre, das Erstarken des politischen Populismus und weiteren bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen finde ich“, so Lionel Benny, „dass es wichtiger denn je ist, Haltung zu zeigen und seinen Beitrag für den Erhalt einer freiheitlichen Gesellschaft zu leisten.“
Zugegeben: Ein Demokratie-Zertifikat könne auch Teil einer Strategie von Firmen sein, „sich nach außen reinzuwaschen“. Allerdings nehme er wahr, dass das Thema in vielen Unternehmensführungen als durchaus wichtig erachtet werde. „Auch die Kundschaft und potentielle Arbeitnehmende wollen immer genauer wissen, ob ihre eigenen Werte auch in der Arbeitswelt gelebt werden“, ergänzt Stephan Anpalagan.
„Und die Suche nach dem Sinn macht vor der Arbeitswelt eben nicht halt.“ Nicht erst seitdem der Begriff „war for talents“ – zu Deutsch „Krieg um Talente“ – Einzug in den Sprachgebrauch der Personalabteilungen gehalten habe, stellten sich Unternehmen immer mehr die Frage, wie sie qualifizierte Arbeitskräfte gewinnen können.
Wenn die Masse falsch liegt
Neben Transparenz und Authentizität erlange das Thema der Haltung so immer mehr Gewicht bei der Wahrnehmung der Attraktivität künftiger Arbeitsplätze. Gute Beispiele gebe es mittlerweile aber schon viele, weiß Anpalagan, etwa eine Restaurant-Kette, die Franchise-Nehmende dazu verpflichte, in sozial sinnvolle Maßnahmen zu investieren. Aktuell stehen er und sein Partner Lionel Benny im Austausch mit verschiedenen institutionellen Organisationen, um das Zertifikat bald auf den Weg bringen zu können.
Bis es soweit ist, wird Anpalagan, der Mann mit dem markanten Vollbart, weiter twittern – und sich dabei vor allem gegen eine Annahme wehren: „Die Idee, dass bestimmte Überzeugungen deshalb richtig sind, weil sie von vielen Menschen vertreten werden, ist absurd.“ Gedanken und Meinungen, die zur Abwertung anderer aufgrund von deren Herkunft führten, seien „einfach niemals richtig. Das ist die Prämisse von allem.“
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