Bevormundet — Praxistermin

Menschen, die eine gynäkologische Praxis aufsuchen, brauchen Hilfe und Rat – aber keine Bevormundung. Doch Klischees wirken bis tief in die Intimsphären von Menschen hinein und stehen damit einer sensiblen Behandlung im Weg.
18. Juli 2024
3 Minuten Lesezeit
Text: Sara Grzybek — Fotos: Martin Lamberty

„Verhüten Sie?“ Es ist wohl eine der gängigsten Fragen in gynäkologischen Praxen. Und oft wird sie gleich beim allerersten Besuch gestellt. Standard, oder? Dabei kann gerade diese Frage unheimlich große Auswirkungen haben. Sie kann beispielsweise der Beginn einer eher unangenehmen Beziehung mit den Behandelnden sein. Schlimmstenfalls bewirkt sie, dass Menschen sich gezwungen sehen, direkt eine neue Praxis aufzusuchen. Übrigens eine echte Herausforderung, gerade im gynäkologischen Bereich. Viel Glück dabei!

Aber warum denn, werden jetzt einige denken!? Diese Routine-Frage kann dazu führen, dass sich eine Person outen muss. Dass sich eine Person genötigt fühlt zu erklären, dass auch ohne Verhütung keine Kinder gewünscht sind. Weil die Person keinen heteronormativen Sex hat zum Beispiel. Oder weil die Person gar keinen Sex hat – und sie dem aromantischen oder asexuellen Spektrum angehört. Oder aus einer Million anderer Gründe, die sie an dieser Stelle wahrscheinlich nicht teilen möchte. Kurzum: Fragen, die nicht der Behandlung dienen, können schnell in Bevormundung münden – und die ist ein generelles Problem in der Gynäkologie.

Bevormundung findet statt, wenn andere Menschen Entscheidungen für dich treffen wollen, ohne deine Meinung in Betracht zu ziehen. Wir kennen es aus familiären Kontexten – wenn Eltern für ihre Kinder entscheiden: was sie essen, was sie anziehen, wann sie ins Bett sollen. Und so weiter. In diesem Kontext oder auch in bestimmten Altersgruppen mag es noch Sinn ergeben, weil es um Schutz geht. Passiert das allerdings mit einer mündigen Person, ist es Bevormundung. Gerade in der Medizin ist die Balance zwischen Fürsorge und Bevormundung eine Gratwanderung, die viel vom Kenntnisstand der Behandelnden abhängt.

Wenn eine weiblich gelesene Person Geschlechtsverkehr hat, nicht verhütet, aber dennoch nicht schwanger werden möchte, reagieren viele Gynäkolog*innen mit Stirnrunzeln – und mit Nachfragen. Nicht nur, dass angenommen wird, Personen mit Uterus müssten sich qua ihrer Geschlechtlichkeit um die Verhütung kümmern. Patient*innen müssen sich gegenüber den Behandelnden erklären: Warum sie wie weshalb verhüten und weshalb vielleicht doch nicht …

Das Kinderwunsch-Thema

Häufig äußern Gynäkolog*innen dann Dinge, die viel von ihrer eigenen Voreingenommenheit preisgeben. Wenn das durch eine Fachperson geschieht, von der Hilfe erwartet wird, kann das richtig nerven, verunsichern und auch Angst machen. Und schließlich dafür sorgen, dass eine Behandlung oder Beratung nicht so zielgerichtet geschieht, wie es nötig wäre. 

Das jedoch betrifft nicht nur die Verhütung, sondern auch das Thema Kinderwunsch. Der gilt für weiblich gelesene Personen häufig immer noch als unabdingbar. Die Entscheidung, keine Kinder zu wollen, ist gesellschaftlich beinahe verpönt, genauso in der gynäkologischen Praxis. Besonders junge Menschen werden nicht ernst genommen: „Sie sind doch noch so jung. Sie werden sich bestimmt noch umentscheiden.“ Oder: „Jaaaa, das sagen Sie jetzt und in zehn Jahren bereuen Sie es.“ Diese Haltung ist der Grund dafür, dass Sterilisationen erst ab einem Alter von 25 Jahren durchgeführt werden – egal wie fest entschlossen Menschen auch sind.  

Queere Personen, behinderte Menschen und BIPoCs sind im gesamten Gesundheitswesen besonders von Bevormundung betroffen, auch in der Gynäkologie. Persönliche Vorurteile und das fehlende Fachwissen außerhalb der weißen, männlichen, cis-heteronormativen, nicht-behinderten Bubble haben viel Einfluss auf die Arbeit von Mediziner*innen. Dieser Fokus hat sich über Jahrzehnte herausgebildet – und wurde an Medizinstudierende weitergeben.

Als Patient*in ist es schwer, mit eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen dagegen zu halten. Weil der eigenen Aussage nicht geglaubt wird, weil die eigene Perspektive in der fachlichen Filterblase nicht vorkommt. Es gibt bestimmte Definitionen von konventioneller „Normalität“, die bis tief in die Intimsphären von Menschen wirken. Das ist besonders im medizinischen Bereich problematisch, weil Ärzt*innen großes Vertrauen genießen. Weil Medizin auch eine Frage der Macht ist.

Stereotypen in der Medizin

So ist es zum Beispiel häufig der Fall, dass Schwarzen Menschen eine vermeintlich höhere Schmerztoleranz nachgesagt wird und sie deshalb sogar deutlich weniger Schmerzmittel im Krankenhaus erhalten. Nicht-weißen Menschen wird zudem eher Simulation nachgesagt. Ein Vorurteil, das bei Mediziner*innen und Rettungssanitäter*innen einen eigenen Namen hat: „Morbus mediterraneus“ , „Morbus bosporus“, „Morbus Balkan“, „Mamma-mia-Syndrom“. Was die bevormundende Situation auch noch mit Rassismus auflädt.

Das führt dazu, dass BIPoCs in Krankenhäusern schlechter versorgt werden und auf ihre Empfindungen und Schmerzen schlechter eingegangen wird. Einer der bekanntesten Fälle ist Tennisspielerin Serena Williams: Kurz nach der Geburt ihres Kindes kam es im Krankenhaus zu Komplikationen. Erst nachdem sie als Patientin auf weitere Untersuchungen bestanden hatte, wurden diese auch durchgeführt und ein lebensgefährliches Blutgerinnsel bei ihr entdeckt. Daraufhin wurde in US-Medien thematisiert, dass Schwarze Frauen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, bei der Geburt ihres Kindes zu sterben als weiße Frauen. 

Menschen mit Behinderung werden wegen ihrer Eigenschaften Entscheidungsfähigkeiten abgesprochen. Wenn Menschen eine Lernschwäche haben, kann das schnell dazu führen, dass Menschen als unmündig wahrgenommen werden. Ihnen wird nicht zugehört oder sie werden gar nicht erst gefragt. Auch körperliche Behinderungen gelten als Legitimation, um bestimmte Entscheidungen abzusprechen – zum Beispiel einen Kinderwunsch. Ableismus macht krank und sollte deshalb insbesondere in der Medizin überhaupt keinen Platz haben. Doch in vielen EU-Ländern können behinderte Frauen immer noch legal zwangssterilisiert werden. Somit wird diesen Menschen die Entscheidung, Kinder zu gebären, direkt entrissen.

Aber was macht denn nun eine aufgeklärte Gynäkologie aus? Es ist eigentlich recht einfach: Bildet euch weiter! Werdet euch eurer weitreichenden Verantwortung bewusst! Achtet die Intimsphäre! Interessiert euch für queerfeministische, behinderte, Schwarze Perspektiven! Nehmt Schmerzen ernst! Hinterfragt euch und arbeitet bitte an den eigenen Vorurteilen.

Sara Grzybek setzt sich für eine Sensibilisierung im Gesundheitswesen ein. Bei Veto schreibt Sara über Gender in der Medizin und die Notwendigkeit einer Behandlung auf Augenhöhe.

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