Im Vertrauen — Kazim Erdogan

Nichts ist wichtiger als Kommunikation, findet Kazim Erdogan. Der Psychologe und Soziologe leitet in Berlin-Neukölln eine Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer. Es geht um Gewalt und Emotionen. Zu Besuch in einem geschützten Raum.
16. Februar 2024
8 Minuten Lesezeit
Text: Eva Goldschald — Fotos: Frederike van der Stræten

Ein verregneter Montagabend in Berlin-Neukölln. Die Menschen auf den Straßen drängen hektisch in die U-Bahn-Stationen. Andere vertreiben sich die Zeit in Geschäften entlang der Karl-Marx-Straße. Von diesem Feierabendtrubel ist in den Räumen des Vereins Aufbruch Neukölln wenig zu spüren. An einem weißen Tisch sitzt eine Gruppe Männer bei schwarzem Tee und nascht Kekse in Halbmondform aus einer durchsichtigen Plastikverpackung.

Einer von ihnen ist Kazim Erdogan. Er leitet die Väter- und Männer-Gruppe, die sich hier regelmäßig trifft. Manchmal sind sie nur zu viert, manchmal ist der Tisch mit 20 Personen voll besetzt. „Heute liegt es am Wetter, dass wir nur eine kleine Runde sind“, meint Erdogan. 

Mit 21 kam der heute 70-Jährige nach Deutschland, um Soziologie und Psychologie zu studieren. Aus seinem Heimatdorf in der Provinz Sivas in Anatolien war er damit der Erste mit Abitur und Studienabschluss. In Berlin hielt sich Erdogan mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitete am Fließband und in einer Margarinefabrik und verkaufte Grillhähnchen in einem Schnellrestaurant. Nach einem Jahr waren Pass und Touristenvisum abgelaufen und er sollte abgeschoben werden. Hilfe kam damals von der Freien Universität Berlin, die ihm einen Deutschkurs anbot. Daraufhin setzte die zuständige Behörde seine Abschiebung aus.

Nach dem Studium arbeitete Kazim Erdogan zehn Jahre als Hauptschullehrer, später als Schulpsychologe. Bis zu seiner Rente 2016 war er 13 Jahre lang beim Psychosozialen Dienst angestellt. Dort beriet er Eltern und Kinder in Erziehungs- und Familienangelegenheiten.

Zeitgleich setzte sich Erdogan mit dem muslimischen Männerbild auseinander. Aus seiner Heimat kannte er die Gesetze, die in klassisch türkischen Familien herrschen. Verinnerlicht hat er diese allerdings nie. Seine Eltern schickten ihn früh auf ein Internat, weil es in seinem Dorf keine Schule gab. Dort traf er damals auf 600 andere Persönlichkeiten – und lernte, wie wichtig es ist, andere Meinungen und Menschen zu respektieren und zu tolerieren.

Angekommen in Berlin fiel ihm nach einigen Monaten auf, dass viele türkische Männer nicht mit den Strukturen und Geschlechterrollen in Deutschland zurechtkamen. Zur gleichen Zeit entstand der Verein Aufbruch Neukölln, dessen Vorstand Erdogan 2003 wurde. Angefangen hatte alles mit mehrsprachigen Informationsabenden in Grundschulen zu Erziehung und Bildung. Etwa 50 Menschen mit türkischen Wurzeln waren damals mit dabei.

Vier Jahre später formierte sich neben anderen Projekten schließlich die erste Väter- und Männergruppe für männlich gelesene Personen, von denen es derzeit insgesamt vier in Berlin gibt. „Neunzig Prozent der Herausforderungen für türkische Männer gehen auf fehlende Kommunikation zurück“, sagt Erdogan. „Mit der Männergruppe schaffen wir ein Wir-Gefühl. Wir sprechen nicht übereinander, auch nicht nebeneinander, sondern miteinander.“ Besonders kulturelle Unterschiede seien Grund für zwischenmenschliche Konflikte im Alltag.

Zerrissenheit

Männer in der Türkei würden sich nur selten mit Fragen der Gleichberechtigung konfrontiert sehen, sagt Erdogan. In Deutschland würden Frauen Rechte einfordern und dabei unterstützt. Scheidungen sind gängig. Auch Homosexualität ist in Deutschland gesellschaftliche Realität und keine „Schande“ für die Familie oder das ganze Dorf, wie es in Teilen der Türkei der Fall ist.

Erlernte Strukturen geraten ins Wanken – das stellt die Männer vor Herausforderungen. Hinzu kommt, dass die Männer, auch nach Jahrzehnten in Deutschland, die Sprache nicht vollends beherrschen und oftmals in der ersten Zeit nicht arbeiten dürfen. Gleichzeitig erwarten die eigene Familie, das Umfeld und auch die Männer von sich selbst, als Oberhaupt die Familie zu ernähren. „In solchen Fällen kann Migration zur Folter werden“, beschreibt Erdogan den Druck, der auf ihnen lastet. Deshalb bietet der Verein neben Gesprächsgruppen auch Sprachkurse an oder hilft beim Ausfüllen von Behördenunterlagen.

Fünf Männer sind an diesem Tag zur Gesprächsrunde gekommen. Teils kamen sie damals auf Nachdruck vom Jugendamt zur Gruppe hinzu, teils auf Empfehlung. Sie alle und auch viele der anderen, die heute nicht da sind, stehen vor Problemen im Umgang mit Frauen, Kindern und der Familie, haben Trennung, Scheidung und Ablehnung erlebt, selbst Gewalt ausgeübt oder sind Opfer davon geworden. Tatsächlich gibt es genauso auch einige Männer, die einfach der guten Gesellschaft wegen an den Runden teilnehmen. 

Im Leben eines türkischen Mannes gelte es traditionell fünf Säulen zu erreichen, so Erdogan. Beschneidungsfest, Militärdienst, Arbeit finden, eine Frau heiraten und Vater werden. Und nur so könne eine Person zu einem „wahren türkischen Mann“ werden – das legt zumindest die Tradition fest. Fehlen eine oder mehrere dieser Säulen, oder brechen sie im Laufe des Lebens weg, würden Männer von ihrem türkischen Umfeld oft weniger ernst genommen.

„Viele wissen nicht, wie sie sich bei Trennung und Scheidung verhalten oder alleine ein Kind erziehen sollen“, sagt Erdogan. „Damit die Sicherungen nicht durchbrennen, versuche ich sie in Gesprächen darauf vorzubereiten. Ich gebe ihnen ein Mantra mit auf den Weg, das sie sich immer vorsagen, wenn es einmal schwierig wird: Sei ruhig, sei gelassen, sei geduldig.“ 

Wie wichtig dieses Mantra ist, zeigt eine Geschichte, die sich vor einigen Jahren ereignete. Sie steht beispielhaft für die Arbeit von Erdogan, weshalb er sie immer und immer wieder erzählt: Einer der Männer fasste nach einer Trennung den Plan, seine Ex-Frau und deren neuen Lebensgefährten zu töten. Er stieg in ein Auto und machte sich von Berlin auf den Weg nach Nürnberg. Unterwegs stoppte er an einer Raststätte, rauchte eine Zigarette und erinnerte sich an das Mantra der Gruppe: „Sei ruhig. Sei gelassen. Sei geduldig.“ Er kehrte um.

Am darauffolgenden Montag erzählte er seine Geschichte in der Gruppe. „Wir haben ihn nicht verurteilt und konnten ihn vor dem Schlimmsten bewahren. Gewalt ist nie eine Lösung“, sagt Erdogan. „Natürlich können wir nicht die Welt retten. Aber stehenbleiben ist das Schlechteste, du musst immer nach vorne schauen.“ 

Gefühlschaos

Tarkan ist einer der fünf Männer, die heute zur Gesprächsrunde erschienen sind. Er sitzt am Tischende und trägt eine schwarze Sweatjacke mit dem Logo des türkischen Fußballvereins Galatasaray Istanbul. Seine Worte sind gut überlegt, er spricht laut und bestimmt. „Ich kenne Herrn Erdogan, seitdem ich 13 bin, also schon über 22 Jahre. Als Jugendlicher lernte ich ihn bei den psychosozialen Diensten kennen. Ich musste damals mehrere Schicksalsschläge verarbeiten“, erzählt er. Bei der Männergruppe ist er seit Beginn dabei.

Tarkans Mutter ist deutsch, sein Vater türkisch. Aufgewachsen ist er bei den Großeltern und wurde traditionell erzogen. „Mein Opa war ein originaler Gastarbeiter mit Gebetskette um den Hals. Obwohl er anders aufgewachsen und der Sprache nicht mächtig war, fühlte er sich wohl in Deutschland und als vollwertiger Teil der Gesellschaft. Er war streng und wir mussten uns ihm bis zu einem gewissen Alter unterordnen. Aber ich glaube“, verdeutlicht Tarkan, „so etwas gibt es auch in deutschen Familien.“

Manche Männer brauchen Monate, bis sie sich vor den anderen öffnen. Andere erzählen direkt beim ersten Besuch, was sie bedrückt. Tarkan sprach erst nach Jahren über das Erlebte und hat bis heute aber längst nicht alles erzählt, was ihn beschäftigt. Auf Details möchte er nicht eingehen, meint jedoch, sanfter geworden zu sein. Durch die Gruppe und die Geburt seines Sohnes. „Schon als Junge habe ich gelernt, dass ein Mann nicht weinen soll, und hatte immer Schwierigkeiten, Emotionen zu zeigen. Das ist unser Thema in der Gruppe. Viele türkische Väter brechen hier zum ersten Mal öffentlich in Tränen aus. Aus Wut, aus Angst, aus Freude.“

Wer hierher kommt, wird nicht verurteilt, egal was jemand getan hat. Auch nicht der Vater, der seine Tochter geschlagen hat. „Wir sind alle Menschen und machen Fehler. Es ist wichtig, dass wir voneinander lernen. Verständnis, Akzeptanz, Wertschätzung, Vertrauen stehen über allem. Wir lernen voneinander, mit Scham umzugehen“, sagt Kazim Erdogan.

Erdogan sitzt zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Schultern etwas nach vorne gebeugt, die gefalteten Hände liegen auf seinem Schoß. Er lauscht den Gesprächen der Männer, achtet darauf, dass jeder zu Wort kommt und fragt mit ruhiger Stimme immer wieder nach.

Dursun, ein stattlicher Mann mit grauem Haar und langem schwarzen Stoffmantel erzählt auf türkisch, Erdogan übersetzt: „Ich bin in einer autoritären Familie aufgewachsen und das habe ich auch an meine Kinder weitergegeben. Ich war ihnen gegenüber zu wenig emphatisch und konnte nie gut mit ihnen kommunizieren. In der Gruppe habe ich viel darüber gelernt. Was ich mit meinen Kindern nicht erleben konnte, hole ich heute mit meinen Enkeln nach.“ Dursun kommt seit 17 Jahren regelmäßig zur Gruppe. Als er mit 63 das erste Mal der Einladung von Kazim Erdogan folgte, fühlte er sich so wohl, dass er gar nicht mehr nach Hause gehen wollte.

Gewaltschutz

Tolga ist sehr viel ruhiger als die anderen Männer. Er schaut deutlich öfter auf seine Teetasse, die er mit beiden Händen festhält, als in die Runde. Immer wieder steht er auf, um draußen zu rauchen. Wenn er zurückkommt, nippt er an seinem Tee und hört still zu. Er bleibt nur etwa eine halbe Stunde, dann geht er wieder. Wenn ihn Gespräche und Themen interessieren, bleibt er bis zum Schluss – zum Beispiel dann, wenn es um seinen Sohn geht, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Die Trauer darüber verarbeitet er in der Gruppe.

Geschichten wie die von Tolga seien Dauerbrenner hier, so Erdogan. Gerade bei Trennungen komme es oft vor, dass der Kontakt zum Vater abbricht. „Dann sind beide Seiten gekränkt. Oft mischen sich die Verwandten ein, sodass am Ende alle Parteien verfeindet sind. Ihre Gefühle zeigen die Männer nicht öffentlich. Nur hier trauen sie sich, das Erlebte zu verarbeiten.“

Ein Problem sei, dass gerade türkische Männer Ehr- und Moralvorstellungen von Eltern und Großeltern übernehmen würden, ohne sich wirklich damit auseinanderzusetzen. „Sie haben nicht gelernt, über Gefühle zu sprechen und geraten dann in eine Gewaltspirale gegenüber Frauen. Diese gilt es zu unterbrechen und den Männern Alternativen aufzuzeigen, wie sie mit Konflikten umgehen können“, meint Erdogan. Scheiterten Beziehungen, fühlten sich türkisch geprägte Männer oft als Versager. Familie und Verwandte würden ihnen dann vorwerfen, sie seien „kein ordentlicher“ Mann und Vater gewesen, sonst hätte die Frau sie nicht verlassen.

Am Ende einer Sitzung müssen nicht alle der gleichen Meinung sein. Das Schöne sei, dass die Männer über alles reden können und einander respektieren, beschreibt Tarkan. Abseits der Gesprächstreffen setzen sich die Männer der Gruppe aktiv gegen Gewalt ein und gehen dafür auch auf die Straße. Tarkan gibt außerdem Selbstverteidigungskurse, die sich an der traditionellen chinesischen Kampfkunst Wing Chun orientieren.

Die Treffen mit der Gruppe sind für ihn noch immer ein wichtiger Anker, für den er seit sechs Jahren jeden Montag die knapp 30 Kilometer aus Reinickendorf nach Neukölln fährt. Dort lebt er jetzt mit seiner Familie. „Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft so respektvoll miteinander sprechen, wie wir es in der Männergruppe tun – ohne zu verurteilen oder in eine Schublade zu stecken“, fasst er zusammen.

Viel gelernt hat über die letzten Jahre auch Kazim Erdogan: „Ich hatte das Glück, rechtzeitig Bildung zu erfahren und den strengen türkischen Strukturen zu entkommen. Ich lerne von den Männern andere Ansichten kennen und sie wiederum sollen verstehen, sich in jemanden hineinzuversetzen und geduldig zu sein. Ich denke, das wertvollste Buch, das ich lesen kann, ist der Mensch. Ich habe die wertvollsten der Welt gelesen und viele liegen noch vor mir.“

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