Text: Eva Weber — Fotos: Luca Abbiento
Veto: Gisela Notz, seit einem Jahr gehen junge Menschen freitags auf die Straße, um für besseren Klimaschutz zu demonstrieren. Was halten Sie von Fridays for Future?
Gisela Notz: Gerade die Tatsache, dass die Aktiven die Schule „geschwänzt“ haben, hat mir sehr gut gefallen. Damit haben sie für Aufmerksamkeit gesorgt, haben sich selbst ermächtigt, und die Älteren darauf hingewiesen, dass sie etwas tun müssen – und dass es wenig bringt, Latein und Mathe zu lernen, wenn sie eh nicht alt werden. Hätten sie das samstags gemacht, wäre das nicht so schnell ein weltweiter Protest geworden.
Sie sind selbst seit einem halben Jahrhundert in der Frauenbewegung aktiv, haben die 68er erlebt und erforscht. Sehen Sie Parallelen zum heutigen Klimaprotest?
In der 68er-Bewegung haben sich Frauen und Studierende ebenfalls selbst ermächtigt und unter anderem ihre Elterngeneration zur Rechenschaft gezogen – damals wegen des Nazi-Faschismus, heute wegen des Klimawandels. Entscheidend war und ist dabei die folgende Frage: Was hat eigentlich die Generation vor uns gemacht, um die Welt so zuzurichten? Auch den aktuellen Vorwurf, der Protest der jungen Menschen sei „nicht radikal genug“, kenne ich von damals bereits zu Genüge.
Was haben die Aktiven von damals bewegt?
Die 1950er-Jahre waren eine rigide Zeit unter CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer. Alles sollte ganz ordentlich sein. Es gab damals auch nur die Normalfamilie – heißt: heterosexuell und gesegnet mit möglichst mehreren Kindern. Das war die Norm – und der Weg vorgezeichnet. Es gab nichts anderes als Schule, Universität, Heiraten, Kinder kriegen. Und wer ungewollt schwanger war, wurde in die Muss-Ehe gezwungen. Sex außerhalb der Ehe war untersagt, Verhütung auch, Abtreibung sowieso. Wenn Mütter berufstätig und ihre Kinder „Schlüsselkinder“, also nach der Schule ohne Betreuung waren, galten sie als verwahrlost.
Mit all dem wollten die 68er brechen. Heute kann jede junge Frau mit ihrem Freund zusammenwohnen, wenn sie das möchte. Frauen haben sich selbst ermächtigt und wir leben eine sehr viel offenere Vorstellung von Familie. Es gibt Kindergärten oder -läden. Für die Kinderbetreuung ist – wenn auch noch unzureichend – gesorgt.
In Ihrer Forschung kommen Sie zu dem Schluss, dass wir an dieser Sorge um die Kinderbetreuung sehen, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.
1999 habe ich ein Buch mit dem Titel „Die neuen Freiwilligen: Das Ehrenamt – Eine Antwort auf die Krise?“ veröffentlicht und mir darin ehrenamtliche soziale Arbeit genau angesehen. Frauen wird das Ehrenamt immer dann schmackhaft gemacht, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt nicht gebraucht werden. Das Buch damals war dem gegenüber sehr kritisch, heute allerdings wird über ehrenamtliche Arbeit kaum mehr kritisch berichtet. Ich habe schon immer gefordert, dass auch nach den Wurzeln dieser Übel gefragt wird und nicht nur die Wunden geheilt werden. Denn 80 Prozent der Freiwilligen im Sozialen und Gesundheitswesen sind Frauen.
Historisch betrachtet gilt: Immer, wenn sie im Erwerbsleben gebraucht werden, wird sich politisch um die Kinderbetreuung gekümmert. Wenn nicht, werden die Frauen im Ehrenamt geparkt. Die Lösung wäre, dass jeder Mensch eine sinnvolle bezahlte Arbeit bekommt, um die eigene Existenz zu sichern – und zugleich die Arbeiten machen kann, die mit Zuneigung und Liebe zu tun haben und als unbezahlbar gelten, obwohl sie Bestandteil vieler Sorgeberufe sind.
Was würden Sie anderen Frauen mit auf den Weg geben wollen?
Zunächst einmal freue ich mich über die Feminisierung der Proteste, die wir gerade erleben. Was in jüngerer Vergangenheit an Protest stattgefunden hat – Pflegerinnen, Krankenschwestern, Verkäuferinnen, geflüchtete Frauen, auch gegen die Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch – wurde von Frauen geprägt. Fridays for Future besteht auch zu fast 60 Prozent aus Frauen, aber vor allem sind es sehr junge Menschen. Das gefällt mir sehr. Wir müssen die linke Szene vermehren, haben aber auch noch viel zu tun. Das geltende Recht für einen Abbruch bei ungewollten Schwangerschaften ist seit 1. Januar 1872 in Kraft und im Wesentlichen kaum verändert – ich bin seit vielen Jahren dabei, aber da steht der „liebe Gott“ davor. Gewalt gegen Frauen, Sexismus, Antifeminismus, und die vielen Benachteiligungen im Berufsleben – bei all diesen Themen haben wir den Kampf erst noch vor uns. Meine Empfehlung an alle Frauen: Mitmachen – und aussuchen, was am besten passt.
Sind Sie denn selbst noch aktiv?
Ja, immer noch in ganz verschiedenen Protestbewegungen und unter anderem nach dem Motto: Wenn ich mich gar nicht irgendwo einbringen kann oder will, kann ich auch mit meinem Geld Gutes tun. Seit 2002 bin ich deshalb in der Bewegungsstiftung aktiv. Unterstützt werden soziale Bewegungen, die Protest und Widerstand leisten. Inzwischen profitieren 180 Bewegungen von dieser Idee, die wir im Kollektiv umsetzen. Das Geld geht an Geflüchteteninitiativen wie Women in Exile, Initiativen rund um den Hambacher Forst, zum Thema Mietenwahn oder Kampagnen zur Streichung der Paragrafen 218 und 219 des Strafgesetzbuches, die den Abbruch von Schwangerschaften rechtlich regeln.
Stand für Sie persönlich eigentlich jemals zur Debatte, sich nicht zu engagieren?
Nein. Als historisch arbeitende Frau habe ich Angst vor dem, was da gerade auf uns zukommt – denn ich weiß aus der Geschichte, wie das alles schon gewesen ist. Ich muss was dagegen tun. Ich finde, dass der Rechtsruck viel zu lange nicht ernst genommen wurde. Das ist mir in Bezug auf die selbsternannten „Lebensschützer“ so gegangen: „Lass sie links liegen“, hieß es, und gemeint war „Lass sie rechts liegen“. Dasselbe bei Pegida, AfD oder Schill. Wir müssen das ernst nehmen – und wir müssen von vornherein darauf hinweisen, was sich daraus entwickelt. Es ist also weiterhin notwendig, dass wir aus der Geschichte lernen, um die Gegenwart zu begreifen und die Zukunft zu verändern.
Auf Veto erscheinen Geschichten über Menschen, die etwas bewegen wollen. Wer unsere Idee teilt und mithelfen möchte, kann das unter steadyhq.com/veto tun.