Text: Natalie Fichte — Fotos: Benjamin Jenak
Mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages erwacht der Hamburger Stadtteil St. Georg aus der Ruhe der morgendlichen Dämmerung. Auf dem Hansaplatz, der mit seinen breiten Terrassen, den vielen kleinen Lokalen und der opulenten grünen Bepflanzung eher an eine italienische Piazza erinnert, bleiben Vorbeigehende verwundert an einer ungewohnten Installation stehen.
Hier, im Herzen des Viertels, steht – umringt von meterhohen Lindenbäumen – ein schlichter, hölzerner Tisch. Während die einen mit fragenden Blicken irritiert vorbeiziehen, treten andere neugierig heran und folgen der Einladung, Platz zu nehmen: am sogenannten „Demokratisch“. Dieser lädt zur Diskussion ein – über Verkehr, Ernährung, Mindestlohn, Migration. So treffen Fremde im Dialog aufeinander, zu ungewöhnlichen Talk-Runden mit offenem Ausgang.
„Es geht gar nicht darum, andere von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern in den Austausch zu kommen“, erklärt Alexander Flügge. Und der „Demokratisch“ bringe Menschen unterschiedlichster Perspektiven zusammen – an wechselnden Orten in Deutschland. Erdacht wurde die Idee vom Berliner Verein Artikel 1, um die so oft aufreibende Debattenkultur wieder auf eine gedeihliche Ebene zu bringen. „Wichtig ist, dass sich die Diskussionteilnehmenden wertschätzend und respektvoll begegnen. Grundlage hierfür: Die Werte des Grundgesetzes“, erklärt Flügge. Debatten in der Gesellschaft oder am heimischen Küchentisch endeten häufig im Streit oder verlaufen letztlich in Resignation. Die Corona-Pandemie sei dafür ebenso ein Beispiel wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine.
Flügge verbindet mit dem „Demokratisch“ die Chance, dass Teilnehmende merken: „Okay, an dieser Stelle haben wir Anknüpfungspunkte.“ Oder, dass sie auch den Mut aufbringen, Paroli zu bieten und argumentativ zu intervenieren. Denn Demokratie bedeutet für Flügge vor allem die Existenz verschiedener Meinungen nebeneinander – und eine ausgewogene Streitkultur.
Schon in seiner Jugend engagiert sich Alexander Flügge, der 1985 im sachsen-anhaltinischen Genthin zur Welt kommt, im heimischen Sportverein – und merkt schnell, dass Begegnungen von Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen sehr bereichernd sind. Für ein Studium der Kommunikationswissenschaften zieht Flügge schließlich nach Jena. „Das fiel damals genau in die Zeit, in der der NSU sich selbst enttarnte und das Ausmaß der rassistischen Morde Stück für Stück ans Tageslicht kam. Das hat sich in mein Gedächtnis gebrannt.“
Nach dem abgeschlossenen Studium führt sein Weg weiter nach Berlin – und Flügge beginnt, motiviert durch seine Arbeit an einem Meinungsforschungsinstitut, sich mehr mit den Themen Demokratieverständnis und Politikverdrossenheit zu beschäftigen. Ein prägendes Ereignis und der Moment, in dem für ihn klar war, dass er jetzt aktiv werden müsse, waren die rassistischen Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte in den Jahren 2015 und 2016.
Argumente gegen Rechtsaußen
Der wachsende Zuspruch für rassistische Bewegungen wie Pegida und für Parteien wie die AfD waren für Flügge Anlass, Hetze und Populismus etwas entgegensetzen. Die Menschen an den Bahnhöfen, die Geflüchtete willkommen hießen, waren für ihn ein wichtiges Zeichen. Oft fehlen ihm genau solche Bilder – als Gegengewicht. „Lautstarker Demokratiefeindlichkeit wird in der Regel besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt und die engagierte Zivilgesellschaft bleibt weitestgehend unsichtbar. Das möchten wir mit unserem Verein ändern.“
Diese Einstellung teilt er mit den Vorsitzenden des Vereins, Jana Faus und Kajo Wasserhövel. Artikel 1 ist im Jahr 2015 entstanden: „Populistische Hetze ist offensiv, ihr kann und muss ich was entgegensetzen“, sagt Kajo Wasserhövel. Schon früh habe er das Potential, das in vielen Teilen unserer Gesellschaft schlummere, erkannt. Es gebe schon zahlreiche Organisationen, die sich für die Demokratie einsetzen, ergänzt Gründerin Jana Faus. Diesen fehle jedoch oft die breite Unterstützung oder auch ein Netzwerk, auf welches sie zurückgreifen können, wenn ihnen mal die „Puste ausgeht“. Artikel 1 möchte für Engagierte ein eben solches Netzwerk sein. Unterstützt wird der Verein dabei von Menschen, die in den Bereichen Kommunikation und Kreation arbeiten, von Meinungsforschenden und Kampagnenschaffenden.
Mit eigenen Projekten, mehrtägigen Workshops und Kreativwettbewerben bringt der Verein Menschen zusammen, bietet Argumentationstrainings für jene an, „die jeden Tag im Sturm stehen“. Sie wollen diejenigen empowern und fördern, sagt Alexander Flügge, die sich bereits engagieren – oder es anstreben zu tun. „Was ich gelernt habe, übe ich mal im Freundes- und Familienkreis. Im zweiten Schritt mache ich es vielleicht in einer Kneipe oder am Stammtisch.“
Alexander Flügge, der seit 2018 das Berliner Büro des Vereins leitet, weiß, wo es häufig hakt: Sichtbarkeit und Reichweite. „Für die alltägliche Demokratiearbeit gibt es das meist zu wenig.“ Außerdem hätten viele Engagierte gute Ideen, oft sei jedoch nicht klar, wie diese in konkretes Handeln umgesetzt werden können. Artikel 1 unterstützt zum Beispiel bei Kommunikation und Strategie, bei Veranstaltungsplanung und Kampagnenkonzeption.
Für Alexander Flügge selbst sind es die vielen kreativen Ideen, die die beste Werbung für die Demokratie ausmachen – sie müssten nur mehr in Erscheinung treten. „Mir geht es darum, ein starkes Bewusstsein dafür zu schaffen, was Demokratie eigentlich bedeutet.“
Für viele sei Demokratie etwas ganz Selbstverständliches. Etwas, das nicht hinterfragt wird – oder etwas sehr Abstraktes. Alexander Flügge erinnert sich, wie er zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes mit einem Tiny House durch Berlin gefahren ist und die Menschen gefragt hat: „Demokratie! Was heißt das für dich?“ Darauf eine Antwort zu finden, das sei für viele gar nicht so einfach gewesen. Hier sei es wichtig, nach konkreten Berührungspunkten im Alltag zu suchen: die freie Wahl des Wohnorts, das Recht auf Bildung oder zum Reisen, Religions- und Demonstrationsfreiheit. Kurzum: „Sich bewusst zu machen, dass es sich bei unseren Grundrechten um greifbare Freiheiten handelt, die allen Menschen zustehen“, sagt Flügge.
Kleinster gemeinsame Nenner
In der Hochphase der Corona-Pandemie sind es neben dem Applaus für die Pflegekräfte vor allem die lauten und wütenden Rufe von Demonstrierenden gegen eine „Diktatur“, die aus den Reihen von Querdenken und der Verschwörungsszene über die Straßen schallen. „Wir haben ja genug Menschen gesehen, die sich das Grundgesetz quasi umgegangen haben, auf eine Demo gegangen sind und verkünden: ‚So, ich darf meine Meinung gar nicht mehr sagen.‘“
Für Flügge ein Widerspruch in sich: „Sie können ja die krudesten Sachen äußern und danach nach Hause gehen, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen.“ Für Menschen wie ihn sei es dabei eine echte Herausforderung, für all jene, die nicht so laut sind, Räume und Angebote zu schaffen. Um zu zeigen: „Wir kommen da gemeinsam durch.“
Aber auch diejenigen, die sich in ihrer täglichen Arbeit für die Demokratie einsetzen, kommen in manchen Situationen an ihre Belastungsgrenze. Tatsächlich sei es in solchen Momenten wie am „Demokratisch“, erzählt Flügge, wo es manchmal gilt, klarzumachen: bis hierhin und nicht weiter. „Wenn ich die Würde und den Respekt gegenüber anderen Personen verletze, dann ist das Gespräch damit beendet. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns berufen sollten. So, wie es der Artikel 1 des Grundgesetzes vorgibt“, sagt Flügge.
Es habe schon einige Situationen gegeben, in denen die Teilnehmenden am „Demokratisch“ nach einem Gespräch feststellten: „Oh Gott, ich wusste jetzt eigentlich gar nicht mehr, was ich da entgegnen soll.“ Dies seien oft jene Menschen, die an Alexander Flügge und sein Team herantreten und fragen, wann der nächste Workshop stattfinde. „Wenn jemand am Tisch klare Kante und eine Haltung zeigt, und der anderen Person signalisiert, hier ist Ende, dann ist die Chance groß, dass das funktioniert.“ Aus diesen Geschichten schöpft Flügge Kraft, um sich auch weiterhin für die Demokratie zu engagieren, auch dann, wenn es mal schwierig wird.
Prägend seien vor allem die Momente, in denen er und sein Team ein Umdenken bewirken können. Er erzählt von einem Workshop zum Thema „Bewusst weiß sein“. Wer strukturellen Rassismus im Alltag nicht selbst erlebe, bemerkt Alexander Flügge, sei sich der Problematik häufig nicht bewusst und setze sich damit seltener auseinander. „Und dann im Workshop zu sehen, dass es nicht nur bei einem selbst, sondern auch bei vielen anderen was bewirkt, das ist für mich echt ein guter Moment.“ Ob Artikel 1 sein liebster im Grundgesetz sei? Alexander Flügge schmunzelt. „Er vereint einfach das, was im Gespräch oder im Austausch mit anderen immer die Handlungsmaxime sein sollte – denn die Würde des Menschen ist unantastbar.“
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