Machtkampf — Anna Schmidt

Die Kampfsportszene ist männlich dominiert. Anna Schmidt gibt deshalb Kurse in Brazilian Jiu-Jitsu – und nur FLINTA* haben Zutritt. Der Dresdnerin geht es dabei um mehr als Selbstverteidigung. Sie will andere ermächtigen. Ein Trainingsbesuch.
19. Februar 2025
6 Minuten Lesezeit
Text: Laura Catoni — Fotos: Karla Schröder

Es gibt diesen einen Moment auf der Matte, wenn sie gegen einen Mann kämpft, beschreibt Anna Schmidt. Der Moment, indem der Typ erkennt: Scheiße, die ist stärker als ich. Und nicht selten verändere sich danach etwas in der Dynamik des Kampfes – oft raste ihr Gegner völlig aus. Für viele Männer-Egos sei es immer noch das Schlimmste, gegen eine Frau zu verlieren. „Wenn ich merke, dass ich meinen Gegner kontrollieren kann, ist das wahnsinnig empowernd“, sagt Anna Schmidt, „weil sich dann das Machtgefüge für einen Moment umdreht.“

Seit 15 Jahren macht Schmidt Kampfsport, seit fünf Jahren vor allem Brazilian Jiu-Jitsu, kurz BJJ. Dabei geht es für sie nicht nur um Selbstverteidigung, sondern auch um Ermächtigung, Körperakzeptanz und darum, die Geschichte umzuschreiben, mit der wir ihrer Meinung nach immer noch aufwachsen: „Dass Männer Kämpfer sind und Frauen nicht.“ 

BJJ entstand aus dem japanischen Judo und Jiu-Jitsu. Der Kampf beginnt im Stand, findet aber vor allem am Boden statt. Ziel ist es, sein Gegenüber durch einen Hebel- oder Würgegriff dazu zu zwingen, aufzugeben. Zum Sieg verhelfen aber auch bestimmte Positionen, für die Punkte vergeben werden. Schläge oder Tritte sind im BJJ dagegen tabu.

Hier zählt nicht die rohe Kraft, sondern vor allem Technik. So ist es möglich, selbst körperlich Überlegene zu besiegen. BJJ wird deshalb auch als effektivster Selbstverteidigungssport für Frauen gehandelt. Anna Schmidt teilt diesen Gedanken. In ihrer Jugend habe sie mehrfach Gewalt durch einen Mann erfahren. Und danach habe sie gewusst, sie muss sich verteidigen können. „Ich wollte sicher sein, dass ich auch jemanden, der 85 Kilo wiegt, händeln kann.“

Als sie mit BJJ anfing, begann sie direkt auch mit Krafttraining. „Ich konnte noch nicht so viel Technik und dachte, ich müsste das mit Kraft kompensieren“, erzählt Schmidt. Im Pulli ist ihr nicht unbedingt anzusehen, dass Klimmzüge und einarmige Liegestütze für sie kein Problem sind. Anfangs, sagt Schmidt, habe sie noch vor jeder BJJ-Einheit eine Stunde lang trainiert, um gegen die Männer in ihrem Kurs bestehen zu können. Sie ist sich sicher: Wäre sie in einem FLINTA*-Kurs gewesen, hätte sie sich weniger Druck gemacht. 

Vergangene Vorbilder

Welches Potenzial in Jiu-Jitsu steckt, erkannten schon die Suffragetten, die Anfang des 20. Jahrhunderts in England den Kampf für das Wahlrecht der Frauen aufnahmen. Als eine der ersten Frauen in Europa lehrte die 1,50 Meter große Edith Garrud Aktivistinnen fernöstliche Kampfkünste lehrte, um sich gegen Polizeigewalt und männliche Übergriffe zu wehren. „Jiu-Jitsu war für die Frauenbewegung nicht nur ein Werkzeug zur Selbstverteidigung, sondern auch ein Symbol für Selbstermächtigung und Gleichberechtigung“, heißt es im WDR.

Schon während der zweiten Welle der Frauenbewegung in den Siebzigerjahren entstanden in Berlin Kampfsportstudios, in denen explizit Frauen andere Frauen trainierten. Sie verstanden sich „als Gegenräume gegen die heteronormative Sportkultur“. Und obwohl es inzwischen in einigen deutschen Großstädten Trainingsangebote für FLINTA* gibt, bleiben sie die Ausnahme. In Dresden beispielsweise gab es lange Zeit nur ein einziges Angebot, während herkömmliche Kampfsportstudios über die ganze Stadt verteilt existieren. 

Grund genug für die 33-Jährige, ihren eigenen Kurs zu starten. Seit mittlerweile einem Jahr lehrt Anna Schmidt neben ihrem Job als Hydrobiologin an mehreren Standorten in Dresden BJJ – unter anderem im Kampfsportstudio Virtus im Stadtteil Pieschen. Geld nimmt sie dafür nicht. Die Kurse sind offen für Personen mit und ohne Kampfsporterfahrung, dicke und dünne, trainierte und untrainierte. „Ich möchte so viele FLINTA* wie möglich erreichen.“

Heute sind drei gekommen. Als die Sportklamotten angezogen, Haare zusammengebunden und Ohrringe abgeklebt sind, sitzen alle im Kreis. Die Teilnehmenden nennen ihre Namen und Pronomen, auch für Bedürfnisse und Ängste ist Raum. Anke erzählt von ihrem schmerzenden Knie, Ju vom frischen Tattoo am Bein, wegen dem sich Ju heute etwas zurückhalten werde.

Zum Aufwärmen zeigt Schmidt verschiedene Bewegungen. Sie rollt sich über ihren Rücken und ihre Seite. Die anderen machen es ihr nach. Und dann versuchen sich die vier zu fangen, während sie sich auf Knien und Händen fortbewegen – ein guter Vorgeschmack auf BJJ: Es wird gekrabbelt, geschubst, an Beinen und Armen gezogen, Oberkörper umklammert. Fuß- und Handflächen quietschen auf dem Boden, im Hintergrund läuft Punkrock. Es riecht nach Schweiß und Gummi. Unter lautes Schnaufen mischt sich lautes Lachen. 

Härte und Feingefühl

Mit FLINTA* habe das Training oft etwas Spielerisches und Sanftes, sagt Schmidt, während cis Männer meist „ganz schnell in den Wettkampfmodus“ wechselten. Für Ju hat das auch etwas mit Ego zu tun. Ju hat mit BJJ in einem geschlechtlich gemischten Kurs angefangen. Nach ein paar Mal habe Ju aber keine Lust mehr gehabt, sich „von cis Männern würgen und hebeln zu lassen.“ In Schmidts Kurs nimmt Ju eine deutlich entspanntere Atmosphäre wahr, mit weniger Angst und mehr Fehlertoleranz. Mitstreiterin Josie stimmt zu. „Ich war so froh, als ich diesen Safer Space hier gefunden habe“, sagt sie und erzählt von gegenseitiger Unterstützung. „Das kannte ich aus dem Männerkampfsport so nicht.“ 

Bei allem Ehrgeiz trotzdem auf die gegnerische Person Rücksicht nehmen, das ist Schmidt in ihren Trainings wichtig und etwas, das ihr in gemischten Kursen häufig zu kurz kommt. Wann ist Härte und Widerstand angemessen, wann Weichheit und Feingefühl? Zwischen diesen Gegensätzen die richtige Balance zu finden, mache für sie feministischen Kampfsport aus. 

Trotz privaten Engagements bleiben Frauen im Profi-Kampfsport die Ausnahme, auch im BJJ. Die International Boxing Association erlaubte Frauenboxen erst 1994 auf Wettkampfebene. Es vergingen weitere 18 Jahre, bis weibliche Boxerinnen an den Olympischen Spielen teilnehmen durften. Männer dominieren aber nicht nur den Wettkampfbereich. Sie sind in der Regel die, die Trainings geben und Techniken vorzeigen. In den meisten Kursen sind sie in der Überzahl. 

FLINTA* haben hingegen nicht nur zu wenige Trainings- und Fördermöglichkeiten, kritisiert die „Feminist Fighters Union“, ein vereinsübergreifendes Kollektiv, das geschlechtliche Vielfalt im Kampfsport sichtbar machen will. Es komme außerdem „zu übergriffigen und unangenehmen Situationen“. Das liege daran, dass Kampfsport „von patriarchalen Vorstellungen dominiert“ sei und sich an der „hypermaskulinen Idee von Männlichkeit“ orientiere.

Auch Anna Schmidt hat auf der Matte negative Erfahrungen mit Männern gemacht. Sie erzählt von denen, die sie unterschätzt haben und nicht richtig mit ihr kämpfen wollten, weil sie eine Frau ist. Denjenigen, die ihr ungefragt Tipps gegeben und sie für ihre Leistung gelobt haben, die „für eine Frau“ ja gar nicht schlecht gewesen sei. 

Auch unbequem sein

Andere Male hätten Männer ihr während des Kampfes ins Ohr geflüstert oder sie anzüglich angeschaut. „BJJ ist ein sehr naher Sport und wir leben in einer Gesellschaft, in der wir kaum Körperkontakt haben außer beim Sex.“ Das bringe das Risiko mit sich, dass Männer Frauen auf der Matte sexualisieren. Auch deshalb brauche es sichere Orte wie ihren Kurs.

Nach dem Aufwärmen zeigt Anna Schmidt eine neue Technik. Während Kursteilnehmerin Josie mit dem Rücken auf dem Boden liegt und mit ihren Armen und Beinen einen Schutzpanzer um sich herum bildet, versucht Schmidt, diesen zu knacken, indem sie Hand- und Fußgelenken greift, sich mit dem Knie auf ihren Solarplexus drängt. Danach probieren es Ju, Anke und Josie selbst aus, experimentieren mit Druck- und Zugbewegungen und geben einander Feedback. Immer wieder wirken sie überrascht, welche Kraft sie auf ihr Gegenüber ausüben. 

Mit Selbstermächtigung verbindet Schmidt auch das Brechen mit Schönheitsidealen. Durch Kampfsport und Krafttraining hat sie über die Jahre an Masse gewonnen. Anfangs habe sie damit gehadert, weil sie mit dem Bild aufgewachsen sei, dass Frauen zierlich sein müssen. Dabei sei sie von ihrer Veranlagung her weder zierlich noch leicht. Mittlerweile sieht sie das als Vorteil im Kampfsport. Auf der Matte habe sie einen Ort gefunden, an dem sie nicht zu viel ist. Raum einnehmen, mal unbequem sein – mit ihrem Körper, aber auch mit ihrer Meinung: Das, sagt Anna Schmidt, habe sie erst im Brazilian Jiu-Jitsu gelernt.

Unbequem wird es auch am Ende des eineinhalbstündigen Trainings. Josie und Anke legen sich den Mundschutz vor die Zähne, ziehen ihre Zöpfe fest – dann geht es los. Vier Minuten Kampf. Keine zehn Sekunden vergehen, bis die beiden auf der Matte liegen und versuchen, die Gegnerin physisch zu kontrollieren. Sie manövrieren sich von der Matte an die Wand und von dort in die andere Ecke des Raums. Sie springen auf den Rücken der jeweils anderen, ziehen und schieben einander. Die Anstrengung färbt ihre Gesichter rot. Schmidts Stoppuhr beendet den Kampf. „Das war mega!“, ruft sie Josie und Anke zu. Eine Mischung aus Erschöpfung und Euphorie liegt im Raum, der durch Milchglas vor Blicken von draußen geschützt ist. Niemand auf der Straße konnte sehen, was hier in den letzten Minuten passierte. 

Immer wieder seien die Leute überrascht, wenn Anna Schmidt von ihrer Leidenschaft für den Kampfsport erzählt. Männer reagierten häufig mit der immergleichen Frage: „Oh, muss ich da jetzt Angst vor dir haben?“ Ihre Antwort ist immer die gleiche: „Ja!“

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