Text: Andreas Thamm — Fotos: Jennifer Schäufelin
Die Nachrichten erträgt Irfan Taufik in diesen Tagen oft nicht mehr. Er habe das ja alles selbst erlebt, meint er: die Bombardierungen seiner Stadt, kein Strom, kein Wasser. Auf den Straßen habe es wie in einem Schlachthof ausgesehen: Menschen ohne Arme und Beine. „Das kommt jetzt alles wieder, ich muss dann wegschauen“, beschreibt der Theatermacher aus Nürnberg.
Irfan Taufik kommt 1975 in Sulaimaniyya im Norden des Iraks zur Welt. Er ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern. Sein kurdisches Elternhaus sei voller Bücher gewesen: Literatur, Philosophie, auch Marx und Engels. Die kommunistischen Bücher muss der Vater verstecken, ihr Besitz kann unter der politischen Herrschaft von Saddam Hussein tödlich sein.
Als Irfan Taufik selbst noch ein Baby ist, gründet einer der Brüder ein Theater. Die Geschwister spielen mit, der Kleinste wächst unter Schauspielenden und Kunstschaffenden auf. Er schaut bei Proben zu, schnuppert Theaterluft. Und so wird es das mit Abstand wichtigste Thema im Leben von Irfan Taufik, der 1996 nach Deutschland flüchtet und heute bundesweit an Schulen Theater spielt und sich in Nürnberg ehrenamtlich um junge Geflüchtete kümmert.
Mit neun habe er dann das erste Mal selbst auf der Bühne des Bruders gestanden, bei einem Stück von Eugene O’Neill: „Der haarige Affe“. „Ich war Statist und musste irgendwo rumstehen und die Lücken füllen“, sagt er und lacht. „Aber ich habe zwei Stunden lang durchgehalten und habe das sehr ernstgenommen. Alles, was ich heute mache, hat mit diesem Erlebnis zu tun.“ Danach habe er in jeder Produktion mitgespielt, solange es das Theater gab.
Flucht vor den Bomben
Als Irfan Taufik seine ersten Erfahrungen am Theater sammelt, befindet sich der Irak schon seit vier Jahren im Krieg mit dem Iran. Taufik erinnert sich an die Sirenen, die den Unterricht unterbrechen. An die Angst, den Heimweg nicht zu überleben. An Flugzeuge, die die Stadt bombardieren, während die Theatergruppe ihr Stück spielt. Das Publikum blieb sitzen, das Stück lief weiter. „Da habe ich gelernt, wie schön, wie wichtig diese Momente auf der Bühne sind. Was diese Kunst bedeutet. Theater war wie Nahrung für mich.“
Als Saddam Hussein das Land regiert, habe sein Bruder – der Regisseur – unter besonderen Bedingungen arbeiten müssen. Jedes Stück ging durch die Zensur, der Geheimdienst saß mit im Publikum. Der Bruder will trotzdem auch politische Inhalte aufführen. „Wir mussten viel mit Bildern arbeiten und eine Form finden, damit das Regime es nicht begreift.“ Die Kunst eröffnet Nischen der freien Rede. Trotz allem sagt Taufik heute: „Diese Zeiten waren Gold für mich.“
Anfang der Neunziger schließlich beginnt die Zeit des kurdischen Widerstands im Norden des Iraks und der brutalen Gegenschläge durch die irakische Armee. Als die Stadt bombardiert wird, sitzt Irfan Taufik bei Kerzenlicht im Keller und liest endlich alle Bücher seines Vaters, vor allem Dostojewski – das sei das Gute gewesen an einer unerträglichen Situation, meint er.
Das erste Mal flieht die Familie 1991. Für ein halbes Jahr geht sie in den Iran und kehrt zurück – bis die Lage erneut eskaliert. Viermal habe Irfan Taufik das Land insgesamt verlassen, auch irgendwann allein, und er drehte jedes Mal wieder um. 1996 allerdings wurde die Situation zu heftig. Saddam Husseins Armee hatte damals die Stadt Sulaimaniyya erneut eingenommen. Menschen, die das Regime ablehnten, darunter viele Schauspielende, verschwanden einfach. Irfan Taufik ist das letzte Kind seiner Eltern, das das Land verlässt.
Leidvolle Erinnerungen
Ein Jahr lang sei er insgesamt unterwegs gewesen. Irfan Taufik flieht über den Irak, die Türkei und Griechenland – bis nach Hannover. Seine Geschichte führt er Jahre später und bis heute mit dem Titel „Der Luftballon mit der blonden Perücke“ als Ein-Personen-Stück auf der Bühne auf. „Du landest irgendwo und musst schauen, wie du weiterkommst. Du bist auf Schlepper angewiesen. Du weißt nur, du musst nach Europa, woanders kannst du kein Asyl beantragen.“ Produziert hat er es mit dem Nürnberger Theater Thevo, zu dessen Ensemble er gehört.
Irfan Taufik ist ein schlanker Mann, der jünger aussieht, als er ist. Er kann heute über all den Horror lachen, den er erlebt hat und strahlt ganz plötzlich und ganz breit. Aber wenn er über die Flucht spricht, dann ist es, als kehre die Anstrengung dieser Tage in sein Gesicht zurück. Am schlimmsten sei es für ihn in der Türkei gewesen. Er erinnert sich an einen kleinen Raum, vollgestopft mit Menschen, die alles aufgegeben und sich Schleppern anvertraut haben. „Du sitzt da und wartest. Wenn er nicht wiederkommt, ist alles weg, dein Geld, deine Dokumente, alles. Es war nur kurz. Wenn es länger gewesen wäre, hätte ich mich umgebracht.“
Zurück auf der Bühne
In Deutschland angekommen erlebt Taufik zunächst vor allem Ablehnung und Ignoranz. „Du drehst dich im Kreis und fühlst dich verloren. Du fragst nach Hilfe, aber die Menschen gehen an dir vorbei. Das Fremdsein macht eine wahnsinnige Angst.“ Aus dieser Erfahrung heraus habe er beschlossen jungen Menschen, die nach Deutschland kommen, die Hilfe zu sein, die er damals gebraucht hätte. Jemand, der Wege aufzeigt und Kontakte herstellt.
Über persönliche Beziehungen sei er damals schnell in Nürnberg gelandet. Hier besucht er Ende der Neunzigerjahre eine berufsvorbereitende Schule. Und wenn Feiern anstehen, wie zu Weihnachten, bereitet er kleine Sketche für seine Klasse vor.
Sein Mathelehrer, selbst ein ehemaliger Student der Theaterwissenschaften, entdeckt Irfan Taufiks Talent und vermittelt ihm ein Praktikum am Theater Mummpitz. „Wieder auf die Bühne zu dürfen, wieder Bühnenluft zu atmen – das hat sich für mich wie neu geboren angefühlt.“
2002 gründet Irfan Taufik in Nürnberg eine offene Theatergruppe. Sie ist generationen- und kulturenübergreifend und entwickelt ein Stück im Jahr. „Ich wollte einfach Freunde um mich haben.“ Die Inhalte zieht Irfan Taufik aus dem, was die Menschen, die zum ihm kommen, selbst beschäftigt, was sie umtreibt. Die jüngste Produktion handelt davon, wie Menschen ihren Platz zwischen den Kulturen finden, in der nächsten wird es um den Lebenskreis gehen. „Ich will, dass alle authentisch als sie selbst auf der Bühne stehen. Das finde ich interessant.“
Ein Vorbild für andere
Anfangs noch sei er die einzige migrantische Person gewesen. Irgendwann aber gelang es ihm, auch junge Geflüchtete für sein Theaterlabor zu gewinnen. Zuletzt hätten sich ein paar deutsche Studierende angeschlossen. „Die jungen Geflüchteten, die zu mir kommen, betreue und begleite ich. Ich bin Pate für jeden Einzelnen. In der Gruppe bin ich mit der Unterstützung aber nicht alleine.“ Und das habe sich inzwischen herumgesprochen.
Junge Menschen, die sich etwa mit Deutschlands Bürokratie alleingelassen oder sich in ihrer Unterkunft isoliert fühlen, werden zu Irfan Taufik weitergeschickt. Theater spielen müssen sie aber nicht unbedingt. Was er in seinem Ehrenamt erlebt, wiederhole sich auf ähnliche Weise bei den Schulaufführungen mit dem Theater Thevo: „Junge Menschen mit Fluchterfahrung, die vielleicht noch nicht lange in Deutschland sind, lernen einen kennen, der es geschafft hat, hier anzukommen. Die Menschen müssen Ziele haben“, beschreibt er.
Irfan Taufiks Geschichte ist außerdem ein Türöffner. „Wenn wir in Schulklassen spielen, fragen die Jugendlichen mit Migrationsbiografie immer zuerst, wo ich denn herkomme. So entsteht Vertrauen“, erzählt er. „Wir schaffen eine Ebene, auf der wir über alles diskutieren können.“
Irfan Taufik lebt in einem Reihenhaus in der Nürnberger Vorstadt – zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern. Sein Terminkalender ist gut gefüllt. Denn Taufik ist Fixpunkt der Nürnberger Kulturlandschaft, Träger von Ehrenpreisen. Trotzdem müsse er flexibel bleiben, immer bereit sein, weiterzuziehen. „Wir haben unsere Wurzeln dort, wo wir geboren sind. Es fühlt sich an, als habe ich meine Wurzeln rausgerissen und in eine andere Erde gepflanzt.“ Wo Irfan Taufik lebt, sei letztendlich egal. „Hauptsache, ich kann mit meiner Familie sein und Theater spielen.“
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