Ort der Zuflucht — Susan Al-Salihi

An der deutschen Bürokratie ist Susan Al-Salihi schon oft verzweifelt. Heute bringt sie andere Frauen mit Migrationsgeschichte zusammen, die voneinander lernen und sich gegenseitig zu stützen – in einem Land, das ihnen vieles abverlangt.
5. Februar 2024
4 Minuten Lesezeit
Text: Natalie Klüver — Fotos: Peter van Heesen

So ruhig sei es selten, sagt Susan Al-Salihi fast schon entschuldigend. Wenn in der Lübecker Altstadt die „Stadtmütter“ zusammentreffen, „dann ist es trubelig, so wie in einer großen Familie“. Gemeint sind Frauen mit Migrationsgeschichte, die ehrenamtlich Familien beraten und im Alltag begleiten. Sie kommen aus Armenien, Syrien, Tunesien, Kasachstan, Russland, Eritrea. Viele verschiedene Sprachen schwirren dann umher, viele Stimmen, Geschichten.

Susan Al-Salihi ist die Vorsitzende des Vereins und mit einer 30-Stunden-Stelle beschäftigt. Ausreichend, um allen Aufgaben gerecht zu werden, ist das längst nicht, weshalb auch sie irgendwie eine Ehrenamtliche ist. Als Job versteht Al-Salihi die Arbeit bei den „Stadtmüttern“ ohnehin nicht, vielmehr ist es für sie ein persönliches Anliegen: „Ich möchte etwas von dem weitergeben, was ich in den ersten Jahren in Deutschland gelernt habe, lernen musste.“

Die ersten Jahre in Deutschland liegen mittlerweile schon länger zurück. Vor 13 Jahren zog Susan Al-Salihi mit ihrem Mann nach Lübeck in Schleswig-Holstein. Geboren wurde die heute 45-Jährige im Irak, arbeitete dort für das Internationale Rote Kreuz als Dolmetscherin für Arabisch und Englisch, später für die UN in Jordanien, der Heimat ihres Mannes.

Nach Deutschland kam sie schließlich über ein Fachkräfteprogramm der EU – und gleich vier Länder standen zur Wahl. Am Ende, sagt Al-Salihi „hat sich Deutschland für uns entschieden“. Die ersten Monate „in einem neuen Land mit einer unbekannten Sprache“ seien jedoch nicht gerade einfach gewesen, auch für die beiden Kinder nicht – damals ein und drei Jahre alt.

Einander helfen

Al-Salihi lernte Deutsch und begann sehr bald schon, sich ehrenamtlich zu engagieren und in einer Sprachschule Arabisch zu unterrichten. Dabei aber blieb es nicht: „Ich wollte immer mit anderen Frauen zusammenarbeiten, um ihnen zu zeigen, wie sie ihre eigenen Ziele erreichen können.“ Anderen Mut zu machen, an sich und die eigenen Fähigkeiten zu glauben, das sei ihr schon immer wichtig gewesen, erzählt Al-Salihi.

Ihre Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie wollte sie deshalb mit anderen teilen, um das Ankommen zu erleichtern. Aufklären über Strukturen, die entscheidend sind, die aber nicht unbedingt im Reiseführer stehen. Und hinweisen auf die vielen unausgesprochenen Regeln, die den deutschen Alltag prägen. „Viele Frauen erleben Diskriminierung und können sich nicht wehren, weil sie die Sprache nicht richtig beherrschen.“

Susan Al-Salihi kann sich noch gut daran erinnern, wie isoliert sie sich in den ersten Monaten gefühlt hat. Eine Anlaufstelle wie die „Stadtmütter“, das hätte ihr damals sehr geholfen – die Möglichkeit also, andere Frauen zu treffen und sich auszutauschen. „Wissen ist Macht. Wissen hilft Frauen, ihren eigenen Weg zu gehen“, verdeutlicht Al-Salihi. 

Mit ihrem Ehrenamt begann sie nach sechs Jahren in Deutschland im Nachbarschaftsbüro Hudekamp, einem Stadtteil von Lübeck. Von der beschaulichen Altstadt ist dort kaum etwas übriggeblieben: Plattenbauten statt Backsteinromantik. Hudekamp liegt im Westen Lübecks und ist ein Stadtteil, über den es viele Vorurteile gibt. Vorurteile, wie sie vielerorts über jene Viertel gefällt werden, in denen das Einkommensniveau ein anderes ist als in den Zentren.

Auf Augenhöhe

Den Stereotypen begegnete Al-Salihi mit einem selbstgedrehten Film. „Happy im Hudekamp“ dokumentiert, was der Stadtteil den Familien bietet. Mehr als 14 000 Mal wurde das Video bis heute aufgerufen. Sich neuen Herausforderungen zu stellen, beschreibt Susan Al-Salihi als eine ihrer größten Stärken. Und so wurde aus ihrem Ehrenamt 2016 eine hauptamtliche Stelle bei den „Stadtmüttern“. Al-Salihi arbeitete sich ein, übernahm Verantwortung, stellte Anträge und schrieb Jahresberichte. Rückblickend „eine große Möglichkeit zur Entwicklung“. 

Der Verein existiert in Lübeck bereits seit 2013, gegründet nach einem Berliner Vorbild. Mehr als 250 Frauen haben sich seitdem beteiligt. „Stadtmutter“ sind sie ein Jahr lang, besuchen in dieser Funktion andere Frauen in der Nachbarschaft oder auch im persönlichen Umfeld und beraten sie in jedweder Lebenssituation – beim Besuch von ärztlichen Praxen, Kindergärten, Jugendamt, Behörden, genauso beim Ausfüllen von Formularen oder Anträge.

Der Verein funktioniert dabei wie ein Netzwerk, das stetig weiter wächst. Das erste halbe Jahr werden interessierte Frauen inhaltlich geschult: Bildungssystem, Inklusion oder Umgang mit Medien – Themen, die das Leben in Deutschland bei Nicht-Wissen kompliziert machen können. Im zweiten Schritt geben die „Stadtmütter“ ihr neu erworbenes Wissen an andere weiter.

Probleme auf Augenhöhe lösen, Familien Ängste nehmen und Frauen Mut machen, ihr Leben selbst die Hand zu nehmen – auch in einem fremden Land, so beschreibt Al-Salihi die Idee des Vereins. „Es sind alles Frauen, die etwas verändern wollen, für sich und andere.“ Das mache die besondere Atmosphäre aus, wenn die „Stadtmütter“ sich treffen. Auch nach Jahren noch.

Zukunftssorgen

Dass die aktive Zeit begrenzt ist, habe vor allem mit der langen Warteliste zu tun, weiß Al-Salihi. Viele Frauen würden sich auch länger engagieren wollen, doch die Gelder, die die Hansestadt Lübeck dem Verein bereitstellt, würden jedes Jahr nur für eine begrenzte Zahl reichen. Derzeit seien 37 Aktive in den verschiedenen Stadtteilen unterwegs. Einmal in der Woche kommen sie an einem großen Tisch zusammen. Wie ein großes Klassentreffen, findet Susan Al-Salihi.

„Wir können die Welt nicht ändern, aber hoffentlich ein bisschen besser machen“, sagt sie. Die Frauen sammeln zum Beispiel Spenden für Erdbebenopfer auf der ganzen Welt oder für die Ukraine. Zu tun gebe es genug, bemerkt Al-Salihi: „Die Welt kommt nicht zur Ruhe.“ Immer neue Katastrophen, neue Krisen. „Und sie alle beeinflussen auch unser Leben in Deutschland.“

Um darauf die passenden Antworten zu finden, arbeitet Susan Al-Salihi nun daran, das Projekt der „Stadtmütter“ auf weitere Städte und Gemeinden in Schleswig-Holstein zu übertragen. Dafür erstellt sie Finanzpläne und gibt Coachings – alles zusätzlich zu ihrem ohnehin straffen Pensum. Doch es erfüllt sie mit Freude. Susan Al-Salihi ist angekommen in Lübeck. Sie liebt es, in der Hansestadt etwas bewegen zu können bewegen. Aber fühlt sie sich auch zuhause? 

„Vor einem Jahr hätte ich noch klar gesagt: Lübeck ist meine Heimat.“ Die Aggressivität aber habe zugenommen, das Klima sei schlechter geworden. Susan Al-Salihi fühle sich nicht mehr so willkommen. Die Spaltung der Gesellschaft habe gerade in den letzten Monaten immens zugenommen. „Umso wichtiger ist die Arbeit mit den ‚Stadtmüttern‘“, fasst sie zusammen. „Wir versuchen hier vor Ort, die entstandenen Risse wieder zu reparieren.“

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