Text: Tom Waurig — Fotos: Tom Thiele
Mit diesem überwältigenden Zulauf hatte kaum jemand gerechnet. Vor gut zehn Monaten fand in Berlin die Unteilbar-Demonstration statt. 40 000 Menschen waren angemeldet worden, doch es kamen fast eine Viertelmillion. Damals hatte ein Bündnis aus mehr als 450 Organisationen, lokalen Gruppen und Prominenten unter dem Motto „Solidarität statt Ausgrenzung“ mobilisiert. Ähnliche Proteste hatte es zuvor schon in München und Hamburg gegeben. In allen drei deutschen Städten versammelten sich Abertausende Menschen auf der Straße, um sich dem Rechtsruck entgegenzustellen. Das erklärte Ziel des Bündnisses war es, die Zivilgesellschaft zu vereinen.
Diesen „Herbst der Solidarität“ wollen Maximilian Becker und andere neu aufleben lassen – in Sachsen. Sie wollen „nicht immer nur auf Rechtsaußen reagieren müssen, sondern eine eigene Geschichte erzählen“, erklärt Becker.
Doch der Freistaat tickt natürlich anders als Berlin, dessen ist sich Becker bewusst. Aktionen, die in der Millionenstadt funktionieren mögen, können im östlichsten Teil des Landes – das Außenstehende wie Einheimische als „eigenwillig“ beschreiben – auch krachend scheitern. Und nicht zuletzt ist die politische Situation eine deutlich andere als im rot-rot-grün regierten Berlin.
„Der Rechtsruck ist im Osten sehr viel konkreter und bedrohlicher“, fasst Becker die Stimmung zusammen. Tatsächlich könnten die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Spätsommer und Herbst gleich drei amtierende Regierungschefs die Posten kosten. Umfragen der Meinungsforschungsinstitute zumindest deuten an, dass sich die Parteienlandschaft in allen drei ostdeutschen Bundesländern deutlich verändern wird. Auch ein Wahlsieg der AfD wäre längst keine Überraschung mehr.
Das Szenario um Schwarz-Blau
In Sachsen jedenfalls muss die traditionell regierende CDU mit drastischen Verlusten rechnen. Für eine Neuauflage der schwarz-roten Koalition wird es aller Voraussicht nicht reichen und nachdem die AfD sowohl bei der Bundestagswahl 2017 als auch bei der Europawahl Ende Mai vor der CDU gelegen hat, sorgen sich nicht wenige um das, was kommen mag. Wird Sachsen sogar das erste Bundesland sein, in dem die rechtspopulistische Partei in Regierungsverantwortung kommt?
So oder so steht der Freistaat vor einer komplizierten Regierungsbildung. Rechnerisch möglich wären momentan nur ein bisher noch nie da gewesenes Vierer-Bündnis aus CDU, SPD, FDP und Grünen oder eine unionsgeführte Minderheitsregierung – beides nur schwer vorstellbar. Eine Koalition mit AfD und Linkspartei schloss der amtierende Regierungschef Michael Kretschmer bisher immer kategorisch aus.
Doch diese Meinung teilen längst nicht alle in der Union. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen beschrieb die Möglichkeit einer solchen Koalition mit den Worten „man weiß nie“. Auch die Berufung des emeritierten Dresdner Politikwissenschaftlers Werner J. Patzelt in die Programmkommission der sächsischen CDU werten einige als Zeichen, dass ein schwarz-blaues Bündnis zumindest nicht mehr völlig unrealistisch zu sein scheint.
Denn sowohl Maaßen als auch Patzelt gehören beide der Werte-Union an, einer konservativen Strömung in der Union, die 2017 als Reaktion auf die Geflüchtetenpolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entstand. Und im Kommunalen nähern sich beide Parteien bereits an. So überließ die Union bei der Konstituierung des Stadtrates im thüringischen Geisa der AfD einen CDU-Platz im Hauptausschuss.
Zivilgesellschaft unter Druck
Im Osten scheint die AfD ohnehin längst zur Volkspartei geworden zu sein. Umso angespannter ist die politische Lage in Sachsen. Besonders die Engagierten im Freistaat stehen unter Druck – nach der Landtagswahl wohl noch mehr. Denn egal, ob die Partei an der Regierung beteiligt sein wird oder nicht, für die Initiativen dürfte es mit steigenden Stimmenanteilen für die AfD alles andere als einfacher werden.
Doch leicht war es für Anti-Rechts-Projekte hier eigentlich noch nie. Über Jahre haben die konservativen Kräfte im Land geleugnet, dass es überhaupt ein Problem gibt – und, als sie es spätestens nach den Aufmärschen in Chemnitz endgültig eingeräumt haben, betont, dass auch der Linksextremismus bekämpft werden müsse. Das findet auch die AfD. Initiativen, die sich dem Kampf gegen rechts verschrieben haben, möchte sie am liebsten die Gelder streichen.
„Die AfD stellt jegliches antifaschistisches Engagement in Frage“, meint auch Maximilian Becker. Erst im Juni legte die Fraktion im sächsischen Landtag einen Gesetzesentwurf vor – darin heißt es folgendermaßen: „Es ist verboten, Zuwendungen aus Mitteln des Freistaates Sachsen oder seiner Gebietskörperschaften für Zwecke der Demokratieerziehung oder anderer Formen der politischen Bildung außerhalb der gesetzlich geregelten Parteienfinanzierung zu gewähren.“
Mit ihrer harten Linie gegen zivilgesellschaftliches Engagement hat die Partei offensichtlich Eindruck hinterlassen. Denn in Teilen der Verwaltung gebe es eine große Angst, sich mit einer Förderung von Projekten angreifbar zu machen, berichten Engagierte. Bei Veranstaltungen werde heute sehr viel intensiver als früher geprüft. Und über Rechtspopulismus solle am liebsten gar nicht diskutiert werden.
Sachsen bleibt ein „Sonderfall“
Der Zuspruch für Unteilbar wächst dadurch weiter – auch durch die Ergebnisse bei den Europa- und Kommunalwahlen, erzählt Maximilian Becker. Die AfD gewann in Sachsen nämlich nicht nur die Europawahl, sondern zog auch mit vielen Hundert Mandaten in Kommunalparlamente ein. Becker haben die Ergebnisse zwar durchaus schockiert, aber auch nicht wirklich überrascht. „Schon bei der vergangenen Bundestagswahl hat sich abgezeichnet, dass Sachsen ein Sonderfall in Deutschland ist.“
Und neben den Wahlergebnissen haben sich andere Städte im Freistaat tief ins Gedächtnis gebrannt. Heidenau, Bautzen, Freital, Meißen, Chemnitz stehen heute sinnbildlich für die rassistische Stimmung im Land, die im Osten noch einmal deutlicher zu spüren zu sein scheint. Geflüchtete und Engagierte werden immer wieder angefeindet, bedroht, attackiert oder angegriffen.
Diesen besorgniserregenden Entwicklungen will das Bündnis um Maximilian Becker ein starkes Symbol entgegensetzen. Sie möchten so viele Engagierte versammeln wie nur irgendwie möglich. Und nicht nur eine große Demonstration soll es geben – sondern gleich zwei. Die erste Anfang Juli in Leipzig und eine zweite Ende August in Sachsens Landeshauptstadt Dresden. „Wir werden zu Beginn des Wahlkampfes und kurz vor der Stimmabgabe ein Zeichen für Solidarität setzen“, sagt Becker.
Dresden wurde ganz bewusst ausgewählt, gewissermaßen als symbolträchtiger Ort. Immerhin geriet die Stadt in den letzten Jahren als Pegida-Aufmarschstätte in den Fokus diverser Debatten. Und zwischen den Großdemonstrationen unterstützt das Bündnis außerdem noch eine mehrwöchige Konzerttour die den bedeutungsschweren Titel „Wann wenn nicht jetzt“ trägt.
Einsatz für Klimagerechtigkeit
Mehrere Hundert Unterschriften zählt der Unteilbar-Demonstrationsaufruf mittlerweile – von der AWO über Antifa-Gruppen bis hin zu Hochschulen, Schauspielhäusern oder kirchlichen Organisationen. Die Palette der Unterstützung ist breit und das mit Absicht. Unzählige Willkommensinitiativen und antirassistische Bündnisse versammelt der Unteilbar-Gedanke hinter sich.
Mitorganisator Maximilian Becker gehört zum Leipziger Ableger der Initiative „Ende Gelände“, einem Zusammenschluss von mehreren Umweltgruppen und Menschen aus den Anti-Atom- und Anti-Kohle-Bewegungen. Zusammen kämpft die Initiative für Klimagerechtigkeit und fordert einen „sofortigen Kohleausstieg“. Bekannt wurde sie insbesondere durch die Besetzung des Hambacher Forstes, den der Energiekonzern RWE roden will. Demonstrierende wohnen bis heute in Baumhäusern, um dies zu verhindern.
„Klimagerechtigkeit wird auch bei den Unteilbar-Demonstrationen in Sachsen eine wichtige Rolle spielen“, sagt Becker. Durch die Fridays for Future-Bewegung stehe dieses Thema schon weit oben auf der politischen Agenda des Landes. Und auch die Mehrheit der Deutschen ist offenbar gewillt, sich in Verzicht zu üben, um die CO2-Emissionen zu verringern – jedenfalls in der Theorie.
Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov für die Nachrichtenagentur dpa sind drei von vier Erwachsenen (74 Prozent) persönlich bereit, auf Kurzstreckenflüge zu verzichten. 63 Prozent würden „deutlich“ weniger Fleisch essen, immerhin noch 56 Prozent der Befragten das Auto in Innenstädten stehen lassen. Auch nach der Europawahl erklärten Untersuchungen den Klimaschutz zum wahlentscheidenden Thema. Unteilbar will deshalb nicht darauf verzichten.
Zehntausende werden erwartet
Einen Unterschied in der Mobilisierung spürt Becker bislang nicht. Der Zuspruch in Dresden und Leipzig sei ähnlich gut. „Hinter unserem Aufruf versammeln sich all jene, die für eine offene und freie Gesellschaft einstehen.“ Mit 10 000 Menschen rechnet das Unteilbar-Bündnis in Leipzig, mindestens doppelt so viele sind für Dresden geplant.
Angekündigt hat sich auch die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Sie will mit einem dutzend Traktoren nach Dresden kommen und sich der Großdemonstration anschließen, was die Planungen vor einige logistische Herausforderungen stellt. Auch Sonderzüge soll es geben. Nur die Route ist noch offen. Finanziert wird das alles über Spenden. Geplant hat das Bündnis mehr als „eine klassische Latschdemo“, wie Becker versichert. In Leipzig soll es auch ein Stadtfrühstück geben, zu dem alle Menschen eingeladen sind, um sich kennenzulernen und einander zu begegnen.
Mehr als vier Monate haben Becker und Co. den sächsischen Demonstrationsaufruf vorbereitet. „Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden“, heißt es dort unter anderem. 20 Engagierte gehören momentan zum Vorbereitungskreis. „Jede Woche telefonieren die sich zusammen, um Aufgaben abzugleichen“, berichtet Becker, der selbst vor allem mit der Demonstration in der Messestadt Leipzig betraut ist.
Mit den geplanten Protesten verbindet er gleich mehrere Ideen. Becker will Initiativen zusammenbringen, um ein anderes Bild von Sachsen in die Welt zu tragen. „Bei uns brennt der Baum am allerstärksten. Deshalb ist hier Intervention nötig, aber auch ein Sichtbarmachen aller solidarischen Initiativen.“
Hoffnung auf den großen Effekt
Becker will dabei auch Gräben überwinden. Bündnisprozesse seien in Sachsen nicht immer wirklich gut gelaufen, bemerkt er. Unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen oder ideologische Streitigkeiten hätten in der Vergangenheit eine Zusammenarbeit erschwert oder gar unmöglich gemacht. Nun aber würden alle zusammenstehen.
„Egal was nach der Landtagswahl passiert, wir denken Kämpfe und Engagement nur noch gemeinsam“. Nicht zuletzt erhofft sich Becker natürlich auch einen Effekt auf die Ergebnisse bei der Landtagswahl. „Positive Bilder haben einen enormen Effekt“, davon ist er überzeugt. Ohnehin hält der Endzwanziger solche Demonstrationen für eins der wenigen Mittel, um „das Ruder noch rumzureißen, auch wenn die Zeit knapp ist. Wir dürfen auf keinen Fall den Kopf in den Sand stecken, auch wenn die Ergebnisse der Europawahl sehr ernüchternd waren.“
Warum die politische Lage überhaupt so schlecht ist in Sachsen? Viel habe mit den Nachwende-Erfahrungen zu tun, meint Becker, mit tiefsitzender Enttäuschung über die versprochenen blühenden Landschaften, die nicht kamen – und mit dem Rückbau der sozialen Infrastruktur. Während in der Finanzkrise mit Milliardenbeträgen hantiert wurde, sei im Dorf auch noch die Schule geschlossen worden.
Viele Menschen im Osten fühlten sich abgehängt. Und aus diesem Grund seien sie so empfänglich für einfache Lösungen. „Die AfD verspricht ein Zurück in eine Zeit, die für einige vermeintlich besser war. Obwohl wir die besseren Alternativen haben, gelingt es uns nicht, diese zu vermitteln. Es bleibt unsere Aufgabe, weiter daran zu arbeiten, dass Themen wieder anders besetzt und die Debatten anders geführt werden.“ Unteilbar sei dabei ein Anfang und ein Zeichen des Aufbruchs in politisch schwierigen Zeiten.
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