Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Veronika Gräwe hebt den Blick hinauf zu ihrer Namensvetterin, der heiligen Veronika, die Jesus auf dem Weg nach Golgatha das Schweißtuch reicht. Das Bild ziert den pastellfarbenen Innenraum von St. Augustinus, einer katholischen Kirche in Berlin-Pankow. Das Gebäude ist in die Häuserzeile eingezwängt und wirkt so fast unscheinbar. Nur der Kirchturm überragt noch die Nachbarbauten. Hier in der Studierendengemeinde hat Gräwe ihre erste Predigt gehalten, war lange Zeit im Gemeinderat. Doch auch hier ist sie nicht uneingeschränkt willkommen.
Wer hätte gedacht, was betende Frauen für einen innerkirchlichen Skandal auslösen würden. Die Bewegung Maria 2.0, zu der auch Veronika Gräwe gehört, sorgte vor Jahren schon für Aufsehen, weil sie Frauen zum demonstrativen Gebet vor den Kirchentüren versammelte. Die Botschaft: „Wir wollen nicht länger ausgeschlossen bleiben!“ Eine Veranstaltung schlug bis in die Ränge des Erzbistums Berlin Wellen. Junge katholische und evangelische Gläubige hatten sich zu einer queerfeministischen Andacht zusammengeschlossen. „Das hat richtig Unruhe ausgelöst“, erzählt Veronika Gräwe, eine Spur erheitert.
Veronika Gräwe ist katholisch und queer, Theologin und auch Aktivistin. Ihr Einsatz für die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt ist gleichzeitig der Kampf für ihre Anerkennung in einem hierarchischen Apparat, der systematisch cis Männer bevorzugt, aber auf der Mitarbeit aller fußt. Rund 70 Prozent der ehrenamtlichen Tätigkeiten in der katholischen Kirche werden von Frauen gestemmt. Aufstiegschancen allerdings hatten diese ebenso wenig wie Queers, die gemäß des Katechismus – das Handbuch des christlichen Glaubens – als „sündig“ gelten und laut kirchlichem Arbeitsrecht dafür bis November 2022 gekündigt werden konnten.
Mit der Neuordnung des kirchlichen Arbeitsrechts durch die Deutsche Bischofskonferenz Ende des letzten Jahres wurde im Grunde eine Revolution ausgelöst, wenn auch eine kleine: „Alle Mitarbeitenden können unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrem Alter, ihrer Behinderung, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Identität und ihrer Lebensform Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer den Menschen dienenden Kirche sein“, heißt es in dem entsprechenden Beschluss, der seither für 775 000 Beschäftigte der katholischen Kirche gilt. Neben dem Staat ist sie die größte Arbeitgeberin in Deutschland. Sie besitzt Grundstücke und Wälder, unterhält Verlage, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser. Eine mächtige Chefin, die sich grundlegend bekehrt? „Die Angst ist nicht plötzlich weg“, sagt Veronika Gräwe.
Wie über 500 weitere Mitarbeitende der katholischen Kirche hat Gräwe mit der Bewegung „Out in Church“ ihr Queersein öffentlich gemacht hat. Der krasseste Moment aber sei für sie ein anderer gewesen: „Ich bin Mitglied des katholischen LSBT+-Kommitees. Als ich die erste Pressemitteilung mit rausgegeben habe, wusste ich: ‚Okay, jetzt bin ich öffentlich queer.‘ Das ist die Entscheidung, mit der ich mir berufliche wie persönliche Chancen verbaue.’“
Gräwe ist Teil eines jahrzehntelangen Kampfes für Gleichberechtigung, der zahlreiche Opfer forderte: Menschen wurde wegen ihrer offen gelebten Geschlechtsidentität oder wegen ihrer Beziehungen gekündigt, sie wurden gemieden oder ausgeschlossen. Das zog schmerzhafte Risse nach sich: Isolation, psychische Probleme, Existenznot, Druck. Es stand also die Wahl zwischen einem Leben im Verborgenen und der Gefahr, von der Kirche verstoßen zu werden. „Mir geht es schlechter, wenn ich mich verstecke. Deshalb gehe ich das Risiko ein“, fasst Veronika Gräwe ihre persönliche Entscheidung zusammen.
Eigene Identität als Risiko
Die erschütternde Aufdeckung systematischen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche war 2019 das Gründungsmoment des Synodalen Wegs, ein Reformprojekt das von den deutschen Bischöfe selbst angestoßen wurde. Das Credo: Die Kirche muss sich verändern und öffnen, wenn sie in Zukunft bestehen will. Gräwe begrüßt die innerkirchlichen Reformen wie die Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts. Zurücklehnen kann sie sich aber nicht: „Der Beschluss enthält noch ziemlich schwammige Formulierungen, besonders in Bezug auf trans Personen“, gibt sie zu bedenken. Erst kürzlich hätten die Verantwortlichen des Synodalen Wegs einen Grundlagentext zu sexueller Vielfalt abgelehnt. Auch sind nach jetzigem Stand Lehrende der katholischen Religion ebenso von Reformen ausgenommen wie Führungskräfte und pastorale Mitarbeitende. An den Hebeln der Macht sitzen demnach weiterhin cis Männer.
Ein weiterer Haken sei eine Unbedenklichkeitserklärung aus Rom, das Nihil Obstat, an das Menschen gebunden sind, die katholische Theologie an staatlichen Universitäten lehren wollen. „Das hängt an komplexen Verträgen zwischen Deutschland und dem Vatikan und ist nichts, was die Deutschen Bischöfe alleine ändern können“, erklärt Gräwe.
Damit ist die To-do-Liste für sie längst noch nicht am Ende. „Was ist mit den Menschen, die gekündigt worden sind? Werden die jetzt wieder eingestellt?“, zählt sie auf. „Bezahlt die katholische Kirche ihnen die Behandlung bei verursachten psychischen Leiden, wenn es die Krankenkasse nicht mehr tut? Und welche Entschädigungen gibt es?“ Letzteres sei für sie ein entscheidender Schritt bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Es gehe ihr nicht nur um Wiedergutmachung, sondern auch darum, wie diese abläuft. „Bei Entschädigungsprozessen kommt es zu Retraumatisierungen, weil sie unsensibel vorgenommen werden.“
Das Image der katholischen Kirche ist derzeit im Wandel. Durch fallende Festungen weht der Wind des Aufbruchs. Angesichts der Austrittswellen scheint die Kirche nun schlussendlich gezwungen, sich zu verändern, um nicht unterzugehen. Immer wieder stößt Veronika Gräwe deshalb auf ein persönliches Dilemma: „In dem Moment, in dem ich zum positiven Beispiel werde, muss ich mir überlegen, ob ich damit ein System stabilisiere, das ich eigentlich nicht stabilisieren sollte.“ Deshalb setzt sich dafür ein, dass die Regenbogenfarben die Substanz bilden, nicht nur einen Anstrich des alten Gemäuers Kirche.
Getrieben ist sie von der berechtigten Sorge, dass eine Änderung des Arbeitsrechts nicht zwangsläufig eine Änderung der Verhältnisse nach sich ziehen könnte. „Werde ich vielleicht aufgrund vorgeschobener Gründe abgelehnt, weil ich queer bin oder mich kritisch geäußert habe?“, fragt sie stellvertretend für viele andere. „Wirklich sicher kann ich mir erst sein, wenn ich einen unterzeichneten Arbeitsvertrag habe.“
Vorbehalte und Ausgrenzung sind immer noch Alltag. Die Reformen der Kirche würden einerseits begrüßt. Viele Gemeinden zeigten sich erfreut und öffneten die Türen. „Zugleich treffen bei Hauptamtlichen aber auch Wäschekörbe voll Beschwerdepost ein“, weiß Gräwe. „Einzelne Bischöfe stellen sich quer.“ Und die haben weiterhin großen Einfluss.
Verletzungen wirken nach
Die Bewegung „Out in Church“ hat kürzlich erst einen eigenen Verein gegründet und Gräwe ist Mitherausgeberin eines Sammelbandes. Die Theologin zeigt neben ihrer Doktorarbeit zum Thema LGBTIQ+ in christlichen Familien nicht nur Gesicht, sondern gibt Workshops, bildet andere weiter. Sie hat in ihrer Kindheit selbst sexualisierte Gewalt erlebt und als Jugendliche in der stationären Jugendhilfe gewohnt. Sie weiß: Verletzungen wirken lange nach. Gräwe steht unerschütterlich an der Seite Betroffener. Versöhnt sei sie mit der Kirche bei Weitem nicht, aber doch nicht mutlos: „Bei aller Machtlosigkeit, die es in einer nicht-demokratisch aufgebauten Kirche hat, gibt es viel, was wir bewegen können.“
Dass sie als Person das konservative Weltbild herausfordern würde, war ihr klar: „Selbst hetero Frauen haben Angst, sich zu zeigen.“ Das Problem sei die katholische Sexualmoral, die Sex außerhalb der Ehe, aber auch weiterhin Homosexualität stigmatisiere. „Der konservative Widerstand wird nicht aufhören, solange wir den Katechismus nicht geändert haben“, sagt Gräwe entschlossen. Das obliegt dem Papst – und der zeige sich sehr ambivalent.
Im Zuge seiner Reise in die Demokratische Republik Kongo und den Südsudan betonte er, dass Homosexualität zwar eine Sünde sei, aber nicht kriminell. Berufen hat er sich auf den Katechismus. „Für Länder, in denen Homosexualität strafbar ist, ist das sehr progressiv“, erklärt Gräwe. Gleichzeitig legen selbst kulante Empfehlungen modernerer Versionen des Katechismus irgendwie nahe, dass es sich bei Homosexualität um eine „Anomalie“ handle, der mit „Mitgefühl und Takt“ zu begegnen sei.
„Mit wurde ein Leben lang erklärt, was die katholische Kirche alles nicht ist“, sagt Veronika Gräwe. Gemeinsam mit vielen Mistreitenden hat sie sich auf die Suche danach gemacht, was die katholische Kirche denn sein kann. Deshalb sei sie nicht ausgetreten – noch nicht. „Aber ich möchte nicht ausschließen, dass ich das System in zwei Jahren als unrettbar empfinde“, stellt sie sachlich fest. „Ich könnte es verkraften, nicht für die Kirche zu arbeiten. Was mich hält ist, dass ich Theologie gerade als Ort erlebe, an dem wir viel bewegen können: Klima, Feminismus, Inklusion.“ Nächstenliebe und Solidarität, das sei es, was sie aus der Bibel lese: „Es ist unsere christliche Aufgabe, an der Seite Benachteiligter zu stehen.“
Die Sehnsucht, Kirche und Glauben anders als bisher zu leben, sei groß. Deswegen sollen auch die queerfeministischen Andachten weitergehen. Gemeinsam mit der evangelischen Vikarin Maike Schöfer und weiteren Mitstreitenden entwickelte Gräwe eine ökumenische Liturgie. Sie kombinierten Elemente aus beiden Kirchen, ließen unterschiedliche Predigende zu. Das Thema: „Welche Marienbilder haben wir?“ Der Frage, wer eigentlich predigen darf, ist Gräwe schon einmal kritisch bei einem Preacher Slam in Berlin nachgegangen. Nach den aktuellen Regeln sind es jenseits der Laienpredigt nicht-behinderte, heterosexuelle, zölibatäre cis Männer. „Wie sollen sich da Menschen in anderen Erlebnis- und Erfahrungswelten verstanden fühlen? Welche Werte werden da vermittelt?“
Der bedachten Theologin Veronika Gräwe gelingt in einem Drahtseilakt der Kampf gegen Goliath; mühsam, aber entschieden. Sie ist deshalb auch nicht mehr auf die katholische Kirche der Vergangenheit angewiesen – aber die Kirche der Zukunft längst schon auf sie. „Mich hat ein Aufruf immer wieder bestärkt: ‚Bildet Banden!‘“
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