VEranTwOrtung — Kolumne Sookee

Die Kindergrundsicherung hat die Ampel im Koalitionsvertrag festgehalten, doch plötzlich ist alles wieder offen. Die FDP hält die Pläne für zu teuer. Hinter der Diskussion verbirgt sich ein neoliberaler Klassismus-Klassiker.
1. Mai 2023
2 Minuten Lesezeit
Text: Sookee — Foto: Benjamin Jenak

„Für Familien mit Kindern ist bereits viel passiert.“ Mehr sei „immer wünschenswert, aber nicht immer möglich“. So formulierte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seine Abfuhr an die Grünen für die geforderte Kindergrundsicherung. Er sehe „kaum Spielraum“. Eine, wie ich finde, bezeichnende Wortwahl – entlarvt sie doch deutlich, mit welcher antisozialen Haltung auf armutsbetroffene Familien herabblickt wird. 

Die Ampel-Regierung hatte sich im Koalitionsvertrag eigentlich auf eine Kindergrundsicherung als sozialpolitisches Vorhaben geeinigt, um Kinderarmut – von der aktuell jedes fünfte Kind in Deutschland betroffen ist – zu reduzieren. Zunächst wurde zu Jahresbeginn das Kindergeld von 219 auf 250 Euro monatlich erhöht. Ab 2025 sollen außerdem bürokratische Hürden für weitere Zahlungen fallen. Denn bislang wird etwa der einkommensabhängige Kinderzuschlag aufgrund behördlicher Unwegsamkeiten von vielen Familien gar nicht in Anspruch genommen.

Kurz zusammengefasst bedeutet das: erhöhter Garantiebetrag für alle, gerechtere Staffelung und vor allem zugänglichere Verteilungswege. Die Bevölkerung solle so aus ihrer Holschuld entlassen und der Staat zur Bringschuld verpflichtet werden.

Für Christian Lindner sind die von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) veranschlagten 12 Milliarden Euro zu prall. Mit der Kindergelderhöhung sei bereits genug getan, findet der FDP-Chef. Andere Ausgaben hätten Vorrang, zum Beispiel die mit 100 Milliarden Euro üppig finanzierte Bundeswehr oder die Digitalisierung des Staates. Mit letzterem lasse sich zudem ein vereinfachtes Bezugsverfahren ermöglichen, das müsse reichen. 

Der Kapitalismus braucht die Klassengesellschaft, also hält er auch an ihr fest und nimmt dabei in Kauf, dass rund 4,5 Millionen junge Menschen hierzulande gezwungen sind, ihre Kindheit und Jugend unter Schmerz und Scham zu erleben.

Das Denken, das dahintersteht, ist ein neoliberaler Klassismus-Klassiker: Armutsbetroffene Menschen brauchen nicht mehr Geld vom Staat, so die Argumentation, sie brauchen mehr Leistungsbereitschaft. Hier werden Tür und Tor für rassistische Argumentationen geöffnet – denn übrig bleibt am Ende doch: steigende Zuwanderung gleich wachsende Kinderarmut.

Wer sich also schnell und widerspruchslos mit guten Deutschkenntnissen in den Arbeitsmarkt integriert, wird auch nicht zum Problem erklärt. So einfach kann die Welt tatsächlich sein, wenn ideologisch gestützte Unterkomplexität die Realitäten von Alleinerziehenden, Familien mit vielen Kindern, Kindern mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen und Geringverdienende aus der Gesellschaft wischen will. 

Der FDP-nahe Chef des Medienkonzerns Axel Springer, Mathias Döpfner, beschreibt diesen Teil der Gesellschaft als „Gesocks“. So zumindest äußerte er sich gegenüber Mitarbeitenden, wie geleakte Chats zeigen. Lindner wählt sozialverträglichere Worte, ist trotzdem Triebkraft einer gewollten staatlichen Vernachlässigung, die der Gipfel eines institutionellen Adultismus ist. Nicht einmal ökonomische Argumente ziehen mehr: Gut ausgebildete, von tatsächlicher Chancengleichheit getragene Kinder könnten eines Tages den Fachkräftemangel auffangen und damit Deutschlands Zukunftsfähigkeit sichern. Auch ist nachgewiesen, dass Armut körperlich und psychisch krank und damit weniger leistungsfähig macht.

Echte Gerechtigkeit und hierfür notwendige Umverteilungen sind in dieser Logik nicht vorgesehen, nicht gewollt. Der Kapitalismus braucht die Klassengesellschaft schließlich, also hält er auch an ihr fest und nimmt dabei in Kauf, dass rund 4,5 Millionen junge Menschen hierzulande gezwungen sind, ihre Kindheit und Jugend unter Schmerz, Verzicht, Mangel, sozialem Druck und Scham zu erleben. Statt sich frei von Nöten durch die ersten Lebensjahre treiben lassen zu können, um den eigenen Interessen nachzugehen, Fähigkeiten auszubilden und in eine Gesellschaft zu wachsen, die sie willkommen heißt, unterstützt und für sie sorgt. Und Jugend soll doch Zukunft sein. Aber in Lindners Leistungslogik gibt es kaum Spielraum. 

Sookee ist queerfeministische Antifaschistin, Musikerin und Mutter. Und sie ist Fan von gegenseitiger Sichtbarmachung, Rotationsprinzipien und Aufrichtigkeit.

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