Text: Sookee — Foto: Benjamin Jenak
Die Ereignisse überschlagen sich: Kaum ist die Bundestagswahl durch, rutschen wir nun auf einem Mitte-rechts-Sondierungspapier in die Wahrscheinlichkeit einer neuen schwarz-roten Koalition, die offensichtlich nicht angetreten ist, um sich in aller Deutlichkeit vom Fascho-Blau der AfD abzugrenzen. Politisch erwartet uns also die kommenden Jahre das Gegenteil von progressiver Veränderung. Umso wichtiger, einen gesellschaftlichen Politisierungsschub aus dem Wahlkampf aufzugreifen und diesen emanzipatorisch-wirkungsvoll weiterzuentwickeln.
Dass das Interesse für Politik über den zeitlich verkürzten Wahlkampf gewachsen ist, zeigt unter anderem die Wahlbeteiligung: 82 Prozent der Wahlberechtigten haben abgestimmt – so viele, wie seit 1989 nicht mehr. 3,76 Millionen Nicht-Wähler*innen ließen sich mobilisieren, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Wenn die Resignation über die Geschicke des Landes einem kleinen Akt der Selbstermächtigung weicht, ist das erst einmal eine positive Regung. ABER – und das gehört leider zur Realität der repräsentativen Demokratie: 2,71 Millionen der einstigen Nicht-Wähler*innen entschieden sich für CDU und AfD.
Auch die Formate und Tonalität des Wahlkampfs haben sich grundlegend erweitert: Bislang erinnerten uns die Materialschlacht der Wahlplakate und Parteiinfostände daran, dass sich der Parlamentarismus mit einer anstehenden Wahl bestätigt sehen will. Nun aber bewegte sich der Wahlkampf durch die sozialen Netzwerke – und erreichte durch überraschende Wahlbekenntnisse von reichweitenstarken Nutzer*innen und Promis eine neue Dimension.
Rapper Fler posierte mit Philipp Amthor (CDU) im Bundestag, die schwulen Influencer Lars Tönsfeuerborn und Max Rogall wurden von Noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) empfangen, die Erziehungsratgeberin Nora Imlau saß mit Robert Habeck am Küchentisch – und auch der Filmproduzent Tyron Ricketts bekannte sich zu den Grünen. Die Linkspartei sahnte in der aktivistischen Szene kräftig ab: Die Autorin Sibel Schick, der Podcaster Dominik Djialeu, die Comedienne Gazelle, die Ärzte Mertcan Usluer und Aljosha Muttardi, der Autor Ole Liebl, die Sängerin Jennifer Weist und viele andere warben an der Seite von Spitzenpolitiker*innen für Die Linke oder sprachen zumindest eine Wahlempfehlung aus.
Sie alle halfen dabei, die Balance zwischen Komplexität und Umfang von Wahlprogrammen und inhaltlicher und sprachlicher Verknappung von -slogans zu halten und leisteten damit als Orientierungsfiguren für ihre Follower*innen demokratische Vermittlungsarbeit, die ebenso auf das Konto einer flächigen Politisierung vor allem jüngerer Menschen einzahlte.
Ein Kontrast zum parteipolitischen Hervortreten einzelner Gesichter war die massenhafte Beteiligung am Haustürwahlkampf. Hier konnte Die Linke bundesweit zahlreiche Freiwillige hinter sich versammeln, um im Auftrag der Partei in mehr als 600 000 Haushalten direkte Gespräche zu führen. Auch das ist ein wichtiges Signal mit multiplizierender Wirkung – vor allem dann, wenn das Internet mit seinen Memes und 30-Sekündern zur Stelle ist und um vom persönlichen analogen Austausch wieder in die digitale Häppchenwelt wechseln zu können.
Das lineare Fernsehen griff den Trend zur Bürger*innenbeteiligung auf und setzte neben den öffentlich-rechtlichen Klassikern „Wahlarena“ und „Klartext“ auf Gamification und gab mit „Hart aber fair 360“ Wähler*innen die Möglichkeit, sich in direkte Auseinandersetzungen mit Spitzenpolitiker*innen zu buzzern. Die privaten Sender ließen sich nicht lumpen und luden die Kanzlerkandidat*innen direkt zum „Bürger-Speed-Dating“.
Politik wurde in der Zeit des Wahlkampfs erfolgreich als unterhaltsam und nahbar inszeniert. Die Linke profitierte zum Beispiel mit einer Verdopplung der Mitgliederzahl. Auch die Grünen vermeldeten Rekordzahlen. Aber was tun mit all dieser Politik-Begeisterung?
2023 machte der Historiker Anton Jäger mit dem Begriff der „Hyperpolitik“ warnend darauf aufmerksam, dass eine solche Welle der Politisierung nicht in der bloßen Trendförmigkeit verenden dürfe: Wenn politischem Bewusstsein keine politische Organisierung folgt, dann verschenkt eine Gesellschaft die Chance auf tatsächliche Veränderung und überlasst die politische Gestaltungsmacht einigen wenigen. Heißt: Es braucht nachhaltige, zeitgemäße Konzepte, die dieses gegenwärtige Potenzial aufgreift und es in konkrete Teilhabestrukturen überführt, bevor es von multiplen Krisen überlagert wird und verpufft.
Aktive Mitgliedschaften in Parteien und Gewerkschaften wären mögliche Wege. Allerdings müsste diese Form kollektiver Partizipationsprozesse von Kultur, Bildung und öffentlichem Leben gesäumt, gestützt und in ihren Kommunikationsräumen nicht nur beworben, sondern auch normalisiert werden.
An dieser Stelle lohnt sich der Blick auf die Vier-in-einem-Perspektive der Soziologin Frigga Haug: ein kapitalismuskritischer Lebensentwurf der zeitgerechten Arbeitsteilung, der den Tag zu gleichen Teilen in Lohn- und Care-Arbeit, kulturelle Arbeit bzw. eigene Entwicklung und politisches Tun strukturiert. Sicher ist dies aktuell für die wenigsten Menschen unmittelbar umsetzbar, kann aber perspektivisch zum Ziel politischen Wirkens werden.
Und nicht zuletzt sind zivilgesellschaftliches Engagement und bewegungspolitische Sphären von größter Wichtigkeit. Nicht nur deshalb, weil sie ungleich vielfältiger in den Themen und Praxen und weniger formalistisch und hürdenreich sind. Sie bieten auch viel mehr Raum für Kreativität, kritisches Denken, konkrete solidarische Handlungen, Unterschiedlichkeiten in politischen Selbstverständnissen. Und ihnen liegt auch eine andere Zeitlichkeit zugrunde als institutionalisierter Politik. Menschen verbringen ihre Leben darin. Sie identifizieren sich nicht mit Karriereleitern und Machtpositionen, sondern mit der gelebten Utopie.
Die Zeit ist überreif, politische Haltungen aus der Begrenztheit von Bewusstsein und Meinung zu entlassen und in Organisierung zu überführen, damit ein wechselseitiges Zusammenspiel von Parteipolitik, Gewerkschaftsarbeit, Bewegungen und öffentlichem Leben Möglichkeiten der Beteiligung für alle Menschen schaffen. Auch für diejenigen, die in dieser Gesellschaft etwa aufgrund von Adultismus, Rassismus oder Ableismus entrechtet werden.
In Zeiten der Faschisierung haben wir die historische Chance, uns selbst zu beweisen, dass das alles kein wirkungsloser, viraler Polit-Hype ist, der den Rechten zwar besserwissend, aber am Ende doch schulterzuckend das Schicksal unserer Gesellschaft überlässt, sondern eine zukunftsverändernde Kraft, die sich in sich selbst vervielfältigt und den Nöten und Visionen der Menschen im Handeln gerecht wird.
Sookee ist queerfeministische Antifaschistin, Musikerin und Mutter. Und sie ist Fan von gegenseitiger Sichtbarmachung, Rotationsprinzipien und Aufrichtigkeit.