Text: Philine Schlick — Fotos: Martin Lamberty
„Engel in weiß“. So werden Menschen im medizinischen Bereich gerne genannt. An sie und ihre Fähigkeiten werden hohe Erwartungen geknüpft – und viel Vertrauen. „Ein Mensch auf der Suche nach ärztlichem Rat ist verletzlich. Weil er verunsichert ist, Ängste hat, leidet. So entsteht ein Machtverhältnis“, sagt Sara Grzybek von Queermed Deutschland – einem Online-Verzeichnis für queerfreundliche und sensibilisierte Praxen, das Sara Grzybek ehrenamtlich betreut und das nach einem Jahr schon mehr als 400 Adressen zählt.
Grzybek weiß aus Erfahrung, wie sich unsensibles Verhalten während der Behandlung auf das Wohlbefinden und sogar die Genesung auswirken kann. „Bevor ich mich schlecht behandeln lasse, lasse ich mich lieber gar nicht behandeln“, sagt Grzybek. Das fange bei der Anrede und der Verwendung des korrekten Pronomens an und führe bis zu einem vorurteilsfreien Umgang mit den gesundheitlichen Anliegen. „Wenn einer mehrgewichtigen Person zum Beispiel lapidar und ohne Untersuchung geraten wird, ‚erstmal abzunehmen‘, ist das eine Diskriminierung“, stellt Grzybek fest. Und noch dazu eine, die gesundheitliche Folgen haben könne.
Queermed ist das erste Netzwerk seiner Art in Deutschland, das nicht nur die Gynäkologie, sondern alle medizinischen Fachbereiche abdecken möchte und neben Queers auch andere marginalisierte Gruppen berücksichtigt: etwa Menschen aus der muslimischen und jüdischen Community, Schwarze Personen, Mehr- oder Mindergewichtige, Sexarbeitende. Schon zwei Tage nach der Gründung zählte der Instagram-Kanal 500 Fans, wenige Monate später waren es 4000. „Ich hatte nicht erwartet, dass die Resonanz so groß sein würde“, sagt Grzybek.
Es gehe nicht um die Weitergabe schlechter Erfahrungen, sondern um ein positives Framing: Wo finden Menschen medizinische Schutzräume? In welcher Sprache findet die Behandlung statt? Ist die Praxis barrierefrei zugänglich? Sind Anamnesebögen genderneutral formuliert?
Gelöbnis erfüllen
Immer mehr Praxen wünschen sich mittlerweile einen Eintrag auf Queermed Deutschland, beobachtet Sara Grzybek. „Aber so läuft das nicht.“ Selbst sollen sich Praxen und Kliniken nicht eintragen, sondern sich weiterbilden, damit sie von anderen empfohlen werden. Auf dem Internetauftritt stellt Grzybek deshalb Hinweise kostenfrei zur Verfügung, versendet Material, beteiligt sich an Konferenzen und Tagungen. Die medizinische Betreuung solle sich durch Qualität beweisen, nicht durch Versprechungen, so lautet Grzybeks Anspruch.
„Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten“, heißt es in der deutschen Übersetzung der Genfer Deklaration des Weltärztebundes, die auf dem berühmten Eid des Hippokrates aus der Antike beruht. Dass sich keine gendergerechte Formulierung darin findet, sieht Grzybek kritisch: „In der Medizin wird noch immer der weiße, cis männliche Idealkörper gelehrt. Gerade an Universitäten wird Gender Medizin eher auf freiwilliger Basis angeboten.“
Die Forschung aber ist sich inzwischen einig: Frauen, Männer und alle anderen Geschlechter sind unterschiedlich krank. Über die spezifischen Symptome und Medikationen Bescheid zu wissen, kann demzufolge lebensentscheidend sein. Und auch in der Gesellschaft wächst der Wunsch nach einer veränderten Art der Behandlung: 82 Prozent der Befragten einer Studie der Pronova BKK etwa fordern, geschlechterspezifisch über Krankheitssymptome aufgeklärt zu werden. 86 Prozent sehen außerdem die Gesetzgebung in der Pflicht, klare Vorgaben zu einer geschlechterangepassten Gesundheitsversorgung zu machen.
„Geschlechterblinde Gesundheitssysteme können nicht wirksam auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen, Männern und Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten eingehen“, stellt auch die Weltgesundheitsorganisation WHO fest und forderte 2021 den Einbezug geschlechtsbezogener Daten in die Gesundheitssysteme.
Das höchste Gut
Dass Geschlechter sich voneinander unterscheiden, ist schon auf den ersten Blick ersichtlich: Hormonhaushalt, Muskelmasse, Wasseranteil, Fettverteilung. Medikamente werden daher bei Männern und Frauen anders verteilt, gespeichert und verarbeitet. Eine Tablette etwa braucht für den Weg durch den Körper einer Frau – vom Mund durch Speiseröhre, Magen und Darm – doppelt so lange wie durch den eines Mannes. Und dennoch orientieren sich Dosierung und Verabreichung am männlichen Standardpatienten. Erkrankungen, die dagegen nur Frauen treffen, wie etwa Endometriose, sind wenig bis gar nicht erforscht.
Studien belegen darüber hinaus, dass ein respektvoller Umgang, Zuhören und Mitfühlen die Heilungschancen weiter erhöhen. Das Vertrauen steigt – und damit die Bereitschaft, sich auf die Behandlung einzulassen und über Symptome zu sprechen. Das wiederum verringert das Risiko von Behandlungsfehlern. Kliniken und Praxen aber werden Effizienz abverlangt, Zeit wird zu einer knappen Ressource. Nichtsdestotrotz – oder genau deswegen – erfährt der Ruf nach einer ganzheitlichen, individuellen und sensiblen Medizin ein immer größeres Echo.
„Warum den Menschen nicht helfen, wenn es doch so einfach ist?“, meint Sara Grzybek. Das Verzeichnis betreut Grzybek alleine und investiert viel freie Zeit in die Weiterentwicklung des Netzwerks. „Es ist lustig, wenn Leute mich mit ‚Liebes Queermed-Team‘ anschreiben und ich denke so: ‚Hi!‘“ Sara Grzybek studierte Archäologie und Geschichte und das Projekt war anfangs ein Experimentierfeld. Mit dem Quereinstieg bei einer Online-Marketing-Firma wollte Grzybek sich an Neuem ausprobieren. Letztlich sei es ein Hobby, „das groß geworden ist“.
Grzybek wusste von einer Plattform in Österreich, die sensibilisierte Praxen vermittelt. Mit dem Betreibenden nahm Grzybek Kontakt auf und ging im Mai 2021 mit dem eigenen Portal online. „Ich möchte immer noch mehr wissen, damit ich das Projekt besser machen kann.“ Die Inhalte der Seite sollen künftig mehrsprachig verfügbar und intersektionaler aufbereitet sein. Sara Grzybek hat sich vorgenommen, Veränderungen voranzutreiben, solange es nötig ist. „In einer idealen Welt bräuchten wir Queermed gar nicht mehr.“
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