Text: Moritz Piehler — Fotos: Christopher Große-Cossmann
Veto: Mitra, du gehst oft in Seniorenresidenzen, um dort Abwechslung reinzubringen. War das der Anstoß für deine Idee – weil du gemerkt hast, die langweilen sich nur, die brauchen was cooleres?
Mitra Kassai: So in etwa (lacht). Die Situation in den Einrichtungen ist nicht immer die allerbeste. Denn die Menschen dort werden leider oft alleine gelassen. Der eigentliche Auslöser aber war, dass sie mich bei einem meiner Besuche gefragt hatten, ob ich nicht auch mal was Lustiges mit ihnen machen könne. Ich war erst einmal überrascht und erzählte meiner Mutter, Baujahr 1941, davon. Die meinte zu mir: „Mach doch das, was du für deine jungen Leute machst, einfach mal für die Alten.“ Aber natürlich unter anderen Voraussetzungen: langsamer, nachmittags und kostengünstig. Mit „Oll Inklusiv“ will ich etwas gegen Altersarmut und Einsamkeit tun. Also dachte ich, warum nicht in die Clubs der Stadt gehen? Die sind am Nachmittag sowieso leer. Und es braucht schließlich genügend Platz, um sich zu begegnen.
Erinnerst du dich noch an eure erste Veranstaltung?
Das erste Format, das wir ausprobiert haben, hieß „Halbpension“. Inzwischen sind wir damit monatlich in Hamburger Clubs unterwegs. Es kostet keinen Eintritt und ist ein dreigeteilter bunter Nachmittag. Die Leute kommen an, wir begrüßen sie und machen sie miteinander bekannt. Dann gibt es entweder ein Konzert oder eine Lesung. Danach spielen wir unser legendäres Musikbingo. Wer ein Bingo hat, bekommt einen Eierlikör oder Schokolade. Und danach wird noch ordentlich das Tanzbein geschwungen. Als DJ Rita lege ich Boogie, Funk und Soul auf. Beim ersten Mal war ich furchtbar aufgeregt, es kamen dann aber doch ungefähr 50 Menschen.
Und wieviele sind es heute?
An einem Sonntagnachmittag sind es mittlerweile bis zu 150. Später entstand übrigens auch der „Halbpension Ausflug“. In kleineren Gruppen fahren wir zusammen irgendwo hin, zum Open-Air-Festival „A Summer’s Tale“ oder nach Wacken. Wir waren auch bei einem Konzert der Hip-Hop-Combo Beginner und im St. Pauli-Stadion.
Wie hat es der älteren Generation auf einem Metal-Festival gefallen?
In Wacken war ich selbst leider nicht mit dabei. Wir hatten zwölf Tickets bekommen und es muss ein unheimlich toller Nachmittag gewesen sein, mit Rundgang über das Gelände. Und die Bands haben sie sich im VIP-Bereich angehört. Das fanden alle mega gut. Die lustigste Geschichte war, dass sich zwei Senioritas, die sich vorher überhaupt nicht kannten, angefreundet haben und sich Tickets für Wacken 2020 gekauft haben, um dort gemeinsam drei Tage zu verbringen.
Das klingt spektakulär. Wie oft könnt ihr denn sowas anbieten?
Die „Halbpension“ findet alle vier Wochen statt, Ausflüge drei bis fünf mal monatlich, je nach Angebot. Weit über fünfzig Veranstaltungen waren es in den letzten zwei Jahren. Inzwischen kommen auch Leute aus Bremen, Flensburg oder Lüneburg zu uns. Ich hätte niemals geglaubt, dass die Idee so eine Explosion an positiven Emotionen und so viel Zuspruch bringen würde. Im Marketing hieße das dann wohl „Marktlücke“. Zum ehrenamtlichen Team gehören mittlerweile 15 Leute und eine Mitarbeiterin im Büro. Bisher stemmen wir das alles aus privaten Spenden.
Wie entsteht der Kontakt? Wahrscheinlich weniger über die sozialen Netzwerken.
Ich wollte es anfangs auch nicht glauben, aber tatsächlich sind viele auf Facebook unterwegs. Es ist eines unserer wichtigsten Instrumente. Und es gibt einen Newsletter, für den sie sich eintragen können. Außerdem arbeiten wir mit der Hamburger Initiative „Wege aus der Einsamkeit“ zusammen, die sich um die Digitalisierung von Menschen über 60 kümmert. Auf diesem Weg finden die Leute dann zu uns. Wir haben schließlich die jüngsten Alten, die es jemals gab. Die haben vom Schwarz-Weiß-Fernseher bis zum Smartphone alles miterlebt. Dazwischen lag die Mondlandung, der erste Computer oder das Internet. Die Gesellschaft hat sich zuletzt sehr schnell weiterentwickelt und wir müssen schauen, dass Menschen ab einem gewissen Alter nicht abgehängt werden.
Kommen Menschen denn auch von alleine zu euch?
Ich höre immer wieder davon, dass die Eltern zu schüchtern wären oder sich nicht trauen würden. Doch bei uns braucht niemand Scheu zu haben, weil wir wirklich alle aufnehmen und einbeziehen. Der Funke springt dann oft schnell über. Ich kenne ganz viele Mütter, die zu den Veranstaltungen kommen. Und alle, die vorher skeptisch waren und dachten, sie würden bei uns alleine sein, weil sie niemanden, das sind die, die mit einem breiten Grinsen nach Hause gehen. Wir nehmen aber natürlich auch sehr viel Rücksicht. Wenn jemand zum Beispiel nicht so schnell gehen kann oder einen Sitz braucht, dann ist das so. Bei uns sollen sich alle wohlfühlen können.
Und wie ist das mit der Altersuntergrenze? Müssen 59-jährige draußen bleiben?
Nicht ganz. Die lassen wir schon rein, aber die gehören dann zu den Ehrenamtlichen. Ohne sie würde das alles gar nicht funktionieren. Wir sind aber ziemlich streng, weil wir die Menschen 60 Plus zusammenbringen wollen. Eine Seniorita hat mal so schön gesagt: „Zuhause sind wir die Alten, die Mütter, die Hausfrauen. Aber beim Tanzen, da werden wir jede Minute jünger.“ Die tanzen dann nicht unbedingt total wild und es geht auch mal mit dem Rollator auf die Tanzfläche. Die Welt gehört uns allen und bei uns dürfen die Senioren und Senioritas eben auch alles sein: laut, bunt und kritisch.
Wer war denn die älteste Person, die zu euch gekommen ist?
Der Rekord liegt bei 92 Jahren – und sie kommt immer noch regelmäßig. Das hätte ich mir auch nicht vorstellen können. Wichtige Themen bei uns sind deshalb auch Tod und Abschiednehmen. Das geht uns schließlich alle an. Wenn jemand nicht mehr zu den Veranstaltungen kommt, dann trinken wir einen Eierlikör auf die Person oder tauschen uns aus. Gemeinsames Trauern ist auch viel schöner und total wichtig. Bei der Arbeit mit alten Menschen bist du manchmal von heute auf morgen mit dem Tod konfrontiert, aber genauso mit Einsamkeit, Altersdepressionen, Krankheiten. Damit musste auch ich lernen umzugehen, aber es gehört eben einfach dazu.
Lässt sich deine Idee auch auf andere Städte übertragen?
Natürlich ist es mit meinem Netzwerk und den Clubs in Hamburg am einfachsten. Es ist nicht zu unterschätzen, dass die Leute regional oft ganz anders ticken. Im Rheinland kam das Musikbingo zwar gut an, aber die wollten lieber direkt auf die Tanzfläche. In München ging ist da gemütlicher zu. In diesem Jahr wollen wir expandieren, denn der Bedarf ist da und die Resonanz ist bisher so unglaublich positiv. In meiner Heimatstadt München hatte ich wirklich gute Gespräche, die haben Interesse. Auch in Düsseldorf gibt es eine Kooperation mit dem Blog „59 Plus“. Wir wollen auch gerne nach Bremen, Lüneburg und Kiel. Die Ideen gehen uns nicht aus …
Auf Veto erscheinen Geschichten über Menschen, die etwas bewegen wollen. Wer unsere Idee teilt und mithelfen möchte, kann das unter steadyhq.com/veto tun.