Text: Luisa L’Audace — Foto: Benjamin Jenak
Ich war 25, als ich mich meinen engsten Freund*innen anvertraute: „Ich glaube, ich bin queer. Und rückblickend betrachtet, war ich das wahrscheinlich schon immer.“ Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht, warum ich all die Gefühle und Erfahrungen – die ich bis dato durchlebt hatte – nicht schon früher hatte richtig zuordnen können. Gleichzeitig weiß ich auch, dass es Menschen gibt, die noch sehr viel später erst realisieren können, dass sie queer sind.
Dennoch glaube ich, dass ich unter anderen Umständen deutlich früher zu meiner Queerness hätte finden können, da die Anzeichen – im Nachhinein betrachtet – schon immer da waren. Ich hatte jedoch mit mehreren angeborenen Behinderungen erstmal grundlegendere Dinge unter Beweis zu stellen. Wie zur Hölle soll es auch gelingen, tiefer zu graben, wenn du immer und immer wieder selbst daran erinnern musst, dass du überhaupt ein Mensch bist? Schließlich werden behinderte Menschen bis heute noch regelmäßig wie Aliens behandelt, entmenschlicht und entsexualisiert.
Die Mehrheitsgesellschaft geht davon aus, dass jede Person cis und hetero ist, insofern sie nicht immer und immer wieder ihre Queerness benennt – die sogenannte Heteronormativität. Doch als behinderte Person aufzuwachsen bedeutete, oft nicht einmal als hetero oder als weiblich gelesen zu werden. Daher war ich beispielsweise so damit beschäftigt, mir und allen Menschen um mich herum zu beweisen, dass auch ich begehrenswert bin und geliebt werden kann, dass ich eine lange Zeit gar nicht dazu kam, näher darüber nachzudenken, von wem ich überhaupt geliebt werden möchte. Wenn dir permanent fundamentale Rechte, deine Individualität, deine Identität und sogar das Recht auf Existenz abgesprochen werden, kann es verdammt schwer sein, die eigene Sexualität und Genderidentität zu erkennen.
Auch als Autistin mit ADHS bin ich schon mein Leben lang bemüht, vermeintliche gesellschaftliche Regeln zu verstehen, die für viele andere selbstverständlich zu sein scheinen. Das Maskieren wurde spätestens in meiner Jugend zu einem Fulltime-Job, um in dieser Welt nicht noch mehr aufzufallen, als ich es als behinderte Person ohnehin schon tue. Ein Überlebensmechanismus, der nachvollziehbar ist und dennoch nicht ohne Folgen bleibt.
Neben gesundheitsschädigenden Faktoren müssen obendrein viele erwachsene Autist*innen feststellen, dass sie hinter all dem Masking nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind. Dabei ist die Zahl der queeren Menschen innerhalb der neurodivergenten Community besonders hoch und beispielsweise autistische Menschen identifizieren sich laut eines Papers der University of Cambridge bis zu achtmal häufiger als queer.
Einer der entscheidenden Faktoren in der Selbstfindung ist aber sicherlich Repräsentation. Und während alle marginalisierten Gruppen sowieso zu wenig Repräsentation erhalten, ist es für bekanntlich immer schlechter um diese bestellt, je mehr Marginalisierungs-Dimensionen zusammenkommen. Wie sollen beispielsweise behinderte Kinder, Jugendliche, aber genauso Erwachsene davon erfahren, dass auch sie queer sein könnten, wenn es bisher sogar noch an der Repräsentation für behinderte Menschen, die cis hetero sind, mangelt?
Zumindest im Juni, dem Pride Month der queeren Community, sollte es doch besser um jene Repräsentation behinderter Queers bestellt sein. Denkste! Denn in Wahrheit kann es genau dann, wenn die eigene Community zusammenkommt, aber wieder einmal nicht für die eigene Teilhabe und Sichtbarkeit als behinderte Person sorgt, besonders einsam und schmerzhaft sein. Pride-Veranstaltungen sind selten barrierearm und gut durchdachte Alternativen, um behinderte Mitglieder der queeren Community zu inkludieren, gibt es bisher kaum. Es ließe sich doch aber so leicht ändern, indem behinderte, queere Menschen auch schon während der Planung begfragt und eingebunden werden. Unter fairen Bedingungen versteht sich!
Im Juli folgt der Disability Pride Month und während Firmen und andere große Institutionen gerade noch möglichst öffentlichkeitswirksam mal mehr, mal weniger performativ mit Regenbogenflaggen gewedelt haben, will plötzlich niemand je vom Disability Pride gehört haben. Dabei waren behinderte, queere Menschen schon immer Teil der Gesellschaft und haben es – wie alle Menschen – verdient, gehört, gesehen und gleichberechtigt zu werden.
Luisa L’Audace ist queere Inklusionsaktivistin und klärt auf Social Media über Lebenswelten behinderter Menschen auf – und darüber, welche Erfahrungen sie mit Ableismus machen.