Text: Maike Schöfer — Foto: Benjamin Jenak
Weihnachten: das Fest der Liebe und Familie. So würden es hierzulande wohl viele behaupten. Und viele praktizieren es auch so, egal ob christlich, agnostisch oder kirchenfern. Die meisten Menschen, die Weihnachten feiern, tun es im Kreis der Familie. Einige eifern dabei wohl sicher dieser kitschigen Merci-Schokoladen-Werbung aus den Neunzigern nach, die konsequent die harmonische Familie inmitten von Plätzchenduft und Schneegestöber inszeniert. Alle lächeln, halten sich an den Händen und schwelgen in Liebe. Alles harmonisch, alles friedlich.
Aber mal ehrlich: Für viele ist das Weihnachtsfest alles andere als harmonisch und friedlich, gerade deshalb, weil sie es mit der Familie feiern (müssen). Streit, Anspannung, unterdrückte Bedürfnisse und unbearbeitete Konflikte wehen besonders an den Weihnachtstagen durch das herbeigesehnte kuschelige Familienidyll. Die Advents- und Weihnachtszeit mit ihren idealisierten Krippenfiguren der Heiligen Familie und all den Geschichten, Traditionen und Familientreffen ist, wie ich finde, die beste Zeit, um über genau das einmal nachzudenken.
Das gängige europäische Familienideal beschreibt die heterosexuelle, monogame Ehe mit Vater, Mutter, zwei Kindern, die alle in einem Haushalt leben. Der Vater geht einer Lohnarbeit nach und die Mutter kümmert sich vorrangig um die Erziehung und den Haushalt. Zwar gibt es heute viel diversere Familienbilder – Patchwork-Familien, Einelternfamilien, kinderlose Paare, lesbische Paare mit Adoptivkindern – und doch bleibt die kleinbürgerlichen Familie das Ideal. Und dieses gilt nicht nur als Norm, sondern wird außerdem privilegiert behandelt, gefördert, unterstützt: sozial, kirchlich und gesetzlich.
Das Ideal der Kernfamilie oder traditionellen Familie ist beeinflusst vom christlichen Ehe- und Familienverständnis. Dabei ist die Kernfamilie keineswegs eine alte Lebensform, geschweige denn biblisch. Sie entstand erst in der Romantik im 18. und 19. Jahrhundert. Bis dahin gab es viele, sehr unterschiedliche Formen des Zusammenlebens. In der Antike zum Beispiel wurde von „Haus“ gesprochen, dazu zählten manchmal mehrere hunderte Menschen. Genauso gab es Nomandenvölker, im Mittelalter bäuerliche Großfamilien, emanzipatorische und spirituelle Lebensgemeinschaften wie die Beginen.
Schonmal von Familismus gehört? Der Begriff ist ein Begriff aus der Soziologie, mit dem die familiäre Sozialstruktur unserer Gesellschaft bezeichnet wird. Gleichzeitig wird damit die Vorstellung der bürgerlichen Kleinfamilie als „naturgegebene“ Lebensform beschrieben, die alle anderen Lebensformen dominiert. Das führt zu einer Abwertung anderer Lebensformen von Individuen und Gruppen, die nicht diesem Ideal entsprechen.
Besonders Rechte, aber auch (ultra-)konservative, fundamentalistische Christ*innen greifen familienpolitische Themen auf, um über die idealisierte weiße, kleinbürgerliche Familie etwa queere Menschen und Minderheiten wie Geflüchtete und deren Lebensformen abzuwerten.
Die AfD schreibt dazu: „Kinder brauchen Vater und Mutter.“ Die Partei wolle Alleinerziehenden helfen, spricht sich jedoch gegen jede finanzielle Unterstützung von Organisationen aus, die Einelternfamilien als „normalen, fortschrittlichen oder gar erstrebenswerten Lebensentwurf propagieren“. Weiter heißt es: „Wir lehnen alle Versuche ab, den Sinn des Wortes ‚Familie‘ in Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz auf andere Gemeinschaften auszudehnen und der Familie auf diesem Wege den besonderen staatlichen Schutz zu entziehen.“
2017 warb die AfD mit einem Plakat mit der Aufschrift: „Neue Deutsche? Machen wir selber!“ Darauf zu sehen war eine weiße, schwangere Frau. Die Sichtweisen der AfD auf Familie und die damit verbundene Instrumentalisierung, um gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, Geflüchtete oder andere Minderheiten zu argumentieren, finde ich höchst problematisch, queerfeindlich, antifeministisch und rassistisch.
Genauso schwierig sind antifeministische Trends auf Instagram oder TikTok. Oft stecken zum Beispiel hinter den sogenannten Tradwifes fundamentalistische Christ*innen, die in beiger Leinenkleidung ein patriarchales Verständnis von Ehe und Familie proklamieren und dieses mit biblischem Cherrypicking göttlich legitimieren. Dabei gibt es in der Bibel gar nicht das eine Bild von Ehe oder Familie. Und Jesus selbst war nicht einmal verheiratet.
Der Kern von Familie ist doch eine Lebensgemeinschaft, die sich durch Fürsorge, Solidarität, Gemeinschaft und Verlässlichkeit auszeichnet, oder? Eine Lebensform, die annimmt, dass der Mensch auf Beziehungen angelegt ist und dass „Ich“ und „Du“ in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Mit Familie und Verwandtschaft hing aber auch Recht, Religion, Identität, Erbe zusammen. Und doch muss und kann all das nicht nur in einer Kleinfamilie stattfinden.
Auch in anderen Formen, die eben nicht auf alleiniger biologischer Verwandtschaft beruhen, leben und lebten Menschen zusammen. Es ist an der Zeit, diese zu unterstützen. Eine Familie an sich, ist kein Garant für ein gesundes Lebensumfeld. Und die biologische Abstammung allein schafft nicht die Voraussetzungen für gute Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern. Die heterosexuelle, monogame Ehe übrigens auch nicht.
Dass Menschen verheiratet sind, heißt nicht, dass sie glücklich verheiratet sind. Viele bleiben in problematischen Beziehungen, weil es eben dem gesellschaftlichen Bild und dadurch auch ihrem eigenen entspricht. Häufig akzeptieren Menschen in Familie und Ehe Verhaltensweisen und Situationen, die sie in ihrem Beruf oder in Freund*innenschaften nie hinnehmen würden.
Nur als kleiner Side-Fact: Gewalt und sexualisierte Gewalt an Kindern und Frauen geschieht zu einem großen Teil in der Familie und im häuslichen Umfeld.
Kinder brauchen nicht nur Vater und Mutter, sondern verlässliche, fürsorgliche Menschen in ihrem Umfeld mit stabilen Beziehungen. Das müssen nicht die biologischen Eltern sein und es muss sich auch nicht auf zwei Personen oder einen gemeinsamen Haushalt beschränken. Ob die AfD weiß, dass Jesus quasi zwei Väter hatte?!
Mit Blick auf die kitschigen Familienidyllen in Kirchen, auf Weihnachtsmärkten und in Filmen, die uns gerade in der Adventszeit erreichen, ist es wichtig, auch die problematischen Seiten am Konstrukt „Familie“ zu zeigen und zu hinterfragen.
Wir sollten als Gesellschaft und Kirche den Fokus nicht nur auf die Familie richten, sondern uns auch trauen, andere Formen des Zusammenlebens zu fördern und zu unterstützen. Nicht nur ein Kind braucht ein Dorf, um großgezogen zu werden, auch Erwachsene brauchen dieses Dorf! Und als Einzelpersonen sollten wir mutiger werden, unsere erlernten Vorstellungen von Familie zu hinterfragen, toxische familiäre Beziehungen über Bord zu werfen und zum Beispiel mehr Kapazitäten in Freund*innenschaften aufzuwenden.
Mit Familismus geht nämlich auch eine Priorisierung einher, in der andere Beziehungen oft einen geringeren Stellenwert haben. Aber warum? Freund*innenschaften können intensive, lebenslange, tragende Beziehungen sein. Und sie können auch als solidarische, politische Praxis verstanden und gelebt werden. Schon in der Bibel wird genau davon in der Geschichte mit Ruth und Noomi erzählt. Schwiegermutter und -tochter versprechen, füreinander da zu sein – und das in einer Zeit, in der Frauen von Vätern und Männern abhängig waren. Die beiden versprechen sich nicht nur Freundinnenschaft, auch eine Solidar- und Lebensgemeinschaft. Wir wissen nicht, ob sie lesbisch waren – den Begriff „queer“ gab es zu biblischen Zeiten ja sowieso noch nicht –, aber queere Dimensionen hatte ihr Lebensmodell auf alle Fälle.
Es gibt so unfassbar schwierige Familienverhältnisse, -situationen und -beziehungen. Und gerade an Weihnachten ploppt all das oft auf. Wie würdest du gerne feiern? Wie gerne leben? Was bedeutet Familie für dich? Das hätte ich gerne auch Maria in der Krippe gefragt. Ob sie schwanger werden wollte? Und ausgerechnet den Sohn Gottes gebären? Ob sie mit Josef zusammenleben wollte? Oder ob sie sich über all das gar keine Gedanken gemacht hat?
Eine happy Family zeigt die „Heilige Familie“ in den Krippendarstellungen jedenfalls nicht. Und die Weihnachtsgeschichte erzählt auch nicht von einem Fest der Familie, sondern von Gottes Menschwerdung, von Solidarität, Gerechtigkeit und Liebe. Und das kann auf vielfältige Weise gelebt und zu Weihnachten gefeiert werden. Ganz ohne Neunzigerjahre-Vibes und auch ganz ohne gesellschaftliche, kirchliche „Traditionen“ und Vorstellungen.
Religionslehrerin und Pfarrerin Maike Schöfer setzt bei Instagram auf klare Worte. Gott* schreibt sie mit Sternchen und hat das feministische Andachtskollektiv initiiert.