Text: Luisa L’Audace — Foto: Benjamin Jenak
Kennt ihr (auch) Menschen, die keine Sekunde nicht produktiv sein können und sofort in eine große Krise verfallen, wenn sie das eigens festgelegte Mindestmaß an Aufgaben für den Tag mal nicht erreicht haben? Oder seid ihr vielleicht selbst so ein Mensch? Und kennt ihr die Menschen, die sofort an ihrem Selbstwert zweifeln, wenn sie irgendeine Fähigkeit mal nicht beherrschen oder aber vorübergehend – beispielsweise aufgrund einer Verletzung – nicht dazu in der Lage sind? Oder erkennt ihr euch vielleicht auch darin wieder?
Als behinderte, chronisch kranke und neurodivergente Person kenne ich all diese Gedanken. Jedoch musste ich schon früh lernen, damit umzugehen, dass es meistens anders kommt, als ich es ursprünglich vorhatte. Ich verfüge einfach nicht über die Ressourcen, die ich benötigen würde, um meinen Alltag zu bestreiten und dann vielleicht noch die ein oder andere Extra-Aufgabe zu erledigen. Geld verdienen, Self Care, soziale Kontakte, Ernährung, Haushalt: Immer bleibt irgendetwas auf der Strecke – ganz zu schweigen von den unerwarteten Aufgaben, die mal eben schnell dazwischen kommen und unbedingt sofort erledigt werden müssen.
Mal scheitere ich an der mir selbst auferlegten Extra-Aufgabe und bin dann so erschöpft, dass ich mich den Rest des Tages ausruhen muss – und mal komme ich gar nicht erst dazu, weil ich schon beim morgendlichen Duschen mit dem Kreislauf kämpfe und verliere, sodass ich mich plötzlich zwischen dem Einräumen meiner Spülmaschine und der Zubereitung einer Mahlzeit entscheiden muss. Was hinten runterfällt, sind die Mails, die ich noch beantworten wollte, und der Termin, den ich schon seit Wochen ganz dringend ausmachen muss.
Neurotypische und nicht-behinderte Menschen hingegen erledigen jeden Tag gefühlt etliche dieser Extra-Aufgaben neben einem schon vollgepackten Alltag, dessen Bewältigung allein oft schon mehr Kapazitäten kostet, als mir für eine ganze Woche bereitsteht. Die fluchende Brigitte kommt mir also nicht ohne Grund schrecklich privilegiert vor, wenn sie mir erzählt, wie schrecklich „faul“ sie heute doch gewesen sei, weil sie nur zwei Ladungen Wäsche aufgehängt und neben den drei Gassirunden mit dem Hund, der Zubereitung von zwei ausgewogenen Mahlzeiten, dem Duschen (mit Haare waschen) und zwei Stunden am PC nicht auch noch ihre Steuererklärung erledigt hat.
Innerhalb der chronisch kranken- und Behinderten-Community sprechen wir von der so genannten Spoon Theory, wenn es darum geht, wie es wirklich ist, mit geringen Kapazitäten zu leben und diese über den Tag hinweg einteilen zu müssen, weil es eben nicht egal ist, ob wir nur noch die Wäsche aufhängen oder auch noch eine Dusche nehmen müssen.
Christine Miserandino, selbst chronisch krank, verbildlicht diese geringen Kapazitäten mit einer begrenzten Anzahl an Löffeln, um ihrer gesunden Freundin einen Einblick in ihren Alltag zu geben. Auf ihrem Blog „But You Dont Look Sick“ schreibt sie dazu: „I explained that the difference in being sick and being healthy is having to make choices or to consciously think about things when the rest of the world doesn’t have to. The healthy have the luxury of a life without choices, a gift most people take for granted. Most people start the day with unlimited amount of possibilities, and energy to do whatever they desire, especially young people. For the most part, they do not need to worry about the effects of their actions.“
Der Unterschied zwischen krank und gesund sein bestehe also darin, Entscheidungen treffen oder bewusst über Dinge nachdenken zu müssen, während der Rest der Welt dies nicht tun müsse. Gesunde Menschen hätten den Luxus, ohne Wahlmöglichkeiten leben zu können – ein Geschenk, das viele als selbstverständlich ansehen würden. Gerade junge Menschen würden den Tag mit einer unbegrenzten Zahl an Möglichkeiten und ausreichend Energie beginnen, um zu tun, was sie wollen. Oft müssten sie sich keine Gedanken über die Folgen ihres Handelns machen.
Die Spoon Theory lehrt uns aber nicht nur, dass es ein Privileg ist, nicht darüber nachdenken zu müssen, ob die eigenen Kapazitäten noch bis zum Ende des Tages reichen. Sie sollte uns auch aufzeigen, dass jede einzelne Tätigkeit – auch wenn sie noch so klein zu sein scheint – Kapazitäten kostet und nicht selbstverständlich ist.
Wir sind wahrscheinlich alle schon mal abends ins Bett gefallen und haben uns gewundert, warum wir so erschöpft sind, obwohl wir heute doch „nichts“ gemacht haben. All die Tasks, die nötig waren, um unseren Körper täglich mit allem zu versorgen, was er braucht, scheint dabei nicht erwähnenswert zu sein. Genauso wenig wie das eineinhalbstündige Telefonat mit dem Familienmitglied, dessen Aussagen uns hier und da schon wieder ganz schön gefordert haben. Der schnelle Supermarktbesuch, bei dem es an der Kasse echt laut und stressig geworden war.
Ach! Und dann gab es ja noch diese Mail, die uns schon den ganzen Tag im Kopf rumgeistert. Und je länger wir darüber nachdenken, desto mehr kleine und große Anlässe fallen uns ein, die dafür gesorgt haben könnten, dass wir uns jetzt so fühlen wie wir uns fühlen.
Wir leben in einem ableistischen System, das den Wert eines Menschen nach wie vor an seiner Leistung festmacht und das uns suggeriert, dass wir nie genug tun – und auch nie genug sind. Die so genannte „Faulheit“, vor der wir alle so eine schreckliche Angst zu haben scheinen, ist dabei ein Werkzeug, ein Konstrukt, das größtenteils dafür existiert, um Wirtschaft und Kapitalismus voranzutreiben. Sie lässt uns nicht nur in stetig steigenden Leistungsdruck verfallen, sondern unterteilt auch Tätigkeiten in wertvoll und weniger wertvoll – und gibt uns das Gefühl, unser Wohlbefinden und unsere individuellen Kapazitäten übergehen zu müssen.
Warum scheint in dieser Gesellschaft ein „Ich habe den ganzen Tag gearbeitet“ nach wie vor mehr wert zu sein als „Ich habe mir Zeit für mich genommen und meine Bedürfnisse an erste Stelle gestellt“, obwohl uns Self Care oft mindestens genauso viele Kapazitäten abverlangt?
Dieses ständige Bedürfnis, in den Augen der Gesellschaft als produktiv zu gelten, um uns wertvoll zu fühlen, haben wir alle so tief verinnerlicht, dass auch ich, die über die Strukturen dahinter sehr gut Bescheid weiß, noch ab und zu in die Falle tappe – und mich dabei erwische, wie ich mich als „faul“ bezeichnen möchte oder das Gefühl habe, kein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, weil ich keinen Nine-to-Five-Job bewältigen kann.
Dazu kommt noch, dass für viele von uns ein Ausgleich vom Alltag nur sehr begrenzt möglich ist. Mal schnell eine Runde joggen gehen, um aus dem Gedankenkarussell auszusteigen oder die angestauten Aggressionen rauszulassen, ist ür viele behinderte und chronisch kranke Menschen einfach nicht drin und wir müssen andere Wege finden, um diesen Ausgleich zu schaffen, uns auszudrücken und unseren Alltag zu gestalten. Und auch wenn der Selbstzweifel und die Ängste oft groß sind, glaube ich, dass wir als chronisch kranke, behinderte und neurodivergente Menschen wahre Profis darin sind. Und würden gesunde, nicht-behinderte und neurotypische Menschen endlich zuhören und unseren Alltag wirklich sehen, so könnten sie noch so viel von uns lernen.
Den eigenen Wert nicht von der Leistungsgesellschaft und unserem ableistischen System definieren zu lassen und die eigenen Kapazitäten zu schätzen und an den richtigen Stellen zu dosieren – das ist irgendwie auch eine Art des Protests. Macht ihr mit?
Luisa L’Audace ist queere Inklusionsaktivistin und klärt auf Social Media über Lebenswelten behinderter Menschen auf – und darüber, welche Erfahrungen sie mit Ableismus machen.