Text: Luisa L’Audace — Foto: Benjamin Jenak
6. November 2024: Donald Trump gewinnt erneut die Präsident*innenschaftswahl in den USA und am selben Abend noch zerbricht die Ampelkoalition in Deutschland. Im Februar 2025 wird neu gewählt und die AfD könnte zweitstärkste Kraft werden. Es sind zwei weitere Gründe, die sich in eine lange Liste einreihen und vermutlich viele von uns schlecht schlafen lassen.
In einer Zeit, in der sich schlechte Nachrichten nur so überschlagen, gehen Menschen sehr unterschiedlich damit um. Während die einen also in der Kaffeepause über die Verfehlungen von Politiker*innen lachen und schulterzuckend darüber witzeln, dass die Welt nun eh bald untergehen werde, beschreibt das Wort „Weltuntergang“ das Gefühl, das viele marginalisierte Menschen aktuell haben, vermutlich am besten.
Nicht alle erleben die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage gleich. Während einige die Freiheit für selbstverständlich empfinden, keine Nachrichten zu konsumieren, um mal „durchzuatmen“, bleibt anderen diese Option nahezu komplett verwehrt. Keine Nachrichten zu konsumieren ist vielleicht noch vorübergehend machbar, aber durchatmen? Wohl eher Luft anhalten. Für die Mehrheitsgesellschaft scheinen die Probleme der Welt häufig nur eine abstrakte Sorge zu sein, die sie von ihrem Alltag trennen können. Irgendjemand werde das schon regeln, sie allein könnten schließlich eh nichts bewirken.
Für andere Menschen ist die Auseinandersetzung mit Politik, Krisen und Co. allerdings nicht nur eine Option, sondern eine Notwendigkeit, um Gefahren möglichst frühzeitig zu erkennen und deren Konsequenzen für das eigene Leben abzuschätzen.
Inmitten all dieser bedrohlichen Ereignisse frage ich mich: Wie einfach weitermachen? Wie die nächsten Monate planen, geschweige denn die nächsten Jahre, wenn der Boden unter unseren Füßen stetig unsicherer wird und die Aussicht auf Schutz und Rechte zunehmend schwankt? Und das natürlich nicht erst seit gestern. Schließlich ist der Kampf für viele von uns längst kein „außergewöhnlicher Zustand“, sondern ein lebenslanger, ermüdender Kampf, der durch aktuelle Ereignisse nur noch bedrohlicher und kräftezehrender wird.
Dabei würde ein weiteres Erstarken rechter Parteien auch das Leben vieler privilegierterer Menschen massiv negativ beeinflussen. Jedoch definitiv – und das lässt sich nicht bestreiten – auf unterschiedliche Art und Weise. Während die einen auch in einem zunehmend rechteren Umfeld irgendwie mitschwimmen können, weil sie als leistungsfähig, wertvoll und als Teil der Gesellschaft angesehen werden, sinken jene, denen diese Attribute fälschlicherweise nicht zugeschrieben werden. Der behinderte Linken-Politiker Karsten Lippmann sagte in einer Rede über die AfD: „Ich als Historiker und Betroffener darf das sagen […] Wenn diese Leute hier an die Macht kommen, überlebe ich die ersten vier Jahre nicht.“
Die Realität marginalisierter Gruppen in Deutschland – und weltweit – wird zunehmend von der Bedrohung durch politische und soziale Rückschläge dominiert. Der Gedanke, dass es in Deutschland bald nicht mehr auszuhalten sein könnte, drängt sich auf, auch die Erkenntnis, dass Fluchtoptionen häufig nur auf dem Papier existieren. So lehnen viele Länder behinderte Geflüchtete ab. Außerdem wären die Hürden, die mit einer Flucht verbunden sind – finanzielle Mittel, Mobilität, die Unabhängigkeit vom Gesundheitssystem – für viele nicht zu überwinden.
Das Privileg, sich von all diesen beängstigenden Begebenheiten und Eventualitäten einfach zurückziehen zu können, existiert für genau jene nicht, die am meisten von ihnen bedroht sind. Den News-Tab zu schließen, reicht eben nicht, wenn politische Ereignisse direkt Einfluss auf dein Leben haben und die eigene Existenz bedrohen. Auch die oft geäußerte Forderung nach „Selbstfürsorge“ kann wie blanker Hohn klingen, wenn die eigene Lebensrealität einen permanenten Überlebenskampf und eine Unendlichkeit an Resilienz verlangt.
Gleichzeitig braucht es im Kampf für Gerechtigkeit irgendeine Form von Pausen – zumindest so gut es eben geht. Denn niemandem ist geholfen, wenn diejenigen, die für Menschenrechte eintreten, an ihrer Aufgabe zerbrechen. Darüber hinaus existiert ein immenser Unterschied zwischen ignorantem Wegschauen und dem Versuch, mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen möglichst viel zu bewegen, diese jedoch auch realistisch einzuschätzen und die Last der ganzen Welt nicht allein schultern zu wollen. Auch wenn das zugegebenermaßen schwer ist, so haben wir oft genug erlebt, dass meistens wenig passiert, wenn wir es nicht selbst tun. Solidarität ist schließlich Mangelware.
Ist es nicht ironisch, dass sich gerade marginalisierte Menschen oft am verantwortlichsten fühlen für soziale Gerechtigkeit einzustehen und mit einem schlechten Gewissen im Nacken herumlaufen, weil sie vermeintlich noch mehr tun könnten, während Menschen, die von den meisten oder sogar allen diskriminierenden Strukturen profitieren, oft einfach wegschauen? Dabei bringen gerade diese Privilegien Verantwortung mit sich.
Wer sicher ist, wer Ressourcen hat, wer in einer Gesellschaft auf der privilegierten Seite steht, hat nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, aktiv zu werden. Die Zeit des „Ich kann eh nichts dagegen tun“ ist vorbei. Passivität ist keine Option mehr, denn sie spielt den Kräften in die Hände, die Gewalt und Unterdrückung vorantreiben. Nicht diejenigen, die diese Kämpfe sowieso schon täglich ausfechten, sollten nun noch neben dieser realen Bedrohung mehr Druck verspüren, aktiv zu werden, sondern genau jene, die dies nicht tun.
Und wieviel kleiner wäre die Last und wieviel leichter würde es uns fallen, uns auch mal ein bisschen zurücklehnen zu können, wenn wir wüssten: „Irgendjemand regelt das schon!“
Luisa L’Audace ist queere Inklusionsaktivistin und klärt auf Social Media über Lebenswelten behinderter Menschen auf – und darüber, welche Erfahrungen sie mit Ableismus machen.