Text: Tom Waurig — Fotos: Benjamin Jenak
Mitte Januar, mitten in Berlin: Sonne und strahlend blauer Himmel. Ungewöhnlich für die sonst so graue Jahreszeit – es wird der letzte milde Wintertag sein. Das Thermometer zeigt fast zweistellige Plusgrade. Den extremen Wintereinbruch mit Schneebergen und eisigen Temperaturen, der knapp drei Wochen später folgen soll, kann sich jetzt kaum jemand vorstellen. Sven Lüdecke wartet im Stadtteil Pankow auf einer Grünfläche neben einem leerstehenden Parkplatz. Die lauten Geräusche der Stadtautobahn dröhnen über das Gelände. Der Mann mit der Wuschelfrisur hat den Reißverschluss seiner grauen Jacke bis unters Kinn gezogen, die Kapuze hängt offen am Kragen.
Sven Lüdecke ist Gründer des Vereins „Little Home“. Überall in Deutschland baut er drei Quadratmeter große Container aus Holz und verschenkt sie an Menschen, die wohnungslos sind. Sie sollen ein Schritt zurück in ein sicheres Leben sein.
Auf dem privaten Grundstück in Berlin-Pankow stehen gleich sechs davon, bewohnt sind sie alle. Neben vier Wänden und einem Dach gehören außerdem eine Matratze, ein Regal, ein Erste-Hilfe- Set, ein Feuerlöscher, eine Campingtoilette und eine kleine Arbeitsfläche zur Grundausstattung. Wer ohne Wohnung ist, der fürchtet vieles, vor allem aber das Gefühl, anderen oder der Witterung schutzlos ausgeliefert zu sein. Gerade wenn es draußen kälter wird, ist es oft lebensbedrohlich.
Mindestens 22 wohnungslose Menschen sind laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in diesem Winter in Deutschland erfroren. Die Zahl ist so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. In Zeiten von Corona ist die Situation ohnehin nochmal schwieriger: weniger Spenden, kaum alltägliche Hilfen. Sven Lüdecke weiß, wie hart das ist. Seine Häuser helfen. Und doch schränkt er ein: „Wir retten keine Leben, wir geben den Menschen eine Chance, die Straße zu verlassen.“
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr eingezogen ist Jens, 52. Genannt werden will er nur mit Vornamen wie alle anderen auch. Er sei damals den Tränen nahe, erinnert er sich. Wer beim Zusammenleben an eine große WG denkt, irrt: „Hier lebt jeder für sich.“ In schwierigen Situationen aber helfen sie sich gegenseitig, mit Binden und Pflastern zum Beispiel. Tür an Tür leben sie hier, die Situation teilen sie, genau wie die Schicksale.
Horst, ein anderer auf dem Platz, er wohnt nur zwei Häuser weiter, hat sich an Hand und Knien verletzt. Die Wunden sind tief. Mit dem Verbandskasten unter dem Arm macht sich Jens eilig auf den Weg. Vor ein paar Tagen erst entging sein „Nachbar“ nur knapp dem Tod: 26 Grad Körpertemperatur und fast drei Promille im Blut. Der Alkohol mache alles schwieriger, meint Jens, der selbst trockener Alkoholiker ist. Familie hat er nicht, auch keine eigenen Kinder, dafür ist er stolzer fünffacher Patenonkel.
Nach einem Auslandseinsatz holten den Berufssoldaten die Erlebnisse wieder ein. Er kämpfte mit Depressionen und mit sich. Nach einem schweren Unfall lag er im Koma. Sprechen und Laufen musste er danach neu lernen, erzählt er. Nach der Entlassung aus der Reha bekam er sein Leben nicht mehr organisiert, niemand anderes konnte sich kümmern. Er zahlte seine Miete nicht mehr und verlor schließlich seine Wohnung. Auf der Straße lebt er bereits seit sieben Jahren. Nur langsam gehe es wieder bergauf. Einen Job hat er gefunden, als Schulhausmeisterassistent, sagt er. Auch Wohnungen habe er sich angesehen, „um aus der Misere rauszukommen“. Selbst in der Hand habe er es nicht, ergänzt er. Die Vorurteile gegenüber wohnungslosen Menschen würden es noch immer schwierig machen. Und es bleibe die Angst, wieder die Perspektive zu verlieren.
„Recht haben und Recht bekommen, das sind zwei Paar Schuhe“, meint Jens nachdenklich. Das habe er während seiner Zeit auf der Straße lernen müssen. Während er von all dem erzählt, brüht er sich das Kaffeepulver in einem Pappbecher mit heißem Wasser auf, zündet sich eine Zigarette an. „Nobel-Penner“ nennt er sich selbst und klopft dabei mehrmals mit der flachen Hand auf die Außenwand des Hauses. Er sieht es als Privileg, hat sein Zuhause liebevoll geschmückt, mit zwei Lichterketten zu Weihnachten. Das Kürzel „Xmas“ ist an der Tür zu lesen. Die kleinen Häuschen bieten nicht nur Schutz, sie schaffen Sichtbarkeit. Die Menschen werden wieder wahrgenommen. Eine Frau wird Jens wenig später zum Spazieren abholen, sie lässt ihn bei sich baden, sie kocht und lässt ihn seine Wäsche waschen. Über das Haus kamen sie in Kontakt.
Dieser alles verändernde Moment
160 davon stehen heute überall in Deutschland, um Wohnungslosen eine Perspektive zu schaffen. Angefangen hat alles am Kölner Hauptbahnhof. Sven Lüdecke war damals, frühmorgens um halb fünf, auf dem Weg zur Arbeit. Während er auf seinen Zug wartete, beobachtete er, wie eine Frau, die offenbar im Bahnhofsgebäude übernachtet hatte, vom Securitypersonal unsanft behandelt wurde: Sie sollte den Bahnhof verlassen. Auch ihre Pfandflaschen hatten sie schon ungefragt weggeworfen. Lüdecke griff ein, kaufte der Frau einen Kaffee und eine Zugfahrkarte, damit sie bleiben konnte.
Aufgewühlt von der Situation recherchierte er, wie sich kleine Gartenhäuser bauen lassen. Im Baumarkt hätten ihn alle, denen er von seiner Idee erzählte, „für bekloppt gehalten“. Nach etwa zwei Monaten Bauzeit und einigen missglückten Versuchen stand das kleine Häuschen im November 2016.
Übergeben hat er es damals der Frau aus dem Bahnhof. Die würde bis heute darin leben, sagt er. „Die Häuser geben erst einmal Hoffnung und viele wollen, dass wir mit ihnen den nächsten Schritt gehen – das kann das Jobcenter sein oder die Suche nach einer Wohnung.“ Lüdecke entfaltet ein bedrucktes Blatt Papier, A3, das auf einer Seite sein Projekt zusammenfasst. Schon in 20 Städten stehen die kleinen Wohnboxen, darunter Paderborn, Kiel, Bremen, Landshut, Hamm oder Leipzig. Oft sind es private oder städtische Grundstücke, überlassene Plätze von Unternehmen oder Kirchengrund.
Die Übersicht zeigt auch, dass der Verein inzwischen 94 Menschen in Arbeit gebracht hat. Dokumentiert sind zudem neun Überfälle. An allen Häusern sind daher rundherum Querleisten angebracht, schmale Holzlatten, die die Kraft bei einem Schlag verteilen. Und wer es mit Fäusten versuchen sollte, treffe schmerzhaft immer eine Kante, beschreibt er die Konstruktion.
Lüdecke ist für alle so etwas wie der Herbergsvater, oft herzlich, aber auch manchmal streng. Mit großer Hingabe sorgt er sich, erkundigt sich nach Neuigkeiten und kennt im Detail die persönliche Geschichte von allen, die er an diesem Tag in Berlin trifft. Bei Reparaturen besorgt er das Material. Über Wohnungslosigkeit habe er zu Anfang wenig gewusst. Eher „ignorant“ sei er mit dem Thema umgegangen, „so wie viele andere“, verdeutlicht er. Heute ist er fast rund um die Uhr per Telefon zu erreichen und hat sogar für neue Wohnungen gebürgt. Fast täglich schauen er und sein Team an den Häusern vorbei. Auch nachts melden sich Menschen, manchmal die Polizei und das Ordnungsamt. Abschalten kann Lüdecke kaum, Urlaub macht er so gut wie nie. Inzwischen gelinge es ihm, Abstand von den persönlichen Schicksalen zu halten. Er habe es lernen müssen.
In den vergangenen vier Jahren ist aus seinem privaten Einsatz ein Verein mit mehr als 100 Mitgliedern und gut zwölf Aktiven geworden. Lüdecke wohnt in Köln, übernachtet jedoch mehr in Hotels als Zuhause. Allein in den ersten Wochen des neuen Jahres ist er 10 000 Kilometer durchs Land gereist, mit Auto oder Zug. Er ist als einziger festangestellt. Finanziert wird alles über Spenden, eine Baumarktkette gewährt Rabatte auf Material. Die Kosten liegen bei 1 600 Euro pro Haus – der Transport kostet extra. Alle vier Wände werden einzeln zusammengesetzt und später verschraubt und gestrichen. Das Dach ist aus Teerpappe, Europaletten sind das Fundament. 750 Kilo wiegen die Häuser. Gebaut wird im Team – zusammen mit Freiwilligen, manchmal mit Schulklassen oder Firmen. Und Lüdecke war bis auf eine Ausnahme immer dabei.
Über die Jahre hat er immer weiter an der Konstruktion gefeilt. Bald werden die Container deshalb nicht mehr auf Rollen stehen, sondern auf einen Autoanhänger montiert, um sie leichter und ohne teure Abschleppdienste zu bewegen.
Anders als bei Tiny Häusern braucht es für ein „Little Home“ aufgrund der Größe keine Baugenehmigung. Der Nachfrage hinterher kommen sie dennoch nicht. Eine Warteliste mit 65 000 Menschen würde es geben, erzählt Sven Lüdecke. Doch nur ungefähr fünf Prozent seien überhaupt geeignet, in eines der Häuschen einzuziehen. Strenge Regeln haben sie aufgestellt: kein Lagerfeuer, kein Grill, kein Alkoholismus, keine Drogen. „Wir drücken auch mal ein Auge zu. Alle haben eine zweite Chance verdient.“ Das Team sucht den Kontakt auf der Straße und vor jedem Einzug findet ein Kennenlernen statt: „So ein Haus heißt auch Verantwortung.“
Eine alltagstaugliche Ausstattung
Einen weiteren Stellplatz für die Häuser hat Lüdecke in Berlin-Buch gefunden. Drei Jahre hat er mit dem Unternehmen verhandelt, letztlich mit Erfolg. Die Suche nach geeigneten Standorten sei unter allen die schwierigste Aufgabe, in die er sehr viel Zeit investiere.
André lebt hier seit sechs Monaten – Hausnummer 150. Die „Little Homes“ tragen alle eine Ziffer, um sie eindeutig zuordnen zu können. Im Schenkungsvertrag werden sie mitsamt eines Fotos des Bewohnenden hinterlegt. Es ist eine Art Ausweispapier,das Polizei oder Ordnungsamt vorgezeigt werden kann. André sagt, er trage den Vertrag immer bei sich. Wer in seinem Haus steht, spürt die Enge, aber auch die Ruhe. Über dem Bett hängen eine Glühbirne und ein Feuermelder, neben dem Kopfkissen steht ein Antennenradio. Das Fenster hat er mit einer Jalousie abgedunkelt.
André mag die Ordnung, seinen Besitz hat er sorgfältig sortiert. Auf zwei übereinander hängenden Regalen lagern die Lebensmittel: Brot, Butter, Marmelade, Instantkaffee, Joghurt, Aufstriche, Senf, Ketchup, Mandarinen, Gewürze, auch Konserven, Kerzen und Batterien. In einem anderen stehen die Hygieneartikel: Rasierschaum, Deodorant und Zahnpasta. An einem Nagel an der Wand hängt ein grauer Rucksack, daneben hat er ein auffälliges Schraubendreherset befestigt.
Unter der Matratze bewahrt er eine Thermoskanne, Wasserkanister, Milchkartons und andere Lebensmittel auf. Hinter der Tür ist eine große Wolldecke gespannt, um sich gegen die Kälte zu schützen. Die Häuser sind eigentlich gut isoliert, bis unters Dach sind Rettungsdecken und Styropor in den Wänden verbaut. „Die Witterung kann dir hier weniger anhaben. Du kannst dich trocknen und bist sicher.“
Zum Duschen und Wäsche waschen nutzt er täglich die öffentlichen Einrichtungen der Caritas. An die allererste Nacht auf der Straße kann er sich heute noch sehr genau erinnern. Kein Auge habe er damals zugemacht. Mit dem „Little Home“ sei vieles anderes geworden. Und wenn es gut läuft, kann er in einer städtischen Wohnung unterkommen. Sollte er ausziehen, würde das Haus wieder Besitz des Vereins werden, der es dann weitergibt. Für André wäre der Umzug gesundheitlich dringend nötig: Seit gut sechs Jahren schon leidet er an einem dreifachen Bandscheibenvorfall, „der noch nicht operiert ist“. Schmerzmittel hat er keine, die Krankenkasse zahlt sie nicht mehr. Ein Nierengurt und eine Wärmflasche würden zumindest etwas helfen, aber auch das fehlt ihm bisher. In Zeiten geschlossener Läden sei es zuletzt „nicht leichter“ geworden.
Um sich etwas dazuzuverdienen, bietet André am Wochenende Kaffee an: Heißgetränk gegen Spende. Das Häuschen steht an einer viel befahrenden Fahrradroute. Beinahe idyllisch wirkt es hier – rundherum kilometerweite Felder. Gründer Sven Lüdecke aber will sein Projekt bei allem Zuspruch nicht romantisieren. Die Politik sieht er in der Pflicht, die Situation wohnungsloser Menschen zu verändern.
Kritik findet er zudem an Strukturen der Wohlfahrtsverbände. Die würden staatliche Mittel erhalten, die Situation oft aber nur „verwalten“, bemerkt er. Als negatives Beispiel nennt er die Tafel, eine Einrichtung, die die Armutsbekämpfung nur weiter „hinauszögere“ und die als Argument vorgeschoben werde, um zu zeigen, dass in Deutschland niemand hungern müsse. Lüdecke hält das für den falschen Ansatz: „Es werden Symptome bekämpft, keine Ursachen.“ Priorität müsse haben, „die Menschen von der Straße zu holen“. Auch Notunterkünfte sind für ihn keine Lösung. Weil er die Kritik am System der Wohnungslosenhilfe so deutlich ausspricht, werde er heute nur noch selten zu Diskussionen eingeladen. Er hat sich damit arrangiert. Lieber bleibt er bei sich.
Zweifel an seinem eigenen Projekt bleiben auch nach der langen Zeit – wegen rechtlicher Fragen oder finanzieller Engpässe. Gedanken an ein jähes Ende würden ihn des Öfteren einholen. „Ich bin mit dem Projekt einmal durch die Hölle gegangen und wieder zurück, aber wir sind immer noch da. Ich würde nicht von vorne anfangen. Heute ist die Verantwortung aber so groß, dass ich nicht mehr aufhören kann.“ Optimistisch bleibt er trotz allem: „Selbst wenn es irgendwann 1 000 Häuser gibt und nur ein Mensch schafft den Sprung in eine Wohnung: Allein dafür hat es sich gelohnt.“
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!