Text: Jakob Springfeld — Foto: Karla Schröder
Während der Schweiß an mir heruntertropft, ziehe ich mit der „Solidarischen Vernetzung Sachsen“ in sengender Hitze durch die Straßen meiner Heimatstadt Zwickau, demonstriere gegen die extreme Rechte und für eine solidarische Demokratie. Eine ältere Dame winkt mir freudestrahlend zu, ein Neonazi rennt zum Protest und brüllt: „Nationaler Sozialismus!“
Auch auf den Balkonen eines Neubaublocks treffen Welten aufeinander: Aus der ersten Etage winken lächelnde Kinder und ihre kopftuchtragenden Mütter – und erfreuen sich am bunten Protest. Gleich darüber zeigen kahlrasierte Glatzen hasserfüllt den Mittelfinger. Ich und meine Mitstreitenden ziehen an dem Gebäude vorbei und ich ärgere mich, dass ich diesen Moment nicht fotografisch festhalten kann.
Die Menschen auf den statisch übereinander angeordneten Balkonen nehmen einander gar nicht wahr, obwohl sie sich eigentlich so nah zu sein scheinen – zumindest räumlich. Szenen wie diese sind bezeichnend für Zwickau. Während einige wenige versuchen, für eine diverse Gesellschaft einzutreten, haben andere nur (noch) Hass übrig. Diese Dualität zieht sich durch die Stadt wie ein roter Faden. Durch Nachbarschaften, durch Schulen, durch Sportvereine …
Die Situation in Zwickau, dem Ort also, wo der NSU lange unentdeckt untertauchen konnten, spitzt sich jedenfalls weiter zu: vor wenigen Wochen sorgten Schlagzeilen über Rassismus und NS-Verherrlichung auf dem Zwickauer Simsontreffen bundesweit für Aufsehen. Wenig später bedrohten Neonazis – nach einer Wahlkampfveranstaltung der AfD – den alternativen Kulturort „Kunstplantage“. Ein geplantes Openair wurde daraufhin aus Sicherheitsgründen abgebrochen. Und Mitte August titelte schließlich die Freie Presse: „Stadtrat Zwickau: AfD-Leute räumen Posten ab – Woher kommen die vielen Stimmen?“ Spoiler: nicht nur von den offen antidemokratischen Stadtratsfraktionen.
Ob mich das alles überrascht? Nein! Und es sollte auch sonst niemanden mehr überraschen. Laut einer Forsa-Umfrage schließen tatsächlich 68 Prozent der ostdeutschen CDU-Mitglieder eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht aus. Doch was bedeutet das eigentlich für uns als kritische Zivilgesellschaft? Unser Protest und unsere Arbeit bleiben vor, aber besonders nach den Wahlen, wichtiger denn je. Auf Konservative und Neoliberale, die womöglich wieder zu Steigbügelhalter*innen für Faschist*innen werden, ist jedenfalls kein Verlass.
Während die institutionelle Politik in Berlin schläft und Verantwortung wegschiebt, gewinnen Faschist*innen in Bund und Ländern weiter an Stärke. Das ist fatal! Der Kanzler grübelt über die Legitimität eines AfD Verbots, während in Städten wie Zwickau Menschen verfolgt, beschimpft, angegriffen werden. Wie bedrohlich es hier ist, zeigte sich auch nach unserem Protest Mitte August. Als ich gerade nach Hause fahren möchte, erreicht mich diese Textnachricht:
„Hey bitte ganz dringend weitergeben: die Abreise vom CSD, ob Bahn/Zug/S-Bahn ist NICHT SICHER. Wir wurden eben von 7 Faschos angegriffen und bespuckt. Davor fielen Parolen wie „S*eg H***“ und antisemitische Sprüche.“
Ob beim CSD in Bautzen oder dem nochmal größeren Protest in Leipzig wurde deutlich: der zunehmend jüngere Faschomob ist sichtbarer und bedrohlicher. Dass die 350 Neonazis am Leipziger Bahnhof – die glücklicherweise blockiert wurden – am Ende des Tages medial um ein vielfaches viraler gehen als unser antifaschistischer Protest in Zwickau, an dem übrigens genauso viele Menschen teilnahmen, spricht Bände. Die Empörungslogik funktioniert.
Kurz vor den Wahlen in Sachsen steht das Protestgeschehen im Fokus. Die extrem rechten Aufmärsche werden, berechtigterweise, skandalisiert. Dass in Bautzen mehr als 1 000, in Leipzig über 20 000 und in Zwickau 350 Leute für die Rechte von queeren Menschen und eine solidarische Demokratie protestieren, geht im Faschochaos schnell unter. Für die Engagierten vor Ort ist das frustrierend. Nicht nur auf politischer Ebene passiert zu wenig, auch medial finden vulnerable Gruppen und die wehrhafte Zivilgesellschaft kaum Aufmerksamkeit und wenn doch, dann häufig immer nur dann, wenn etwas passiert – so, wie beim CSD in Bautzen.
Auch in Thüringen ist dieser allumgreifende Frust spürbar. Dieses mulmige Bauchgefühl vor den Landtagswahlen ist in demokratischen Kreisen kaum mehr wegzudenken. Ich war nach Erfurt eingeladen, um im Erinnerungsort „Topf & Söhne“ aus meinem Buch „Unter Nazis“ zu lesen und anschließend mit dem Publikum über Neutralitätsgebote und Zivilgesellschaft zu diskutieren. Ich sitze also an einem Ort, an dem vor wenigen Jahrzehnten noch die Öfen für das KZ Auschwitz hergestellt wurden und spreche darüber, dass der Faschist Björn Höcke, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert, an die Macht gelangen könnte. Irre.
Mir gegenüber saß Jens-Christian Wagner, Leiter der Thüringer Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er erzählte von Anfeindungen und Drohungen durch die AfD. Als ich am Abend nach Hause fuhr und gelesen hatte, dass Demonstrant*innen einen Aufritt von Höcke in Jena verhindern konnten, habe ich mich erst gefreut, merkte aber zugleich, wie es mir dennoch eiskalt den Rücken runterlief. Unser Protest in Zwickau, CSD-Demos im ganzen Land oder die Blockade in Jena können aber nicht über die heikle Situation vor den Wahlen oder auch die weiterhin viel zu große schweigende Masse hinwegtäuschen.
Am Tag nach der Diskussion in Erfurt lese ich, dass Jens-Christian Wagner abermals bedroht wurde: In Mittelbau-Dora wurde ein Foto von ihm auf eine Todesmarschstele geklebt. Diese erinnert an die Opfer der Todesmärsche aus den Lagern zur Zeit des Nationalsozialismus.
Können wir es uns also wirklich leisten, über politische Neutralität zu debattieren? Nein! In Zeiten, in denen die Opfer der Shoah verhöhnt werden, in denen junge Neonazis massenhaft CSDs bedrohen oder in denen es alleine im ersten Halbjahr dieses Jahres über 500 Übergriffe auf Geflüchtete gegeben hat, ist eine „neutrale Position“ im besten Falle feige und dumm, spielt aber vor allem den Faschos in die Karten. Die „politische Neutralität“ war und bleibt ein gefährlicher Irrglaube der „Mitte“. Du kannst ruhig glauben, dass du der politisch neutralste Mensch der Welt bist, aber wenn du am Ende schweigst, dann bist du nicht neutral.
Du kannst dich darauf berufen, eine politisch neutrale Position einzunehmen, doch vergiss dabei nicht, dass dein Schweigen denjenigen als Zustimmung gilt, die Fotos von engagierten Demokrat*innen auf Todesmarschstelen kleben. Und schon jetzt bringt die extreme Rechte nur Leid – sie blockiert in Parlamenten, nimmt den öffentlichen Diskurs für sich ein und lähmt damit die Gesellschaft. Und jedes Schweigen unterstützt diese Entwicklung.
Am Ende der Diskussion im Gedenkort meldete sich schließlich ein Mann zu Wort und meinte, dass an der aktuellen Stärke der AfD zumindest eines gut sei: dass wir zusammengekommen sind, um als Demokrat*innen zusammenzustehen. Ohne die Bedrohung sei das wohl so nicht passiert. Ich verstehe durchaus seinen Punkt und muss aber trotzdem widersprechen. Ich widerspreche, weil ich glaube, dass wir auch ohne die AfD zusammenkommen wären, um zum Beispiel über die soziale Ungleichheit, den schlecht ausgebauten ÖPNV oder die Klimakrise zu diskutieren. Alles Themen, die aktuell verdrängt werden.
Ich plädiere dafür, dass wir uns genau das – trotz aller Gefahren – nicht nehmen lassen: Ich glaube an ein Sachsen, ein Thüringen, in dem der ÖPNV gut ausgebaut ist und pünktlich fährt. Ich glaube an Bundesländer, in denen sich noch vielmehr Menschen engagieren oder sich in sozialen Zentren treffen, um der Vereinzelung entgegenzuwirken. Ich sehe eine Region ohne extrem rechte Aufmärsche und Neonazis. Es sind Visionen, denen wir, egal wie die Wahlen am Sonntag auch ausgehen, weiterhin nacheifern müssen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.
Jakob Springfeld wurde 2002 im sächsischen Zwickau geboren, ist Klima- und Antifa-Aktivist, Student und Autor des Buches „Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen rechts“.