Text: Olivier David — Fotos: Martin Lamberty
Gianni Jovanovic ist gerade einmal vier Jahre alt, als ihm der blanke Hass entgegenschlägt: Beim ersten antiziganistischen Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte trifft ihn ein Stein am Kopf. Molotowcocktails, geworfen von Nazis, setzen das Darmstädter Reihenhaus, in dem die vierköpfige Familie damals wohnt, in Brand. Ein erstes traumatisches Erlebnis, dem weitere folgen sollen. Gianni Jovanovic muss, wie viele Kinder aus Roma-Familien, auf einer „Sonderschule“ lernen. In der Schule erfährt er körperliche Gewalt und Ausgrenzung. Mit 14 wird er zwangsverheiratet, mit 16 zum ersten Mal Vater. Mit 22 outet er sich als schwul, lässt sich scheiden und wird zehn Jahre später Großvater. Genug Stoff für ein ganzes Leben also, dabei ist Gianni Jovanonic erst bei ungefähr der Hälfte angekommen.
Der Lebenslauf des 43-Jährigen ist darüber hinaus wie folgt zu ergänzen: Dental-Hygieniker, Unternehmer, Comedian. Vielen aber ist Jovanovic durch die im Januar 2021 aufgeflammte Debatte um die WDR-Sendung „Die letzte Instanz“ ein Begriff. Fünf weiße Menschen, unter anderem Moderator Thomas Gottschalk und TV-Autor Micky Beisenherz, saßen gut gelaunt zusammen und sprachen über Rassismus – und darüber, ob es statthaft wäre, das Z-Wort zu sagen. Ist es, so der Befund der Runde. Die Antwort folgte prompt: Moderatorin und Komikerin Anissa Amani stellte auf eigene Faust eine Diskussionsrunde zusammen – unter anderem mit dem Autor Max Czollek, der Autorin Natasha A. Kelly und Gianni Jovanovic.
Die auf YouTube ausgestrahlte Sendung mit dem Titel „Die beste Instanz“ wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Zur Causa Z-Wort sagte Jovanovic in der Sendung: „Dieses Wort geht mit Gewalt, mit Stereotypisierung und dem Genozid an einer halben Millionen Sintizze und Romnja einher.“
Die Gewalt, die Jovanovic in seinem Leben aushalten muss, ist stets präsent. „Ich versuche meine Wut dahin zu lenken, wo sie angebracht ist. Ich richte meine Wut und meinen Schmerz nicht auf diejenigen, denen es genauso schlecht geht wie mir.“ Auch im Gespräch ist sie immer wieder spürbar, die Wut. Hat Jovanovic etwas Wichtiges zu sagen, verdeutlicht er die Dringlichkeit seiner Worte manchmal durch Wiederholungen. Er gestikuliert viel und wenn er muss, erhebt er seine Stimme. Dazu meißelt er die Silben mit dem Zeigefinger regelrecht in den Tisch hinein. Sie sollen sich einschreiben in den Moment, oder besser, direkt in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft und das – wenn es nach ihm ginge – für immer.
Schon im nächsten Moment kann es sein, dass die Wut von einem anderen Gefühl überlagert wird, von etwas, das noch größer und mächtiger zu sein scheint: seine Lust auf das Leben. Wenn Jovanovic über seine Selbstheilungskräfte spricht, glaubt das Gegenüber zu begreifen, was es ist, das ihn zu dem Menschen werden ließ, der er heute ist. „Eine dieser Strategien, die meine Familie entwickelt hat, um so viel Unterdrückung und systematische Ausgrenzung zu ertragen, war es, verzeihen zu können. Ja, sogar verzeihen zu müssen, um zu überleben“, sagt er, und plötzlich kommt das Zarte in ihm durch.
Eine Frage der Solidarität
Die Geschichte von Jovanovics Familie ist untrennbar mit dem Holocaust verwoben. Wie in fast jeder Roma-Familie wurden auch manche seiner Vorfahren Opfer der Nazis. Der Drang zu überleben ist Teil seiner DNA und das, was Jovanovic Kraft gab, ist, seine eigene Identität als homosexueller Mann gegenüber seiner Familie und seiner Community zu verteidigen. Diese Kraft, mit deren Hilfe er sich seiner Fesseln entledigt, gibt er in Workshops an andere weiter.
Junge Menschen würden sich ihm öffnen, weil er ihnen seine Emotionen zeige und auch über Dinge spreche, „für die sie noch keine Sprache besitzen, die sie aber fühlen. Es geht um die Frage: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, sagt Jovanovic und lacht. Vielleicht auch, weil er sich diese Frage in seinem Leben selbst immer wieder hat stellen müssen. Identität ist für ihn nichts Starres, sie ist fluide, im Wandel. In seiner Kindheit wollte er sein wie Wolverine aus den Marvel-Comics, dessen Magie eine außergewöhnliche Selbstheilungskraft ist. Irgendwie ist er das auch geworden: sein eigener Superheld, unbesiegbar und trotzdem nahbar. Und wo ein Superheld ist, da ist auch eine Vision nicht weit – der Kampf für ein besseres Leben.
Jovanovics Kampf ist der für Partizipation. Für Menschen, die nicht in die gängigen Schemata der weißen Mehrheitsgesellschaft passen – für jene, deren Stimmen nicht gehört werden. Als Gründer der Initiative Queer Roma setzt er sich ein gegen Vorurteile. Mit dem Kollektiv Colours of Change engagiert er sich für die Sichtbarkeit von nicht weißen Perspektiven in der queeren Szene. Bei Gianni Jovanovic wird Identitätspolitik, der manchen ein Schmähwort, anderen eine düstere Zukunftsformel ist, etwas Greifbares. „Wir leben in einer Zeit, in der wir Menschen ein Gehör geben, die seit Dekaden keines gefunden haben. Hier geht es um Teilhabe. Um den Anspruch darauf, auch ein Stück vom großen Ganzen zu bekommen.“
Wer die Welt durch die Brille marginalisierter Positionen betrachtet, für den wird der medial geführte Diskurs um Identitätspolitik plötzlich zum Überlebenskampf. Und wer ums Überleben kämpft, muss genau hinschauen, welche Allianzen er eingeht. Jovanovic weiß das, darum sah er die zur Fußball-Europameisterschaft 2021 geschwungenen Regenbogenfahnen nicht vorbehaltlos als etwas Gutes an. „Ich will Solidarität, auch wenn ich und meine schwulen Freunde das Zimmer verlassen haben. Erst wenn du für mich kämpfst, in deinen Räumen und dann, wenn ich es gar nicht mitbekomme, reden wir von echter Solidarität.“ Auch wenn bis dahin noch Zeit vergehen wird: Wer wäre Gianni Jovanovic, wenn er jetzt aufgeben würde, wo er doch schon einen so weiten Weg hinter sich hat?
Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des Veto Magazins: www.veto-mag.de/gedruckt. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten: Ihr seid nicht allein!