Text: Jule Merx — Fotos: Karla Schröder
Pirna scheint zu schlafen. Die Kleinstadt vor den Toren Dresdens macht einen friedlichen Eindruck. In der Mittagssonne sitzen am Rand des pitoresken Marktplatzes ein paar ältere Herrschaften zusammen, sonst sind die Straßen weitgehend leer. Zwei Menschen, die Arme ineinander gehakt, schlendern vorbei und begutachten das Rathaus. Der Renaissance-Bau wirkt heute selten unauffällig, produzierte er doch vor wenigen Wochen noch etliche Schlagzeilen in überregionalen Medien.
Rund 800 Menschen positionierten sich hier Ende März für ein offene Gesellschaft. Neben Regenbogenfahnen hielten sie Schilder in die Luft: „Menschenrechte statt rechte Menschen“. Oder: „Der Unterschied zwischen 1933 und 2024? Bist Du“. Der Grund für ihren Protest war und ist der neue Oberbürgermeister der Stadt. Tim Lochner, Kandidat der AfD. Seine Vereidigung nach einem knappen Erfolg im zweiten Wahlgang hat die sächsische Kleinstadt wieder einmal über die Landesgrenzen hinaus sichtbar gemacht – und gezeigt: Pirna kämpft mit inneren Widersprüchen. Das neue AfD-Stadtoberhaupt sorgt gegenwärtig für Widerstand – und schon früher bestimmten hier rechte Kräfte die Stimmung.
Alina Gündel beobachtet das alles ganz aus der Nähe. Sie leistet Bildungsarbeit in der Stadt. Wie sich dieser Job aktuell anfühlt? „Nazis sind schon lange nicht mehr an Springerstiefeln und Glatze zu erkennen. Die Sichtbarkeit dieser Personen ist im Alltag begrenzt.“ Aber sie sind da. Das zeigt die hohe Zustimmung zu einer Partei, die in Sachsen als gesichert rechtsextrem gilt. Bei den Kommunalwahlen Anfang Juni konnte die AfD in Pirna ihre Sitze im Stadtrat mehr als verdoppeln: von vier auf neun. Die Partei ist damit stärkste Kraft und spürt den Rückhalt.
Was konkret diese Stimmenmehrheit unter einem AfD-Oberbürgermeister für den politischen Alltag bedeutet, bleibt ungewiss. Zwar ist die wachsende politische Gestaltungsmacht in den Händen der AfD ein Novum, besondere Dynamiken zwischen rechten und linken Kräften habe es im sächsischen ländlichen Raum jedoch schon immer gegeben, erzählt Alina Gündel. Zum Beispiel in ihrer Jugend: „Es gab Hegemonien, in die ich als nicht rechte Person nicht reingepasst habe. Ich wurde regelmäßig als Zecke beschimpft, mir wurde Gewalt angedroht. Zum Glück ist nie wirklich was passiert, bei anderen sah das anders aus. Rassistische Sprüche blieben oft unwidersprochen stehen, das fand ich schlimm.“
Reaktion auf rechte Präsenz
Erfahrungen wie diese waren für sie damals ein Grund zu gehen. Heute sind sie der Grund zum Bleiben. Alina Gündel will aufklären, politisch arbeiten – gerade im ländlichen Raum, um einen Gegenentwurf zu rechten Narrativen zu schaffen. Wie ernüchternd das aber mitunter sein kann, zeigen die Ergebnisse der Europa- und Kommunalwahlen. Außerdem zeigt eine Studie der Universität Leipzig deutlich, in welch kritischer Lage sich die Demokratie besonders in Ostdeutschland befindet. Eine hohe Zustimmung gibt es etwa zu rechtsextremen Aussagen; unter anderem in Sachsen befürwortet zudem rund ein Drittel der Befragten eine Diktatur.
Dabei zeigt die Vergangenheit, wie schnell eine Demokratie Geschichte sein kann. Alina Gündel will für die Schrecken des Nationalsozialismus sensibilisieren. Das tut sie gemeinsam mit anderen beim Alternativen Kultur- und Bildungszentrum, kurz AKuBiZ. Die Initiative entstand 2001 als Gegenbewegung zur rechten Präsenz, auch als Reaktion auf An- und Übergriffe. Als Jugendliche seien die Gründungsmitglieder von Gewalt betroffen gewesen, bemerkt Gündel. Daraufhin hätten sie sich vernetzt und Räume gesucht und gefunden. Die Idee war es, ein Jugendzentrum aufzubauen und sich gegen rechts zu organisieren.
Heute liegt ein Schwerpunkt des Vereins auf historischer politischer Bildung – und auf der Geschichte des Nationalsozialismus. Mit Vorträgen, Workshops, Ausstellungen, Publikationen, Wanderungen und einer digitalen Geschichtskarte machen die Engagierten Vergangenes zugänglich. „Der Widerstand gegen Nazis gerät in Vergessenheit und rechte Kräfte versuchen hartnäckig, die Geschichte zu verfälschen“, bemerkt Alina Gündel. Ähnlich drastisch äußern sich Holocaust-Überlebende wie Ivar Buterfas-Frankenthal, der die AfD für „brandgefährlich“ hält – auch deshalb, weil Thüringens AfD-Chef Björn Höcke einst eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ propagierte und heute verbotene SA-Parolen zitiert.
Damit die viel beschworene Parole „Nie wieder“ nicht einfach verpufft, klärt das AKuBiZ über die Verbrechen des Nationalsozialismus in der Region auf. Dazu gehört unter anderem die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Hier wurden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt zwischen 1940 und 1941 mehr als 14 700 Menschen ermordet. Das letzte Zeitzeugnis, eine übriggebliebene Busgarage, soll nun einem Neubau weichen.
An das Vergangene erinnern
Weiter draußen liegt zudem die Burg Hohnstein, die in der NS-Zeit als Konzentrationslager, Reichsjugendherberge und Kriegsgefangenenlager diente. Wegen eines Umbaus waren hier der Ausstellungs- und Gedenkraum im ehemaligen Frauenbunker kurzzeitig gefährdet. Bei solchen Entscheidungen, erklärt Alina Gündel, sollte immer dieselbe Frage gestellt werden: „Wie bleiben solche Orte als Erinnerungsorte erhalten?“ Denn: „Die meisten Zeitbezeugenden sterben und können nichts mehr darüber erzählen. Ein Zugang über die historischen Orte wird deswegen immer wichtiger.“
Und auch die neuere Regionalgeschichte müsse weiter kritisch aufgearbeitet werden. In den Neunzigern beispielsweise dominierten die „Skinheads Sächsische Schweiz“ Pirna und das Umland, eine der brutalsten Neonazi-Kameradschaften Deutschlands. Die Organisation wurde 2001 verboten, Übergriffe und Anfeindungen fanden damit jedoch auch kein Ende. Noch 2005 reihten sich Straftaten und Einschüchterungsversuche der Neonazi-Szene aneinander.
Und heute? In Sichtweite zu den Vereinsräumen des AKuBiZ steht das Pirnaer Rathaus. Von hier aus entscheidet AfD-Oberbürgermeister Tim Lochner. Mit seiner Wahl Mitte Dezember 2023 scheint sich eine traurige Traditionslinie rechter Einflussnahme aufzutun: Pirna als Stereotyp einer „braunen Stadt im Osten“. Das jedoch werde den vielen Engagierten und progressiven Kräften nicht gerecht. Auch mit Blick in die Geschichte widerspricht Gündel der verkürzten, vorschnellen These: „Pirna war eine normale Stadt, wie viele andere auch. Das macht es aber nicht weniger erschreckend.“
In Pirna zeige sich vielmehr ein schleichender Prozess, der auch in anderen Städten und Bundesländern zunehmend an die Oberfläche tritt. Denn bis hinein in politische Ämter und Entscheidungsebenen reichen gegenwärtig radikale und extremistische Weltanschauungen, die vor Jahrzehnten noch gesellschaftliche Randerscheinungen waren. So nannte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland die Zeit des Nationalsozialismus einen „Vogelschiss in über 1 000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ ist. Dass Tim Lochner das Aufhängen der Regenbogenfahne in Pirna mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne verglich, zeige ähnliche Tendenzen, verdeutlicht Alina Gündel.
Neue Bündnisse finden sich
Konkreten Einfluss auf die Arbeit des AKuBiZ nähmen diese Entwicklungen noch nicht. Doch Alina Gündel schränkt ein: Tim Lochner sei noch nicht lange im Amt. Der Verein befände sich gegenüber anderen Initiativen in Pirna zudem in einer komfortableren Lage, was etwa die Finanzierung angeht. „Wir sind nicht abhängig von städtischen Geldern oder Räumen.“ Andere würden da eher mit ihrer Positionierung hadern. Außerdem gebe es durchaus Stimmen, die das Amt des Oberbürgermeisters als rein repräsentativ und damit unabhängig von der AfD begreifen. Das offenbare eine potenzielle Offenheit gegenüber Lochners Inhalten, so Gündel. Dinge würden sagbarer, was wiederum zur Normalisierung nicht-demokratischer Werte führe.
Dass das AKuBiZ in Zukunft und gemeinsam mit der Stadt weitere Stolpersteine verlegen oder Erinnerungstafeln aufstellen wird, ist aktuell schwer vorstellbar. Alina Gündel beschreibt das entstehende Spannungsverhältnis deutlich: „Für uns ist klar: Wir werden keine Veranstaltung bewerben oder besuchen, bei der Tim Lochner anwesend oder irgendwie involviert ist.“ Er sei zwar Oberbürgermeister, aber nicht „alleiniger Herrscher in der Stadt“. Gündel bleibt deshalb zuversichtlich: „Wenn uns Hürden in den Weg gestellt werden, finden wir andere Lösungen.“
Dabei fühlt sie sich in ihrem Engagement gegen rechts gegenwärtig sogar weniger alleine. Lochners Wahl habe die Zivilgesellschaft zusammenrücken lassen. Das zeige zum Beispiel das Bündnis „Solidarisches Pirna“, das sich zu Jahresbeginn zusammengefunden und die Demo vor dem Rathaus organisiert hat. Auch das AKuBiZ ist Teil dieses Zusammenschlusses. Diese Vernetzung sei nötig, findet Gündel, da der Einsatz gegen rechte Kräfte und Strukturen gerade in kleineren Städten schnell an die Substanz gehen könne. So dominiere häufig die Angst ausgegrenzt und abgestempelt zu werden oder unter Beobachtung von Rechtsaußen zu stehen. „In kleinen Gemeinden, in denen sich die meisten Leute kennen, ist das auf jeden Fall mutiger, als sich mit 20 000 Leuten in Dresden auf die Straße zu stellen.“
Mut machen Alina Gündel die Bilder der letzten Monate aber allemal, die vielen Menschen auf den Straßen überall im Land. „Es ist wichtig, dass Rechte merken, dass sie nicht die Einzigen sind, die bestimmen können, worüber und mit wem gesprochen wird“, sagt sie und betont, dass der Protest gerade jetzt weitergehen müsse. „Meine Hoffnung ist, dass dieses Gefühl wirklich genutzt wird, um sich verbal zu wehren – und im Alltag Haltung zu zeigen.“
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