Text: Susanne Kailitz — Fotos: Julian Beekmann
Was wäre, wenn sich in dieser Nacht jemand anders verhalten hätte? Es vergeht seit elf Jahren kein einziger Tag mehr, an dem sich Salome Saremi-Strogusch Gedanken nicht um diese Frage drehen. Damals, im September 2008, stellt sich Salomes Bruder Salar in einer Diskothek im südhessischen Bensheim vier Männern entgegen, die eine junge Frau belästigen. Seine Hilfsbereitschaft bezahlt der 29-Jährige mit seinem Leben. Die Männer verprügeln ihn so schwer, dass er bewusstlos auf der Straße liegen bleibt und dort von einem Auto überfahren wird.
Salar Saremi stirbt vier Wochen später an seinen Verletzungen – und seine Schwester Salome fragt sich bis heute, warum niemand ihm in jener Nacht zu Hilfe kam. „Alles hätte ganz anders ausgehen können, wenn sich irgendwer anders verhalten hätte, wenn irgendjemand eingegriffen hätte.“ Aber egal, wohin ihre Gedanken auch führen: „Das bringt mir meinen Bruder nicht zurück.“
Während den Ermittlungen und auch später vor Gericht habe es viele Unstimmigkeiten gegeben, erzählt Salome. „Wie in einem schlechten Film“ sei das alles abgelaufen. Sie hatte das Gefühl, sagt sie, die einzige gewesen zu sein, die Informationen über die Tat gesammelt habe. Der Vorwurf des Totschlags konnte letztlich nicht bewiesen werden. Der Hauptangeklagte musste für sechs Jahre ins Gefängnis, seine Mittäter für drei.
Wenn Berichte Ängste wecken
Nach einer Phase unerträglicher Trauer und Fassungslosigkeit beschließt Salome gemeinsam mit anderen Menschen, die ebenfalls schockiert über den Tod von Salar Saremi sind, dass sein sinnloser Tod nicht umsonst gewesen sein soll. Schließlich gründen sie den Verein „Fabian Salars Erbe“, der sich seither für mehr Zivilcourage einsetzt. Sie bieten Workshops in Schulen an, auch Vorträge und Schulungen und wollen dafür sensibilisieren, in kritischen Situationen aufmerksam zu sein.
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, würden viele sagen. Doch dass dem nicht so ist, kreidet Salome auch einer bestimmten Art der Medienberichterstattung an: „Wenn in Zeitungen oder Fernsehbeiträgen die Rede von Zivilcourage ist, dann wird immer über die Fälle berichtet, in denen das nicht gut ausgegangen ist.“
Alle würden die schrecklichen Beispiele von Tuğçe Albayrak, Dominik Brunner oder Jonny K. kennen: Menschen, die in Konflikte eingriffen, weil sie anderen helfen wollten, und dabei starben. Natürlich sei es wichtig, diese Opfer nicht zu vergessen, meint Salome, „aber wenn ausschließlich so über Zivilcourage berichtet wird, dann muss ja der Eindruck entstehen, dass das etwas ganz Gefährliches ist“. Sie und die anderen Angehörigen der Opfer würden versuchen, für ein Umdenken zu sorgen.
Austausch und Kräfte bündeln
Denn Zivilcourage sei so viel mehr, als sich in einen Konflikt einzumischen: „Es geht schlicht darum, nicht wegzuschauen. Doch niemand soll sich dafür selbst in Gefahr bringen müssen. Manchmal ist es sowieso das Beste, die Polizei anzurufen oder sich für eine Zeugenaussage zu melden.“ In solchen Situationen selbst aktiv zu werden, andere anzusprechen und einzuspannen, das sei lernbar. „Indem ich vielleicht sage: Du dort in der blauen Jacke, informiert bitte die Polizei. Ihr beiden ruft lauf um Hilfe.“
Doch der Verein engagiert sich nicht nur in Bensheim und Umgebung. Inzwischen konzentrieren sich Salome und ihr Team auf die Vernetzung – und deshalb arbeiten sie mit im Bundesnetzwerk Zivilcourage, in dem sich viele Initiativen mit dem gleichen Ziel zusammengetan haben. Gegründet haben sie außerdem das „Courage Office“, um Kräfte zu bündeln, Engagierten ein Forum zu bieten und Projekte sichtbar zu machen.
Und so findet mittlerweile jedes Jahr am 19. September der „Tag der Zivilcourage“ statt, erzählt Sabrina Lehmann, die hauptberuflich für einen Sportverband tätig ist und sich als Vorständin ehrenamtlich im Verein „Fabian Salars Erbe“ einbringt. Es geht ihr um einen Tag, an dem überall im Land Aktionen stattfinden – Lesungen, Infostände, Poetry Slams oder Diskussionen, die sich dem Thema Zivilcourage widmen.
Beleidigungen im Netz ahnden
„Wir haben irgendwann gemerkt, dass es in ganz Deutschland viele Menschen mit coolen Ideen gibt, die viel zu häufig aber nichts voneinander wissen.“ Sie zu vernetzen, sei dem Team ein Bedürfnis gewesen, „weil es doch überhaupt keinen Sinn ergibt, dass Engagierte mit ihren Vorhaben bei Null anfangen, anstatt voneinander zu profitieren. Niemand muss mit seiner Arbeit alleine sein. Und so sind wir in den letzten Jahren auch zu einer großen Familie gewachsen“. Im Alltag hingegen stelle sie immer wieder fest, sagt Sabrina, „dass die Leute auf der Straße fast nur noch mit sich beschäftigt sind und nicht aufeinander achten“.
Zivilcourage sei aber nicht nur in handfesten Auseinandersetzungen gefragt. „Das fängt schon bei blöden Sprüchen am Arbeitsplatz oder in den sozialen Netzwerken an. Sowas beleidigt und verletzt andere Menschen – und darf deshalb nicht unbeantwortet bleiben.“ Schweigen, es geschehen lassen oder ignorieren, wenn andere angegriffen werden: Das sei der Beginn allen Übels. Zivilcourage bedeute genauso, nicht einfach mitzumachen: „Wenn mir auf Facebook angeboten wird, mein Profilbild mit einem bestimmten Logo oder Slogan zu unterlegen, sollte ich mir genau anschauen, von wem das kommt und wen ich damit gegebenenfalls unterstütze.“
Reaktionen, die ratlos machen
Nicht achtlos sein: Das ist auch das Motto des Vereins. Denn wie schmerzhaft es ist, zum Opfer von Achtlosigkeit zu werden, haben Salome Saremi-Strogusch und ihre Familie noch lange nach Salars Tod wieder und wieder erfahren. „Als wir in der Stadt eine Schweigeminute organisieren wollten, hat der damalige Bürgermeister sinngemäß gesagt, dass keine Gegengewalt erzeugt werden dürfe. Damit wurde uns klargemacht, dass wir nicht als Teil dieser Gesellschaft gesehen werden – und dass wir, vermutlich wegen unseres persischen Namens, in die Nähe von Gewalt gerückt werden. Wir leben aber hier und sind auch Deutsche.“
Dieser negative Eindruck aber verstärkte sich nur noch weiter, als ein Fußgänger sie Monate nach Salars Tod aufforderte, die provisorische Gedenktafel am Unglücksort „doch endlich mal in die Türkei zu bringen“. Einige hätten „nicht einmal verstanden, dass unser Vater aus Persien kommt und wir mit der Türkei gar nichts zu tun haben“. Dass die Täter einen türkischen Migrationshintergrund haben, „das war für uns immer vollkommen egal. Das sind einfach Monster.“
Ein Mahnmal gibt es bis heute nicht. Rückhalt aus der Politik spürt Salome kaum. Auch Fördermittel bekommt der Verein für seine Arbeit keine – alles passiert ehrenamtlich. Aufgeben, das würde Salome jedoch nie: „Wer verteidigt unsere Demokratie, wenn alle schweigen?“ Es ist eine Frage, die sie sich zuletzt immer häufiger stelle.
Kritik an der Berichterstattung
Gleichzeitig kämpft sie gegen den verbreiteten Impuls, sich bei der Berichterstattung zu stark auf die Personen, die Taten begangen haben, deren Hintergründe und Motive zu konzentrieren. „Es werden Namen genannt und über die Motive spekuliert, anstatt diejenigen in den Mittelpunkt zu rücken, die es verdient hätten – nämlich die Opfer.“
Zwar heißt es im deutschen Pressekodex zur Berichterstattung über Gewalttaten, die Presse wäge das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen „sorgsam ab“ und lasse sich bei der Berichterstattung „nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen“.
Tatsächlich allerdings, so Salomes Urteil, würden viele Medien zu oft deren Geschäft betreiben und sich für höhere Auflagen oder bessere Einschaltquoten auf das Negative konzentrieren. „Dabei gibt es jeden Tag unglaublich viele Beispiele für Menschen, die mutig für andere eintreten. Denen geben sie aber keine Bühne.“
Ihren Bruder Salar wird Salome niemals vergessen. Und sie sorgt dafür, dass er auch anderen in Erinnerung bleibt – nicht wegen seines Todes, sondern vor allem damit, dass es für ihn immer selbstverständlich gewesen sei, anderen Menschen beizustehen. Salar sei kein Superheld gewesen, „aber er hat sich für andere eingesetzt.“ Genau das wolle sie weitergeben, so die dreifache Mutter, „damit alle ein klein wenig mutiger werden“.
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