Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Pierre Zinke streckt der Kamera seinen erhobenen Daumen entgegen. Das Bild zittert und schwankt, heftiger Wind reißt an seiner Kleidung. Der Mann dicht hinter ihm rückt noch einmal die Schutzbrille zurecht und hebt ebenfalls den Daumen. Noch ein kleiner Schritt, dann fallen beide aus der Tür des kleinen Flugzeugs. Sekunden später sind sie nur noch ein Pünktchen im verschleierten Blau, in das sich schließlich, wie eine Gedankenblase, der Fallschirm öffnet.
Pierre Zinke hat den Absprung geschafft: Nicht nur bei diesem Tandemsprung, sondern auch aus dem Elternhaus: „Wäre es nach mir gegangen, wäre ich schon mit 18 ausgezogen.“ Doch für ein selbstbestimmtes Wohnen brauchte er einen langen Atem. Als Spastiker ist Zinke auf seinen Rollstuhl angewiesen – und auf Assistenz im Alltag. Um diese in Anspruch zu nehmen, sei erst einmal die Beantragung eines persönlichen Budgets nötig gewesen, erzählt er.
Staatliches Geld, das er selbst verwalten kann. „Dieser Prozess war die erste Hürde, denn ich brauche dafür eine gesetzliche Betreuung.“ Zwischen 40 und 60 zu Betreuende kämen im Durschnitt auf eine dieser Stellen: „Was das für die individuelle Abwicklung bedeutet, brauche ich nicht zu erwähnen.“ Ein weiteres Problem: ein geeignetes Wohnkonzept. „Für mich kam ein reguläres Wohnheim für Menschen mit Behinderung nicht infrage“, erklärt Zinke.
Es ist ein Projekt der Lebenshilfe Dresden, bei dem er schließlich fündig wird. Mit 28 Jahren zieht er aus dem Elternhaus aus und mit zehn Menschen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren zusammen – manche mit, manche ohne Behinderung. „Das erste Jahr war superkrass. Mein Zimmer war neben der Küche – und immer wenn dort Bambule war, bin ich rüber gegangen, auch wenn ich müde war“, erzählt Pierre Zinke. Er habe alles aufsaugen wollen, worauf er so lange habe warten müssen. Eindrücke, Gespräche, Aufgaben – das alles sei wie ein Rausch gewesen. „Ich bin über mich selbst hinausgewachsen.“
In diese persönliche Wachstumsphase tritt Tobias Polsfuß in sein Leben – durch die Haustür. Er ist damals auf Deutschlandtour, um ein bundesweites Bündnis für inklusives Wohnen zu gründen. Dafür besucht er Wohnprojekte, tauscht sich aus, sammelt überall neue Eindrücke und Erfahrungen. Tobias Polsfuß verbrachte seine Studienzeit selbst in einer inklusiven WG in München und ist von dem Konzept überzeugt: „Was mich am meisten begeistert, sind die Selbstverständlichkeit und Herzlichkeit. Das ist keine Inklusion mit dem Zeigefinger“, meint Polsfuß, „sondern ein echtes Erleben, weil ich mich dort, wo ich wohne, nicht verstellen kann.“
Eigene vier Wände
Die erste Wohngemeinschaft dieser Art wurde bereits 1989 in Bayerns Landeshauptstadt gegründet, erzählt Polsfuß weiter. „Bekannt ist das aber längst nicht.“ Ob ambulant betreute Einzelwohnung oder Hausprojekt mit Garten – inklusives Wohnen erfreut sich zahlreicher Spielarten, die vereinzelt existieren und zu oft unsichtbar bleiben. Ihm schwebt deshalb ein Dachverband vor, der Informationen und Kontakte in ganz Deutschland bündelt und frei zur Verfügung stellt: das Projekt Wohnsinn. Als Freiberufler hält Polsfuß Vorträge zum Thema – und stellt fest: „Besonders groß ist die Nachfrage bei Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen. Von einer inklusiven Gesellschaft profitieren wirklich alle.“
2017 fahren Zinke und Polsfuß, inzwischen miteinander befreundet, gemeinsam nach Berlin. Wohnsinn wurde für den Smart Hero Award nominiert und räumt überraschend ab. Der Preis: das Initial zur Gründung des gleichnamigen Vereins, zu dessen Vorstand künftig auch Pierre Zinke zählen wird. „Es braucht mehr Leute, die sich überhaupt trauen, eine inklusive WG zu gründen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen Menschen an die Seite zu stellen, die dabei begleiten.“
Der Verein hat ein Team zusammengestellt und geschult, das anderen hilft und sie berät. Was Tobias Polsfuß anschob, ist inzwischen Wirklichkeit geworden: Mit Workshops, Vorträgen, Tipps für Privatpersonen, Vereinen und Unternehmen treibt der Verein inklusives Wohnen im Land voran und macht es prominenter. An den vier Standorten Bremen, Dresden, Köln und München ist Wohnsinn die Anlaufstelle für die jeweilige Himmelsrichtung.
Schwerer Abschied
„Wir sind ein eingespieltes Team“, bemerkt Pierre Zinke. In monatlichen Info-Veranstaltungen steht er Rede und Antwort, denn Barrieren, das weiß er, entstehen im Kopf und schrumpfen im Austausch miteinander. „Dezentrales und barrierearmes Wohnen ist der einfachste Hebel für Inklusion“, bekräftigt Tobias Polsfuß. Nicht zuletzt hänge das vom politischen Willen ab – so trat etwa das neue Bundesteilhabegesetz 2020 trotz Kritik ohne Änderungen in Kraft. Zwar zeuge es schon vom Anspruch der Bundesregierung auf Gleichberechtigung, die Umsetzung der Regelungen und damit auch die Verteilung von Geldern sei allerdings Ländersache. „Oft versickern Möglichkeiten in regionalen Beschlüssen“, bemerkt Polsfuß.
Dabei müsse schon beim Bau von Häusern, bei der Ausgestaltung von Förderungen Inklusion konsequent und grundsätzlich mitgedacht werden. Wohnsinn arbeitet deshalb auch mit der Forschung zusammen, um zukunftsträchtige Lösungen auf ein festes Fundament aus Fakten zu stellen. „Wir wollen mit Daten beweisen, dass es funktioniert“, sagt Gründer Polsfuß. In Kooperation mit der Medical School Berlin untersucht Wohnsinn erfolgreiche Wohnprojekte der letzten Jahre und damit die Faktoren, die für gutes inklusives Wohnen entscheidend sind.
Pierre Zinke wohnt mittlerweile nicht mehr in seiner WG, sondern in einer Einzimmerwohnung in Dresden: „Mein Leben hat sich verändert. Ich brauchte Zeit zum Ordnen und musste meine Gedanken sortieren.“ Sein Auszug sei sehr schmerzlich gewesen. „Jemanden wie mich gibt es eben kein zweites Mal“, sagt er scherzhaft. Doch letztlich habe ihn das gemeinsame Wohnen unabhängiger gemacht – und das bringe auch Abschiede mit sich. Für sich selbst sorgen, den eigenen Tag planen und auch Zeit für sich haben – kurzum: die Freiheiten und Pflichten der Eigenständigkeit sind für Pierre Zinke eine enorme Errungenschaft.
„Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens das Bedürfnis, von Zuhause auszuziehen. Für Menschen mit Behinderung ist das aber um ein Vielfaches schwerer. Auch, weil die Eltern oft nicht gut loslassen können.“ Er hat sich das erkämpft: Er hat einen Job, eine eigene Wohnung, engagiert sich und pflegt zahlreiche Leidenschaften. Regelmäßig produziert Pierre Zinke mit unterschiedlichen Gästen seinen eigenen Podcast zum Thema Träume, er spielt und tanzt in Theaterstücken und fällt gern aus allen Wolken – mindestens zweimal im Jahr mit einem Fallschirm. Hoch hinaus, so lautet seine Maxime: „Auf lange Sicht will ich ins Fernsehen. Wenn Vielfalt im Free-TV abgebildet wird, haben Menschen dazu einen ganz anderen Zugang.“
Veto widmet den Mutigen und Engagierten im Land ein eigenes Magazin – 24/7 online und viermal im Jahr als gedrucktes (!) Heft: www.veto-mag.de/gedruckt