Breite Front des Protests — Clemens Wagner

Wenn in Sachsen-Anhalt Neonazis auftreten, ist Halle gegen Rechts nicht weit. Das Bündnis stellt sich den Gruppierungen seit mehr als zehn Jahren entgegen. Unterwegs auf einer Demonstration mit Clemens Wagner.
19. August 2021
5 Minuten Lesezeit
Text: Micha Steinwachs — Fotos: Benjamin Jenak

Clemens Wagner ist nervös. Mit dem Smartphone in der Hand läuft der junge Mann auf dem grünen Rasen am Rosa-Luxemburg-Platz in Halle umher. Der Sprecher von Halle gegen Rechts trägt eine blau-weiße Trainingsjacke und seine kurze Sporthose über einer Leggings: Antifa-Chic. Wenn er nicht gerade am Lautsprecherwagen etwas organisiert oder mit der Einsatzleitung der Polizei spricht, telefoniert er. „Ok, also haben wir auf jedem Platz um die 200 Menschen. Sieht danach aus, als müssten wir die kurze Route nehmen“, spricht er zu jemandem auf der anderen Seite der Leitung.

Clemens Wagner ist Sprecher des Bündnisses Halle gegen Rechts.
Clemens Wagner ist Sprecher des Bündnisses Halle gegen Rechts.

Heute ist Wagner Versammlungsleiter bei der #unteilbar-Demonstration in der Stadt. Das überregionale Bündnis möchte an diesem sonnigen Samstag im Mai ein „Band der Solidarität“ spannen – eine Menschenkette durch die Stadt. 

Gekommen sind aber weniger Menschen als erhofft. Wagner vermutet, dass einige Organisationen auch aus Sorge um die Kürzung ihrer Fördergelder fernblieben: „Widerspruch kann dafür sorgen, dass die Finanzierung wackelt.“ Wegen der Corona-Pandemie finden an gleich vier verschiedenen Orten Kundgebungen statt. Das Band soll sie später verbinden. Damit wirbt das Bündnis wenige Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt für eine solidarische Zivilgesellschaft.

Protest gegen eine mögliche Beteiligung der AfD an der Regierung.
Protest gegen eine mögliche Beteiligung der AfD an der Regierung.

Dem Aufruf von #unteilbar hat sich Halle gegen Rechts angeschlossen, weil sie deutlich machen wollen, dass sie keine Beteiligung von Rechtsextremen in der Regierung dulden werden, erklärt Wagner. Gemeint ist eine Regierungszusammenarbeit mit der AfD-Fraktion. Dazu aber wird es nicht kommen. Mit einem deutlichen Vorsprung wird der amtierende Ministerpräsident der CDU, Reiner Haseloff, die Wahl später für sich und seine Partei entscheiden. Dennoch betont Wagner, dass es Teile der hiesigen CDU gebe, die „ihr politisches Spektrum nach rechts weiten, in der obskuren Hoffnung, Stimmen von der AfD zurückzugewinnen“.

Für den Bündnissprecher ist klar, dass Menschen, die der AfD auch jetzt noch ihre Stimme gäben, ein antidemokratisches Weltbild unterstellt werden müsste. Die Partei habe ihr Potential aber ausgeschöpft, ist er zuversichtlich. „Die Mehrheit der Menschen in Sachsen-Anhalt wählt die AfD nicht und denen möchten wir eine Plattform bieten, um ihrer eigenen demokratischen Position Ausdruck zu verleihen.“ 

Als Jugendlicher politisch geprägt

Das Bündnis fand bereits 2010 zusammen. „Auch vorher schon gab es in Halle eine ziemlich aktive Zivilgesellschaft gegen Neonazis“, so Wagner. Bei Halle gegen Rechts beteiligen sich große Institutionen wie Wohlfahrtsverbände, Religionsgemeinschaften oder Gewerkschaften, aber genauso Parteien, Sportverbände und Einzelpersonen. Sie wehren sich gemeinsam gegen Angriffe von Rechtsaußen, betreiben Vernetzungs- und Bildungsarbeit. „Überall dort, wo kein Widerspruch zu menschenfeindlichen Positionen stattfindet, fühlen sich rechte Akteure in ihrem Handeln bestärkt“, sagt Wagner. Eben deswegen brauche es solche Bündnisse. Rechtsextreme, meint er, wollen bewusst den öffentlichen Raum einnehmen, um einzuschüchtern. „Demokratie muss täglich erkämpft, gelebt und auch verteidigt werden“, ergänzt Wagner.

Schon in seiner Jugend ging Wagner gegen Rechts auf die Straße.
Schon in seiner Jugend ging Wagner gegen Rechts auf die Straße.

Der 30-Jährige ist seit 2011 im Bündnis aktiv. Zum Studieren kam der gebürtige Dresdner damals in die Stadt an der Saale: Politikwissenschaft und Soziologie – bisher ohne Abschluss. Das allerdings störe ihn nicht. Seine akademische Laufbahn ist dem politischen Einsatz klar nachgeordnet. In seiner Heimatstadt protestierte er schon als Jugendlicher gegen Aufmärsche von Neonazis, die jahrelang das Gedenken an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 instrumentalisierten. Seine antifaschistische Prägung habe sich aus solchen Notwendigkeiten ergeben.

Antifa-Chic: blau-weiße Trainingsjacke, kurze Sporthose, Leggings.
Antifa-Chic: blau-weiße Trainingsjacke, kurze Sporthose, Leggings.

Früher war er bei den Jusos, der Jugendorganisation der SPD, organisiert. Vor ein paar Jahren aber trat er aus. Zu oft sei die Partei über ihre Grundsätze oder beschlossene Programme hinweggegangen, um Kompromisse herzustellen. Das habe er nicht mehr mittragen wollen. „Deswegen engagiere ich mich zivilgesellschaftlich und versuche die Gesellschaft von unten zu verändern.“ 

Aufklärung über rechte Strukturen

Mit ihrem Einsatz stoßen aber auch Wagner und seine Mitstreitenden an Grenzen. Bei jeder der mittlerweile zahlreichen rechten Kundgebungen einen Gegenprotest zu organisieren: „Heute nicht mehr möglich.“ Spätestens seit dem „Sommer der Migration“ 2015 kommt es in Halle immer wieder zu Demonstrationen von Rechtsaußen in der Stadt. Das Mobile Beratungsteam Sachsen-Anhalt bilanziert für das vergangene Jahr 384 „rechte und neonazistische Ereignislagen“, wie der Gesamtbilanz des Vereins zu entnehmen ist. Sich offen rechtsextrem zu äußern, bleibe im Ost-Bundesland vielerorts unwidersprochen, heißt es zudem in einem Artikel der Soziologin Katharina Warda, selbst gebürtige Sachsen-Anhalterin und Person of Color.

In Halle zeigen Engagierte klare Kante gegen die Positionen der AfD.
In Halle zeigen Engagierte klare Kante gegen die Positionen der AfD.

Halle gegen Rechts fokussiert sich neben Aktionen und Demonstrationen auf die Bildungsarbeit. Einmal im Jahr organisiert das Bündnis Bildungswochen gegen Rassismus. Sie kuratieren Podien, Workshops und Vorträge. Nachdem die AfD 2016 in den Landtag von Sachsen-Anhalt gewählt wurde und die rechtsextreme Identitäre Bewegung ein Jahr später ein Wohnhaus in Halle bezog, fanden an der Universität Halle-Wittenberg Seminare statt, um das Phänomen der Neuen Rechten besser zu verstehen. Um deutlich zu machen, wer sich da in der Stadt breit macht, führten Wagner und das Bündnis Gespräche mit Stadtverantwortlichen. 

Versammlungsleiter der #unteilbar-Demonstration: Clemens Wagner.
Versammlungsleiter der #unteilbar-Demonstration: Clemens Wagner.

Durch den Druck, den die Zivilgesellschaft ausübte, zog sich die Identitäre Bewegung schließlich nach zwei Jahren wieder zurück. Was davon noch bleibt, ist ein mit Farbe beschmiertes Haus und ein kleines Gefühl des Triumphes: „Es ist schon der Verdienst einer Vielzahl von Menschen, die Aufklärungsarbeit und Protest geleistet haben“ Aktiv seien Mitglieder der rechtsextremen Gruppe aber weiterhin, meint Clemens Wagner, in der AfD oder in deren Umfeld. Der Verband in Sachsen-Anhalt schreckt vor personellen Verflechtungen ins rechtsextreme Lager nicht zurück.

Aufarbeitung des Terroranschlags

Ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit erschütterte Halle besonders. Bei einem terroristischen Anschlag im Herbst 2019 hatte der Angreifer versucht, gewaltsam in die Synagoge einzudringen. „Krass gezittert“ habe Wagner, nachdem er die ersten Nachrichten gelesen hatte. „Kaum waren die ersten Schüsse gefallen, da führte das Bündnis schon die ersten Pressegespräche“, erinnert er sich.

Sofort hätten sie über Möglichkeiten nachgedacht, ein Angebot zu schaffen, um dem Schock und der Solidarität der Menschen Ausdruck zu verleihen. Noch am Abend desselben Tages organisierten sie deshalb ein stilles Gedenken auf dem Marktplatz. In den Folgetagen fanden Kundgebungen und eine Gedenkdemonstration statt. Mit einem eigenen Podcast begleitete das Bündnis später jeden Prozesstag. Darin bemühten sie sich um eine Art der Berichterstattung, die der Inszenierung durch den Attentäter keine Bühne bietet, sondern die Perspektive der Betroffenen einnimmt. Auch seinen Namen nannten sie bewusst nicht. 

Auch die Aufarbeitung des Anschlags in Halle hat Wagner begleitet.

Abgeschlossen sei die Aufarbeitung nach dem Urteilsspruch aber längst nicht. Es müsse auf die gesellschaftlichen Bedingungen geschaut werden, die so ein Attentat überhaupt erst möglich machen. „Das wird von einer Mehrheit der Entscheidungstragenden überhaupt nicht erkannt“, sagt Clemens Wagner. Auch deshalb initiierte das Bündnis die „Koalition gegen Antisemitismus Halle“, bringt dort Menschen zusammen, die sich zu dem Thema schulen lassen, um bei sich selbst oder in ihren Organisationen antisemitische Stereotype zu erkennen und dagegen vorzugehen. 

Ein „Band der Solidarität“ als Zeichen gegen Menschenverachtung. 
Ein „Band der Solidarität“ als Zeichen gegen Menschenverachtung. 

Der Rosa-Luxemburg-Platz hat sich unterdessen gefüllt. Wagner ist zuversichtlich, dass sich die Menschenkette schließen wird. Über ein Mikrofon gibt er das Signal. „Passt bitte auf, dass der Straßenbahnverkehr nicht beeinträchtigt wird“, fügt er hinzu. Wenig später halten sich die vielen Menschen, darunter Kinder und Leute, die ihre Räder schieben, an Schals und bunten Bändern fest, um für den Corona-bedingten zu sorgen. Am Ende der Straße treffen sie auf Teilnehmenden der anderen Kundgebungen und das Band der Solidarität spannt sich schließlich durch die Stadt.

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