Text: Philine Schlick — Fotos: Benjamin Jenak
Rund 7 000 Kilometer liegen zwischen den beiden Heimaten von Mohammad Aman Anosh. Vor rund sieben Jahren hat er sie binnen weniger Wochen zurückgelegt: zu Fuß, mit dem Auto, per Boot. In Afghanistan hatte der 28-Jährige im Auftrag der Regierung gearbeitet und eine Software gegen Korruption entwickelt, war deshalb ins Visier der Taliban geraten. Er entschloss sich zur Flucht, mit all ihren Widrigkeiten. Nach einem insgesamt siebenjährigen Asylverfahren hat der junge Mann, der sich selbst nur Anosh nennt, im vergangenen Jahr die Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland bekommen. Seine Geschichte hat ein Happy End – und sie ist deshalb eine, die anderen Menschen Vorbild ist.
In Deutschland angekommen sei es zunächst mühsam gewesen, das Ankommen sei ihm sehr schwer gemacht worden. „In Afghanistan hatte ich eine eigene Firma“, blickt der studierte Kaufmann für Büromanagement zurück, in Deutschland wurde sein komplettes Leben wieder auf Null gestellt. Seine Dokumente wurden von den deutschen Universitäten nicht anerkannt. Erst der Tipp eines Bekannten brachte die Wende: Mohammad Aman Anosh erfuhr von einem Programm, das zwischen Studierenden aus dem Ausland und deutschen Unis vermittelte – und nach knapp drei Jahren wurde über diesen Weg tatsächlich sein Bachelor-Abschluss anerkannt. Er schickte Bewerbungen nach Koblenz, Berlin, München – und erhielt von überall Zusagen. Seine Wahl fiel auf Rostock und einen Master im Dienstleistungsmanagement.
Immer wieder seien ihm damals die gleichen Fragen gestellt worden, erinnert er sich: „Wie hast du das gemacht? Wie war dein Weg? Das wollten viele wissen.“ Da sei Mohammad Aman Anosh klar geworden, dass der Community der Wissensaustausch fehle. 2019 gründete er deshalb gemeinsam mit anderen internationalen Studierenden die Initiative „Jugend spricht“. Aus einer Info-Veranstaltung zu Ausbildung und Studium wurden schließlich monatliche Zusammenkünfte, bei denen Menschen aus Afghanistan, Palästina, dem Irak, Syrien, Iran, Somalia, dem Jemen zusammenfinden – bis zu 50 Interessierte pro Treffen. Ein spontaner Impuls, der sich heute in der Rostocker Stadtgesellschaft und darüber hinaus verfestigt hat.
Angekommen in Deutschland
Was ihm immer wieder dabei geholfen habe, in Deutschland ein Zuhause zu finden, sei der Kontakt zu Menschen gewesen: Beisammensein, Austausch. „Ich finde es schade, dass so viele Menschen nicht aufgenommen werden. Von Deutschland, von Freundeskreisen, im Beruf. Sie bleiben draußen oder unter sich.“ Daraus entstünden Einsamkeit, Frustration und Gräben, meint Mohammad Aman Anosh. „Ich kann gut mit Menschen umgehen, ich mag es zu kommunizieren und Freundschaften zu bauen“, beschreibt er seine Gabe zu netzwerken – und anderen Zuversicht zu schenken. Mit dem Studienstart begann er im Newcomer-Café zu arbeiten; einem Treffpunkt für Neuankömmlinge. „Wir wollen Tipps geben, wie Zugezogene ihren eigenen Weg gehen können“, erklärt Anosh. Das Credo der Initiative: „Wir haben etwas zu sagen. Wir wollen unsere Geschichte erzählen!“
„Jugend spricht“ ist zu einem festen Ankerpunkt nicht nur in Rostock, sondern inzwischen in ganz Mecklenburg-Vorpommern geworden und leistet Demokratiearbeit. Zum Programm gehören etwa auch „Empowerment-Trainings gegen Rassismus“. „Wir geben Interessierten in Schulungen pädagogische Methoden zur politischen Bildungsarbeit mit“, sagt der Gründer. In Kooperation mit der französischen Stadt Dunkirk ermöglichte die Initiative zehn Geflüchteten eine fünftägige Bildungsreise an diesen geschichtsträchtigen Ort. „Und wir stehen auch mit Studierenden aus Belarus in Kontakt, um das wieder anzubieten.“
Doch so gut die vergangenen Jahre für Mohammad Aman Anosh auch gelaufen sind: Die Situation in Afghanistan lässt ihn nicht los. Noch immer lebt seine Familie dort, Schwester Hafiza Qasimi ist Aktivistin, Künstlerin, Galeristin. Bis vor Kurzem lebte sie in Kabul, doch seit die Taliban im August 2021 die Macht im Land übernommen haben, fürchtet die 23-Jährige um ihr Leben. Inzwischen konnte sie in den Iran fliehen – nachdem ihre Galerie von den Taliban zerstört und ihre Kunstwerke mit Messern zerschnitten wurden.
„Wir haben in dieser Zeit viel telefoniert und über ihre Zerrissenheit gesprochen“, bemerkt Mohammad Aman Anosh. „Sie müssen verstehen: Es gibt viele mutige und starke Frauen, die in Afghanistan ihre Stimme erheben – für Freiheit, für Frauenrechte, freie Entfaltung und eine Zukunft für die Kinder, vor allem die Mädchen. Sie protestieren auf den Straßen und setzen sich dabei der Gefahr aus, getötet, erschossen zu werden. Das ist kaum zu ertragen.“
Afghanistan unter den Taliban
Aus den Gesprächen zwischen den Geschwistern entstand eine Idee: Mit fünf anderen Künstlerinnen begann Hafiza noch einmal zu malen. Um Dinge zu verarbeiten, um Sichtbarkeit zu schaffen und die Lebensrealität in Afghanistan künstlerisch zu dokumentieren. Mohammad Aman Anosh kann nachfühlen, woher seine Schwester die Kraft dafür nimmt. „Jeder Mensch träumt von Freiheit. Diese Frauen setzen sich seit Jahren mit ihrem Leben dafür ein“, erklärt er. Widerstand zu leisten, das sei ein innerer Drang.
Die Bilder zeigen die Wünsche junger Frauen, ihre Visionen einer freiheitlichen Gesellschaft – und im Kontrast dazu die Realität unter den terroristischen Taliban. „Wir haben arrangiert, dass diese Bilder professionell fotografiert wurden. Und nach und nach kam uns der Gedanke, diese Kunst in Deutschland zu zeigen.“ Die Originale verbrannte Hafiza nur eine Woche nach ihrem Entstehen zum Selbstschutz. Fotokopien waren kurz darauf in einer ersten Ausstellung in Rostock zu sehen, die Mohammad Aman Anosh organisiert hat. Unter dem Titel „Kunst inmitten des Krieges“ gastierte die Schau in ganz Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg.
Mohammad Aman Anosh berührt diese Geschichte im Innersten. Und die Botschaft, die vom Projekt ausgeht: „Wir wollen der Welt zeigen, dass die afghanische Gesellschaft Solidarität braucht. Wir setzen ein Zeichen, damit diese Menschen nicht vergessen werden.“ Auch für seine Schwester kämpft er, will sie nach Deutschland holen und in Sicherheit wissen. Doch Hafiza war keine Ortskraft, als Schwester gehört sie auch Sicht der Behörden nicht zu seiner Kernfamilie und darf deshalb nicht über den Familiennachzug nach Deutschland kommen. Für ein Studienvisum bräuchte sie eine Krankenversicherung, eine eigene Wohnung und 10 000 Euro auf einem Bankkonto: Nichts davon ist vorhanden. Mohammad Aman Anosh gibt jedoch nicht auf. „Ich versuche jetzt, über die deutsche Botschaft in Teheran weiterzukommen.“
Die Kontaktaufnahme zu zwei Bundestagsabgeordneten von Grünen und SPD hätten nichts gebracht, zurückgekommen sei nur „eine lange, nutzlose E-Mail“, in der erklärt werde, dass nichts getan werden könne. Mohammad Aman Anosh hat Angst, dass der Krieg in Afghanistan und die Situation der Menschen dort angesichts der vielen anderen Krisen in Vergessenheit geraten könnten. Er will aus diesem Grund weiter darüber sprechen. Um den Geschichten Aufmerksamkeit zu verschaffen, die gehört werden müssen.
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