Errorkuierung — Theresa Breuer

Theresa Breuer ruft über Nacht die „Kabul Luftbrücke“ aus, chartert einen Airbus und fliegt mitten ins Chaos nach Kabul. Über heikle Wege bringt sie bedrohte Ortskräfte außer Landes. Eine Rekonstruktion der Ereignisse im Sommer 2021.
14. November 2022
16 Minuten Lesezeit
Text: Selmar Schülein — Fotos: Benjamin Jenak + Kiana Hayeri

Als Theresa Breuer im Spätsommer 2021 erstmals wieder zurück nach Hause kommt, ist ihre Berliner Wohnung voller Menschen, die sie größtenteils noch nie gesehen hat. Beim Betreten des Schlafzimmers wird sie begeistert von Unbekannten begrüßt, die sich auf ihrem Bett ein ruhiges Plätzchen zum Arbeiten gesucht haben. Nebenan lagern Festplatten mit Filmmaterial, hochwertiges Kamera-Equipment und Tagebücher. Breuer war in diesen Monaten selten länger als 48 Stunden zu Hause. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie bis heute über 2 750 Personen aus Afghanistan herausgeholt. Damit geht ein großer Teil aller Evakuierungen, die seit der Kontrollübernahme durch die Taliban im August des vergangenen Jahres von Deutschland aus erfolgt sind, auf die Initiative einer Privatperson zurück.

Theresa Breuer ist keine Diplomatin, sie hat keine hochrangige politische oder militärische Funktion. Sie ist Journalistin, Filmemacherin – und hat sich damit arrangiert, in dieser Ausnahmephase ihres Lebens nachts nicht länger als zwei bis vier Stunden zu schlafen.

Als am 15. August 2021 die Taliban Kabul überrollen, als wäre die Hauptstadt ein Dorf in einer entlegenen Provinz, beginnt für Theresa Breuer der erste richtige Urlaub nach drei Jahren Berichterstattung in Krisenregionen der arabischen Welt. Währenddessen endet nach 20 Jahren Krieg und Zerstörung, Aufbau und Neubeginn der Einsatz der westlichen Truppen in Afghanistan in einem Desaster. Und von einem auf den anderen Tag werden zehntausende Personen zu politisch Gefährdeten. All die Menschen, die als Ortskräfte für die Bundeswehr gearbeitet haben, die für Frauenrechte und Bildung eingetreten sind, all die Menschen, die etwas bewegen wollten und Großes geschaffen haben in diesem Land.

Unter der Herrschaft der Taliban geht es für sie ums Überleben. Wo vorher Musikshows ausgestrahlt wurden, laufen nun Kochsendungen. Mädchen, die gerade noch in die Schule gingen, halten sich versteckt. Unzählige junge Frauen vernichten aus Angst ihre Zeugnisse.

Privatwohnung wird Headquarter

Statt in den Urlaub zu fahren, startet Breuer eine Rettungsaktion, die sich in den kommenden Wochen zu einer zivilgesellschaftlichen Initiative von ungeahntem Ausmaß ausdehnen wird. Schon als noch nicht abzusehen ist, dass die Taliban auf Kabul vorrücken werden, tagt Breuer mit Ruben Neugebauer, Gründer von Sea Watch, und anderen Engagierten über die Frage, ob ihren befreundeten Menschen in Afghanistan überhaupt noch genug Zeit bleibt, das Land zu verlassen. Sie kommen gemeinsam zu dem Schluss, den verstörende Bilder von verzweifelten Menschenmassen rund um den Flughafen in Kabul nur wenige Tage später bestätigen sollten: Diese Personen müssen sofort gerettet werden.

Weil in der Runde auch ein Pilot und ein Seenotretter sitzen, entsteht zum ersten Mal die größenwahnsinnig anmutende Idee: ein Flugzeug chartern, die Personen ohne langes Zögern selbst ausfliegen. Die Gruppe um Theresa Breuer macht tatsächlich einen Anbieter ausfindig, mit dem sie einen Flieger mit zwölf Sitzplätzen und wenigen Stunden Anflugzeit nach Kabul schicken können. Die private Luftbrücke startet und Theresa Breuer gibt ihren befreundeten Menschen, die sich in Kabul versteckt halten, das Signal, sich zum Flughafen aufzumachen. Doch schneller als erwartet – keine 24 Stunden später – kollabiert Kabul. Als die gefährdeten Menschen es tatsächlich zum vereinbarten Punkt schaffen, wird aus der Rettung eine Nacht auf der Straße. Das US-Militär lässt keine zivilen Maschinen mehr landen.

Wenig später richten erst drei, bald zehn Personen das Headquarter der „Kabul Luftbrücke“ in Breuers geräumiger Fünf-Zimmer-Wohnung ein. Von hier aus wird das Team in den nächsten Wochen Tag und Nacht Evakuierungsmissionen koordinieren. Breuer erinnert sich, wie sich plötzlich eine Gruppe zusammenfand, die diese Idee und alles, was danach noch folgen sollte, wohl wirklich stemmen könnte: „Unerwartet kamen Leute bei mir an, zunächst vor allem aus dem Seawatch-Umfeld. Alles extrem fähige Menschen, bei denen du gemerkt hast, die sind krisenerprobt. Die haben sich frei genommen, um die Luftbrücke auf die Beine zu stellen.“

Zu diesem Zeitpunkt verwandelt sich der Flughafen in Kabul bereits in einen schizophrenen Ort: im Innern Hochsicherheitstrakt, vor den Toren dagegen Massenpanik, niedergetrampelte Frauen und Kinder und die wachsende Gefahr, dass ein Terroranschlag genau diese Menge ins Visier nehmen könnte. Ein tödliches Nadelöhr entsteht.

Selbstinitiierter Evakuierungsflug

Nachdem der erste Rettungsflug scheitert, ist die Frustration groß, zugleich aber der Ehrgeiz geweckt. An diesem Punkt beginnt für Breuer und die Initiative die eigentliche Arbeit. Schnell füllt sich eine Liste mit besonders bedrohten Personen, die weit über den kleinen Kreis der persönlichen afghanischen Bekannten hinausgeht. Und die Gruppe hält weiter an der Idee des Charterflugs fest und macht sich nun daran, ein großes Passagierflugzeug zu besorgen und es mit einer Militärkennung auszustatten, damit diesmal auch die Landeerlaubnis erteilt wird.

Aktivist Ruben Neugebauer macht eine ägyptische Airline ausfindig, bei der ein Airbus A320 gechartert werden könnte. Es ist der Zeitpunkt, an dem die „Kabul Luftbrücke“ öffentlich wird – vor allem über das Netzwerk des Grünen-Europaabgeordneten Erik Marquardt. In wenigen Stunden gehen über eine Million Euro an Spenden beim Verein „Civilfleet“ ein, den Marquardt und Neugebauer vor einigen Jahren bereits gegründet haben. Genug Geld, um die Maschine einen Evakuierungsflug nach dem anderen machen zu lassen.

Was in den nächsten Stunden passiert, ist ein virtuoses Spiel mit Kontakten und Netzwerken, an dessen Ende sich Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD) persönlich für die Mission einsetzt. Schließlich erhält das Flugzeug das notwendige Nato Call Sign: Ein privat gecharterter Flieger wird neben Militärmaschinen landen dürfen. Auch Theresa Breuer wird in diesem Flieger sitzen. Sie muss vor Ort sein, will ins Zentrum des Chaos nach Kabul. Zu verworren sind die Zustände vor Ort, als dass sich alles aus der Ferne koordinieren ließe.

Breuer hat selbst zwei Jahre in Afghanistan gelebt, kennt die Stadt gut. Auf dem Klavier in ihrem Wohnzimmer steht mittlerweile ein Stadtplan der Metropole, übersät mit Stecknadeln, die die Checkpoints der Taliban markieren. Sie machen den Weg zum Flughafen längst zu einem Labyrinth mit verstopften Wegen. Eine Route von wenigen Kilometern bedeutet für die 450 Menschen auf der Evakuierungsliste eine Horrorfahrt von mehreren Tagen Dauer.

Asal, die ihren richtigen Namen aus Angst um ihre Verwandten in Afghanistan lieber nicht in diesem Text lesen möchte, berichtet von den aufwühlenden Stunden des Wartens rund um den Flughafen. Die Initiative hatte sie und 200 andere Gefährdete in insgesamt 30 Zimmern und zwölf Suiten eines Hotels geheim untergebracht. Nach drei Tagen Versteckspiel Aufbruch Richtung Flughafen. Asal verbrachte über 48 Stunden im Bus auf dem Weg zum Gate: „Für die Taliban wäre es ein Leichtes gewesen, mich zu identifizieren. Als politische Aktivistin und Frauenrechtlerin war ich in einer herausgehobenen Position. So sitzt du also hier, wo nichts vor noch zurück geht, mit dem Gefühl fest, dass du jeden Moment aufgegriffen und umgelegt werden könntest. Dann erhielt ich von einem befreundeten Journalisten die Nachricht, dass die bereits länger befürchteten Bombenanschläge auf das Flughafengelände nun wohl ganz konkret in Vorbereitung seien.“ Wenig später explodiert der erste Sprengsatz im Gedränge. Schüsse, dann die zweite Explosion. Mehrere Selbstmordattentate reißen 92 Menschen in den Tod und verletzen 150. Genau an dem Ort, an dem sie sich in Sicherheit bringen wollten.

Chaotische Szenen am Flughafen

Im Headquarter der „Kabul Luftbrücke“ zeigt ein Bildschirm währenddessen zwei Uhrzeiten an – die in der afghanischen Hauptstadt und die in Berlin. Das Team hat eine Woche lang fast keinen Schlaf bekommen, bis ein eigener Flieger zur Verfügung stand. Doch im Vergleich zu den Herausforderungen, die der Transport der Menschen zum Flughafen bedeutet, war es ein Kinderspiel, einen großen Airbus zu finden, der ein Ziel unter akuter Terrorgefahr anfliegt. Denn wer auf der Evakuierungsliste der Bundesregierung steht, hat erstmal noch nichts in der Hand unter den Bedingungen, die in diesen Stunden rund um den Flughafen herrschen.

In den sozialen Netzwerken haben sich in den Tagen zuvor Videos von Verzweifelten verbreitet, die sich an startende Flugzeuge klammern, Menschen, die aus der Luft zu Boden stürzen. Breuer erinnert sich daran, wie ein Soldat sie in Kabul anspricht, als sie aus dem Airbus steigt: „Geh da nicht raus, da sieht es aus wie in ‚The Walking Dead‘.“ Genau darum sei sie gekommen, erwidert Breuer: um eine sichere Eskorte für ihre Passagiere zu organisieren. Wie so oft seit Beginn der Aktion kommt sie sich vor wie in einem klischeehaften Actionfilm. Doch die 35-Jährige muss feststellen, dass niemand von ihrer Evakuierungsliste vor Ort ist. „Ich war am Flughafengelände so nah an den vielen Menschen, die draußen warteten. Trotzdem kamen diese zwei Welten nicht zusammen.“

Am Morgen nach einer Nacht ohne Unterstützung seitens der Bundeswehr hebt der Airbus A320 ab. Knapp 200 Plätze, auf denen 18 Geflüchtete sitzen. Es sind Personen, die auf der Liste der portugiesischen Behörden stehen. Immerhin diese konnten irgendwie noch zum gecharterten Flieger vermittelt werden. Leer wollten Breuer und ihr Team die Maschine unter keinen Umständen abheben lassen. Von ihrer eigenen Liste hatte es niemand rechtzeitig zum Flughafen geschafft. Später sollte von einem Multiorganversagen der deutschen Behörden die Rede sein. Im Team mischen sich Wut und Enttäuschung, weil hundertfach mit Ministerien und der Bundeswehr telefoniert wurde. Weil alles da gewesen wäre, um Menschen zu retten. Rückblickend lässt sich kaum verstehen noch rekonstruieren, warum die Mission vor Ort nicht mehr Unterstützung seitens der Behörden erfahren hat.

Humanitäre Notlage spitzt sich zu

Theresa Breuer geht selbst nicht an Bord der Maschine. Gemeinsam mit ihrem Freund Rob Gray, einem ehemaligen britischen Elitesoldaten, besteht sie darauf, am Flughafen bleiben zu dürfen. Sie und Gray wollen jetzt vor Ort alles in Bewegung setzen, um die Menschen auf ihrer Liste doch noch zu evakuieren. Die britischen Kräfte vor Ort zeigen sich kooperativ. Während die Deutschen mittlerweile ihre Flüge eingestellt, militärische und diplomatische Kräfte vor Ort abgezogen haben, dürfen sich Theresa Breuer und Rob Gray weiterhin auf einem Teil des Flugfeldes aufhalten. Es gelingt dem Team der „Kabul Luftbrücke“ in den nächsten drei Tagen, die gelisteten Menschen nach mehreren Anläufen zum Flughafen zu bringen. 189 sind es, die schließlich vom US-Militär ausgeflogen werden.

Keine dieser Evakuierungen ist eine Geschichte von schlichter Erleichterung oder Erfolg. Es wäre ein sprachlicher Fehltritt, diese Schicksale nach Neuanfang oder gar Happy End klingen zu lassen. Breuer benennt in diesem Zusammenhang einen maßgeblichen Unterschied zu anderen Fluchtbiografien: „Normalerweise werden Krisen in einem längeren Prozess zu Kriegen. Ich bin in meiner Zeit im Nahen Osten vielen Menschen begegnet, die sich lange über Flucht Gedanken gemacht haben, wo sich Familien augetauscht haben und Verwandte Geld gesammelt haben für die Flucht. In Kabul war keine Zeit dafür. Diese Flucht musste innerhalb von Stunden entschieden werden. Und dann hatten sie das Glück, dass es jemand binnen kürzester Zeit geschafft hat, sie da rauszuholen. Schockflucht in einer Stadt in Panik.“

Auch Asal schafft es schlussendlich an Bord der US-Truppen: „Von einem auf den anderen Tag gab es keinerlei Freiheiten mehr für Frauen und auch keine Rechte. Auch wenn wir schon vorher kein sicheres Leben hatten, weil jeder Morgen mit einer Explosion oder irgendwelcher Gewalt begann, hatten wir zumindest ein wenig Raum zum Atmen, konnten unsere Stimme erheben. Jetzt haben die Taliban mein Büro beschlagnahmt und ich bin nur mit der Kleidung an meinem Körper und meinem Laptop nach Europa gekommen. Ich habe nichts mehr. Nichts. Hier bin ich eine Verliererin.“ Dabei war die Frau mit den kurzen Haaren als Künstlerin erfolgreich, auf Twitter eine gewichtige Stimme und arbeitete im Präsidentenpalast.

In den Biografien der Evakuierten findet sich vielfach dieses entsetzliche Zusammenspiel – junge Menschen, die Europa für ihren Mut feiert, sich auf Instagram progressiv zu äußern und gesellschaftskritische Projekte vor Ort zu initiieren. Nun aber wird es niemand mitbekommen, wenn sie zwangsverheiratet werden und ihre Studiengänge abbrechen müssen.

Die katastrophale Lage in Afghanistan verschlimmert sich in den kommenden Wochen durch Hungersnöte und den Zusammenbruch der Gesundheits- und Stromversorgung in Teilen des Landes. Die Vereinten Nationen gehen zu diesem Zeitpunkt von rund 18 Millionen Menschen in Afghanistan aus, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Das ist ungefähr die Hälfte der Gesamtbevölkerung und ein Anstieg von 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zudem steigen die Preise für Lebensmittel rasant, während die gefährdeten Menschen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen können. Laut Weltgesundheitsorganisation sind allein eine Million Kinder von Hunger bedroht. Hunderttausende sind innerhalb des eigenen Landes vertrieben worden.

Gefährliche Missionen über Land

Pausenlos meldeten sich in diesen Tagen neue Menschen bei Theresa Breuer und dem Team der „Kabul Luftbrücke“ und flehten um Hilfe. Auch heute noch sind es Hunderte. Etliche von ihnen haben sogar die Evakuierungszusage des Auswärtigen Amts erhalten. Mehr als 40 000 Menschen wurde in den folgenden zwei Wochen dieser Status zugesprochen. Die offizielle Evakuierung aus Afghanistan durch die Bundesregierung jedoch wurde praktisch abgesagt. Und zurück blieben zehntausende Ortskräfte, genauso Kunst- und Medienschaffende oder Menschenrechtsengagierte ohne eine Perspektive auf Rettung.

15 Monate sind seither vergangen, in denen die „Kabul Luftbrücke“ ihre Mission derart professionalisiert und ausgeweitet hat, dass sie fast 2 000 Menschen auf dem Landweg in Sicherheit bringen konnte und weiterhin bringt. Wobei „Landweg“ ein durchweg irreführendes Wort ist für die Odyssee, die organisatorische Mammutaufgabe und die Strapazen, die allein ein Bus mit Evakuierten bedeutet, der die Grenze eines afghanischen Nachbarlands erreichen soll. Die Konvois müssen auf ihrem Weg durch das Hinterland und durch die zahllosen Checkpoints der Taliban durchgehend mit einer Person der „Kabul Luftbrücke“ in Kontakt stehen, die den Weg und die Gespräche überwacht und betreut. In Breuers Wohnung werden Telefonate mit Botschaftspersonal geführt, Anträge vorbereitet, neue Evakuierungswege entwickelt, da sich die Initiative täglich neuen Bedingungen vor Ort anpassen muss.

Breuer selbst war in den ersten Monaten viel in Tadschikistan und Pakistan im Einsatz, um mögliche Evakuierungswege aufzutun. „Meinen Brotberuf kann ich gerade kaum ausüben. Für mich ist es in den letzten Jahren wichtiger geworden, in Krisengebieten nicht nur die neutrale Beobachterin zu sein, sondern Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich über eine Person berichte, die an Krebs erkrankt, vor Ort aber nicht behandelt werden kann, dann besorge ich Medikamente.“ Was für Breuer gilt, sieht im Headquarter in Berlin nicht anders aus: „Wenn kurz vor dem Wochenende bekannt wird, dass die pakistanische Grenze für ein kurzes Zeitfenster doch nochmal aufmacht, dann arbeitet unser Team Tag und Nacht. Das Einzige, was dann zählt, ist so viele Menschen wie möglich rauszubringen.“

Ehrenamtliche Lebensrettungen

Vieles von dem, was auf den Evakuierungswegen abläuft, um im vierstelligen Bereich Menschen außer Landes bringen zu können, muss geheim bleiben. Immer wieder erwähnt Theresa Breuer in Gesprächen atemberaubende Details, die aber unter keinen Umständen in diesem Artikel landen dürfen, weil es die Missionen unmöglich machen würde, sollten diese Informationen in die Hände der falschen Leute fallen. Ein Grund jedoch, warum die „Kabul Luftbrücke“ täglich bewerkstelligen kann, was eigentlich Aufgabe der Bundesregierung wäre, ist der international weit verzweigte Zusammenschluss teils hochspezialisierter Menschen, die sich alle seit Wochen dieser einen Aufgabe verschrieben haben.

So arbeiten längst auch Evakuierte selbst im Team der Initiative. Sie organisieren Visa für Nachbarstaaten, Pässe für Gefährdete, transportieren Passagiere, mieten Safe-Häuser an, organisieren Konvois, bringen Informationen über die Checkpoints der Taliban in Erfahrung.

Sami ist einer von ihnen. Eigentlich wollte das Team ihn evakuieren. Der Rechtsanwalt und Aktivist aus Kabul hat es wie so viele nicht in ein Flugzeug geschafft, obwohl sein Name auf der offiziellen Liste stand. Er ist der Luftbrücke dann aber zuvorgekommen. Sami wagte sich in die pakistanische Botschaft in Kabul. Dort wurde er von Taliban bedroht, geschlagen und mit vorgehaltener Waffe als Spion bezeichnet. Doch der Anwalt blieb ruhig und konnte die Taliban mit seinem diplomatischen Geschick davon überzeugen, dass er sich ein Visum für Pakistan ausstellen lassen darf. So hat sich Sami tatsächlich auf eigene Faust nach Islamabad durchgekämpft, hat dabei unter anderem als einer der Ersten testen wollen, wie sich die Taliban am Flughafen verhalten, und stand dann plötzlich vor Theresa Breuers Hotelzimmertür in Pakistan. Sein erster Satz: „Wie kann ich euch unterstützen?“

Wenig später landet Sami in Berlin und arbeitet seitdem als ortskundige Kraft im Headquarter. „Warum wir das besser können als die Bundesregierung?“, kommentiert Breuer die Situation süffisant. „Weil wir uns die Expertise direkt aus Afghanistan evakuieren. So haben wir immer wieder Möglichkeiten und Wege gefunden, weiter Menschen außer Landes zu bringen.“

Eine heikle Evakuierungsmission

Obwohl es absurd ist, dass es eine zivilgesellschaftliche Initiative braucht, um Menschen zu retten, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, gibt es bislang keine Hoffnung, dass über ein Ende des Engagements nachgedacht werden kann. Vereinzelt haben Teammitglieder ihre Jobs gekündigt, um die Aufgabe auch dauerhaft stemmen zu können. Denn trotz anfänglich anderer Verlautbarungen der Taliban häufen sich in den Monaten seit dem Rückzug der Nato-Länder Berichte über gezielte Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und sogar Folter von journalistisch arbeitenden Menschen, Richterinnen oder Ministerialen des alten Regimes.

Entsprechend heikel sind die Transporte, die die Luftbrücke organisieren muss, wenn es um Hochrisikopersonen geht, die es auf dem Weg durch die Checkpoints der Taliban ungleich schwerer haben, nicht aufgehalten zu werden. Es mangelt nicht an prominenten Fällen, vom Richter bis zu einer Schachspielerin, die mit einem Taliban-Kommandeur verlobt wurde.

Breuer erzählt, wie der lokale Taliban-Führer der jungen Frau häufiger Besuche abgestattet hatte. Zwei Jahre lief das Werben des Kommandeurs. Zeitgleich spielte die junge Frau nicht nur Schach, sondern ging auch einer Berufsausbildung nach – beides gilt in islamistischen Kreisen als anstößig. Irgendwann allerdings musste sie dem enormen Druck ihrer Familie nachgeben. Breuer erklärt: Sobald die Heirat vollzogen gewesen wäre, hätte es keine Chance mehr gegeben, sie außer Landes zu bringen. Also stellten Breuer und ihr afghanisches Team ein regelrechtes „Theaterensemble“ zusammen, wie sie es beschreibt, damit diese Frau im Bus Richtung Grenze beim Passieren der Checkpoints der Taliban unentdeckt bleiben konnte. Es musste so wirken, als wäre sie Teil einer Familie und keine allein reisende Frau.

Auszeiten werden zur Ausnahme

Breuer ist im Umgang mit derlei Ausnahmesituationen geschult. Als Auslandsreporterin und Filmemacherin traf sie sich bereits mit Opiumbauern im Sinai, ist per Anhalter durch den Iran gefahren und war mit palästinensischen Schmugglern im Westjordanland unterwegs. Zwei Jahre lang begleitete sie die ersten Bergsteigerinnen Afghanistans bei ihrer Expedition auf den höchsten Berg des Landes, der zuvor von keiner afghanischen Frau bestiegen wurde.

Über ihren Weg zum Journalismus mit derart viel idealistischer Grundhaltung bemerkt sie: „Mein politisches Erweckungserlebnis war der 11. September und die Erfahrung, dass die Zivilisiertheit, die der Westen für sich in Anspruch nimmt, eine sehr dünne Schicht ist. Das sind vermeintlich aufgeklärte und zivilisierte Gesellschaften, die zu brutalen Kriegen in der Lage sind.“ Wobei sie sich selbst nicht als Idealistin begreifen würde. In Gesprächen betont sie immer wieder eine fast manische Neugier, ihre Abenteuerlust und die Faszination für Krisengebiete. So könne Breuer erfahren, wie sich Menschen in Ausnahmezuständen verhalten würden, wozu sie fähig seien, im Guten wie im Schlechten.

Auf ihren beruflichen Reisen durch Krisengebiete lernt sie auch einen anderen, schärferen Blick auf die Verhaltensmuster der eigenen Gesellschaft. „Du kannst nicht mehr Argumente und Ausreden finden, wenn Menschen in deiner Nachbarschaft das Gewehr auf die Brust gesetzt wird. In weniger extremem Ausmaß lassen sich diese Verhaltensweisen auch in unserer Gesellschaft beobachten. Egal, ob es Gier, Gewalt, Selbstsucht oder Rassismus ist“, sagt Theresa Breuer. „In Krisengebieten erkenne ich, wie viel Konflikt die Konstruktion und Instrumentalisierung von Identitäten in sich birgt. Für mich ist da nicht mehr so ein großer Unterschied, ob ich dabei zusehe, wie ein Nachbar enteignet wird, oder ob ich mir einen SUV kaufe. Es geht mir in beiden Fällen am Arsch vorbei, was anderen passiert. Ich muss mir heutzutage der Konsequenzen meines Verhaltens bewusst sein.“

Darum lebt Breuer nun seit Monaten von den Erparnissen der letzten Jahre, in denen sie berichtet, geschrieben, gefilmt hat. Für sie stellt sich die Frage nach der näheren Zukunft ihres Berufslebens nicht. Die „Kabul Luftbrücke“ müsse erstmal noch weiterlaufen. Sie weiß, dass irgendwann der Moment kommen wird, an dem sie das nicht mehr leisten können wird, zumindest nicht fast 24 Stunden sieben Tage die Woche. „Aber es ist ein schönes Gefühl, diese Piratenorganisation bei sich zu Hause zu haben. Zumindest so lange, wie ich nicht zu Hause war. Ich habe gerne Stille um mich herum.“ In den intensiven Wochen im Herbst 2021 habe es aber schon Momente gegeben, in denen sie sich dachte: „Ich würde gerne mal Pizza bestellen und mich ins Bett legen. Am liebsten, nachdem ich in der Nacht davor bis zum Morgengrauen Champagner getrunken habe und verkatert nichts tue, außer Filme von Werner Herzog zu glotzen.“ Mit 20 Menschen in ihrer Wohnung ist daran aber nicht zu denken.

Rettungstrauer und Freiheitsenge

Am Samstag, dem 13. November, setzt das Team in die Tat um, was schon zweimal hätte funktionieren können, wären die Umstände bis dahin nicht derart widrig gewesen: Auf dem Rollfeld in Kabul steht ein Passagierflugzeug der afghanischen Kam Air bereit. 170 000 Dollar sind dafür geflossen – spendenfinanziert. Und wieder ist Breuer selbst nach Kabul geflogen. Es braucht jemanden, der mit den Männern mit den umgehängten Maschinengewehren diskutieren, sich mit aller Kraft gegen das System aus Abweisungen stellen kann.

Nach stundenlangem Hin und Her zwischen Theresa Breuer und einem Taliban-Kämpfer, der etwas an der Passagierliste auszusetzen hat, finden sich auf den Sitzplätzen des Fliegers tatsächlich Ortskräfte der Bundeswehr ein, dazu besonders gefährdete Personen, die sich für Menschenrechte eingesetzt haben, eine deutsche Familie und sogar zwei der afghanischen Fluglotsen, die im Schichtdienst mit der Bundeswehr gearbeitet haben. Sie haben Militärflüge koordiniert, die Angriffe gegen die Taliban geflogen haben und waren aktiv daran beteiligt, die Mächte zu bekämpfen, die jetzt das Land kontrollieren. Zehn von ihnen waren zurückgelassen worden und mussten dabei zusehen, wie die letzte deutsche Maschine ohne sie abhob.

Kurz bevor die 148 Personen das Flugzeug betreten und klar ist, dass die Evakuierung diesmal gelingen wird, nimmt Theresa Breuer eine Sprachnachricht auf, in der sie die Atmosphäre vor Ort festhält: „Es ist seltsam, wieder hier zu sein. Kabul war zuvor wie auf Steroiden. Megalaut, megadreckig, die ganze Zeit Angst vor Anschlägen. Und jetzt ist alles ruhig. Es hat aber auch etwas Bedrohliches, das knapp unter einer hauchdünnen Oberfläche brodelt.“

Wenige Stunden später sendet Breuer Videomaterial vom abhebenden, ersten voll besetzten Evakuierungsflug der „Kabul Luftbrücke“. Es lässt die existenzielle Zerrissenheit erahnen, die Menschen fühlen müssen, die gerade ihre Heimat unter sich kleiner werden sehen. Eine Mutter versucht, ihre Tränen zu verstecken. Dem Kind neben ihr ist die Euphorie anzusehen, die es bei diesem Flugzeugstart erlebt. Vielen an Bord ist klar: Die Freiheit, die sie in diesem Moment gewinnen, wird zugleich eine existenzielle Not sein.

„Es gab Leute im Flieger“, beschreibt Theresa Breuer später aus der Erinnerung, „die haben gejubelt, und es gab Leute im Flieger, die haben geweint. Das hat noch einmal verdeutlicht, dass viele der Passagiere Afghanistan eigentlich gar nicht verlassen wollen, weil es ja genau die Menschen waren, die für ein anderes Afghanistan gekämpft haben. Egal ob als Direktorin einer Mädchenschule oder als Gründer der ersten Model-Agentur des Landes. Die Menschen, die mit diesem Flieger evakuiert werden mussten, sind genau die Menschen, die etwas erschaffen haben und im Moment ihrer Rettung scheitern.“

Wenn Theresa Breuer nach all diesen Monaten, in denen sie sich eher zufällig in die damals vielleicht wirkungsvollste deutsche Aktivistin verwandelt hat, nach ihrem Verhältnis zu all dem gefragt wird, klingt sie selbstbewusst und bescheiden zugleich: „Für mich heißt Aktivismus: Du musst im wahrsten Sinne des Wortes aktiv sein. Wenn ich will, dass etwas anders wird, dann muss ich auch meinen Teil dazu beitragen. Ich gehe mir immer selber auf die Nerven, wenn ich plötzlich so hochtrabend klinge.“ Sie habe trotzdem vollstes Verständnis dafür, dass nicht alle so leben, als würden sie die Welt retten. „Ganz ehrlich: Ich fliege im Jahr fünf Mal um die Welt und kann das auch mit keinem Argument rechtfertigen. Aber dann gibt es Dinge, für die kann ich mich einsetzen.“

Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin. Mit Veto geben wir dem Aktivismus im Land eine mediale Bühne. Warum? Weil es Zeit ist, all jene zu zeigen, die sich einmischen.

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Mediale Aufmerksamkeit aber bekommen ihre mutigen Ideen nur selten. Das muss sich ändern – und Aktivismus endlich raus aus der Nische! Die Aktiven brauchen vor eine starke Stimme und Wertschätzung für ihre Arbeit. Mit Veto machen wir Engagement sichtbar und zeigen denen, die finden, dass es nun höchste Zeit ist, sich einzumischen, wie es gehen kann. Unsere Botschaft an alle Gleichgesinnten da draußen: Ihr seid nicht allein!

Mit Print gescheitert?

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